Moskauer Turmbauten zeigen die Poesie der Mathematik

Am Beispiel eines vom Abriss bedrohten Turms sucht das Schtschusew-Museum nach der Architektur-Formel von Wladimir Schuchow, auch mithilfe von Schweizern.

Inna Hartwich, Moskau
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Zeitlose Schönheit: Der Schabolowka-Turm in Moskau von 1922 steht trotz Abrissplänen immer noch.

Zeitlose Schönheit: Der Schabolowka-Turm in Moskau von 1922 steht trotz Abrissplänen immer noch.

R. Graefe

Stacheldraht umspannt den hohen Zaun, an der Tür hängt eine Hinweistafel: «Bewacht von der Nationalgarde». Der Turm, so leicht, so lässig, wie er hier, am südlichen Zentrumsrand Moskaus, in den grauen Dezemberhimmel strebt, ist seit Jahren eine unzugängliche Sache. Und seit bald einem Jahrhundert dennoch eine weit in der Stadt sichtbare Konstante. Eine zeitlose Schönheit aus Metall und Luft. Korrosion nagt an ihm, frisst sich in die 150 Meter hohen Stahlstäbe. Er hat den Zweiten Weltkrieg überstanden und 2014 den Versuch des russischen Ministeriums für Kommunikation, ihn abzutragen.

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Anwohner, Architekten, Ingenieure aus der ganzen Welt schrieben Briefe an die Minister und an den Kreml. Eine Demontage des legendären Schabolowka-Radioturms, des genialen Werks der Ingenieurskunst? Die futuristische Konstruktion blieb. Konserviert. Selbst Experten dürfen seit 2012 nicht mehr auf das Gelände. Eine Drohne darf das aber. Sie näherte sich im Januar dieses Jahres dem Turm, von oben, von der Seite, filmte die Verstrebungen am ersten Hyperboloid-Gitterturm der Welt. Dies alles ist dokumentiert in der Ausstellung «Schuchow. Die Formel der Architektur», die das Moskauer Schtschusew-Museum noch bis Januar zeigt: die Besonderheit von Schuchows Tragwerken, die bis heute meist dort stehen, wo sie im einstigen Russischen Imperium und in der jungen Sowjetunion gebaut worden waren.

Aufstieg zur Industrienation

Wladimir Grigorjewitsch Schuchow, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Russischen Zarenreich Geborene, hatte die Wirren der Zeit überstanden und wurde eine Art Aushängeschild im Aufstieg des sowjetischen Staates zur Industrienation des 20. Jahrhunderts. Er war Ingenieur und Architekt zugleich, er fotografierte, baute die erste russische Ölpipeline, konstruierte Schiffe, Brücken, Lokschuppen, entwickelte Pumpen und Raffinerien, entwarf Ausstellungshallen und setzte vor allem auf Türme. Wassertürme, Leuchttürme, zarte Gitterstrukturen, die einem hohen Druck standhielten. Stets unterstützt vom Industriellen Alexander Bari, der an der ETH Zürich studierte und nach seiner Rückkehr aus den USA zum Ölbaron des Russischen Reiches aufstieg. In Baris Kontor war Schuchow der Chefingenieur, in der Ideenfabrik an der Moskauer Mjasnizkaja-Strasse arbeitete er an seinen schwerelos wirkenden Konstruktionen. Auf der Allrussischen Industrie- und Handwerksausstellung in Nischni Nowgorod 1896 präsentierte der Ingenieur schliesslich ein neuartiges Hängedach und einen Wasserturm. Ein Jahr später liess Gustave Eiffel seinen berühmten Turm von Paris bauen. Schuchows erster Turm mit der doppelten Krümmung steht bis heute – in Teilen rekonstruiert im Dorf Polibino in der Region Lipezk, knapp 300 Kilometer von Moskau entfernt, und längst nicht so bekannt wie der Eiffel-Turm. Ein avantgardistisches Werk in Architektur und Kunst.

Es war jedoch der miserable Zustand des 1922 errichteten Schabolowka-Turms, der die Kuratoren der Schuchow-Ausstellung bereits vor fünf Jahren dazu bewog, sich dem Werk des russisch-sowjetischen Ingenieurs zu widmen und die Frage zu beantworten, was den Mann, der sich bereits als Jüngling in Sankt Petersburg für Mathematik begeisterte, auch heute noch modern erscheinen lässt. Das ist ihnen gelungen. Die Suche nach der Architektur-Formel Schuchows ist eine Suche nach Methoden, die das heutige Bauen noch mehr beherrschen, als sie es zu Schuchows Zeiten taten.

Der Schabolowka-Turm mit seiner 150 Meter hohen Netzkonstruktion diente auch der Radioübertragung.

Der Schabolowka-Turm mit seiner 150 Meter hohen Netzkonstruktion diente auch der Radioübertragung.


Archiv Ščusev / Architekturmuseum

Wie lässt sich materialsparend und somit umweltschonend konstruieren, wie ein internes Mikroklima der Gebäude erschaffen? Schuchow war ein gekonnter Spieler mit Freiräumen, einer, der auch wusste, wie er Netzkonstruktionen als quasi hierarchielose Systeme einsetzte. Die Grundprinzipien Schuchows funktionieren bis heute, auch weil es 80 Jahre nach dem Tod des Ingenieurs passende Technologien für diese Prinzipien gibt. Deshalb üben die Leichtbauten Schuchows auf heutige Architekten wie Ingenieure in der Welt eine Faszination aus. Der vor neun Jahren fertiggestellte, 600 Meter hohe Fernsehturm von Guangzhou in China ist eine Hyperboloid-Konstruktion. Mit dem 13 Meter hohen Holzturm auf dem Dach der Technischen Berufsschule hat auch Zürich seinen «Schuchow-Turm».

Linie als Grundelement

Erst in den 1950er Jahren wurde Schuchow auch in Europa bekannt, die letzte grosse Ausstellung in Moskau gab es in den 1980er Jahren, noch zu Sowjetzeiten. «Unser Ziel war es vor allem, Aufmerksamkeit für den Schabolowka-Turm zu erregen», sagt der Kurator Mark Akopjan. Zusammen mit Jelena Wlasowa systematisierte er zwei Jahre lang das Archiv Schuchows, arbeitete auch mit internationalen Architekten zusammen, um zu zeigen, welche Wirkung Schuchows Ideen auch in Europa entfalteten, wenn auch ohne direkten Einfluss des vielseitigen Konstrukteurs. So zieht das Zürcher Architekturbüro Burkhalter Sumi in der Ausstellung Parallelen zum deutsch-amerikanischen Architekten Konrad Wachsmann, ein halbes Jahrhundert jünger als Schuchow. Mit seinen Tragwerk-Tüfteleien war Wachsmann stets auf der Suche nach einem universellen Knotenpunkt und damit auch nach dynamischen Prinzipien der Kräfteableitung, was auch Schuchow nicht fremd war. Die Multimedia-Show von Burkhalter Sumi, mit der sie Wachsmanns Weinrebe-Konstruktion auf der letztjährigen Biennale von Venedig vorstellten, zeigt in Moskau mitsamt einem kurzen Einblick in die Werke Norman Fosters, Werner Sobeks und Frei Ottos den europäischen Blick auf Schuchows Synthese aus Architektur und Ingenieurwesen.

In der Enfilade des Museums, eines einstigen Herrenhauses mit Blick auf den Kreml, finden sich in sieben Räumen an die 300 Ausstellungsstücke. Hier hängen die beiden Patente in altrussischer Schrift, die Schuchow vom Zaren bekam, hier finden sich Entwürfe seiner Wassertürme, auf Transparentpapier mit Bleistift und Tusche gezeichnet. Die Wasserflecken am Rand legen einen Alterungsprozess der Werke offen, die in ihrer Raumgestaltung aus linearen Modellelementen jung und modern anmuten. Es sind nicht nur die Gitterkonstruktionen und Stabwerkschalen, die Schuchow zum Wegbereiter zeitgenössischer Baukunst machten. Die Ausstellung zeigt, auf den ersten Blick wenig passend, ebenso die Entwicklung zur Lagerung von Erdölprodukten. Auch hier machte sich Schuchow einen Namen, mit zylinderförmigen Öltanks und Eisen-Frachtkähnen.

In ordentlicher Schrift, fast schuljungenhaft, hat Schuchow seine Berechnungen angestellt. In seinem Archiv gibt es keine Zeichnungen, keine Skizzen, wie sie oft bei Architekten zu finden sind. Es sind Formeln und Gleichungen, fast durchkomponiert, die der Linie als Grundelement seiner Konstruktionen Raum geben. Die Mathematik wird dadurch zur Poesie, einer leichten, ja lakonischen Lektüre aus Zahlen, Wurzeln, Variablen. Entgegen der Schwermut, die der vor sich hinrostende Schabolowka-Turm erzeugt, hinter Zäunen und Stacheldraht nur sieben Kilometer weiter.

Schon im Innenraum von Schuchows rechteckigem Ausstellungspavillon an der Allrussischen Industrie- und Handwerksausstellung in Nischni Nowgorod von 1896 ist die Liebe zu Mathematik und Geometrie ablesbar.

Schon im Innenraum von Schuchows rechteckigem Ausstellungspavillon an der Allrussischen Industrie- und Handwerksausstellung in Nischni Nowgorod von 1896 ist die Liebe zu Mathematik und Geometrie ablesbar.

Archiv Akademie der Wissenschaft

«Schuchow. Formel der Architektur», eine Ausstellung des Staatlichen Architekturmuseums in Moskau, unter Beteiligung der Shukhov Tower Foundation, bis 19. Januar.