Paris zählt zum dritten Mal seine Obdachlosen. Und merkt, dass das Problem nicht kleiner wird

Es gibt durchaus ein soziales Auffangnetz, auch Notschlafstellen. Trotzdem geht die Obdachlosigkeit nicht zurück. Die Bürgermeisterin, in der heissen Phase des Wahlkampfs, kennt die Schuldigen dafür.

Nina Belz, Paris
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Manche der Obdachlosen stellen ihr Zelt in der Stadt auf; die meisten schlafen jedoch in Hauseingängen oder Unterführungen.

Manche der Obdachlosen stellen ihr Zelt in der Stadt auf; die meisten schlafen jedoch in Hauseingängen oder Unterführungen.

Charles Platiau / Reuters

Das 9. Arrondissement gehört zu den besseren Quartieren von Paris. Zwischen der neobarocken Opéra Garnier, den traditionsreichen Warenhäusern am Boulevard Haussmann und den südlichen Ausläufern des Ausgehviertels Pigalle wohnen rund 60 000 Menschen. Im vergangenen Jahr lebten dort zudem rund 100 Personen auf der Strasse – zumindest in jener Februarnacht, in der die Stadt Paris Freiwillige losgeschickt hatte, um die Obdachlosen zu zählen. Diese Zählung sei immer nur eine Momentaufnahme, eine Art Foto, sagt die Koordinatorin vor den knapp 50 Personen, die in diesem Jahr das Quartier erneut vermessen sollen.

Damit dieses Foto aber möglichst scharf wird, erläutert die Koordinatorin im Filmsaal des Rathauses noch einmal die Regeln: Der zugeteilte Sektor – 12 sind es im 9. Arrondissement, über 350 in der ganzen Stadt – müsse auf der Suche nach Menschen ohne Obdach einmal vollständig abgelaufen werden. Dabei sei es wichtig, die eingezeichneten Grenzen genau einzuhalten. Besetzte Häuser seien ebenso tabu wie Tiefgaragen und Metrostationen. Dafür seien separate Teams zuständig. Die Befragung zu den Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen sei freiwillig und anonym. Gezählt werden könne auch, wenn die Menschen nicht reden wollten. «Ihr seid heute nicht da, um zu helfen, sondern um zu zählen», lautet die Ansage.

«Es fehlt alles, aber vor allem eine Frau»

Véronique Boulinguez hat das Gebiet um das Opernhaus zugeteilt bekommen, ein Viereck von drei mal vier Häuserblocks. Die Hebamme hat sich bisher an allen Zählungen beteiligt, zum ersten Mal führt sie eine Gruppe von vier Freiwilligen an. Es ist ungewöhnlich mild für einen Abend Ende Januar, aber die Strassen sind nass. Als Boulinguez’ Gruppe kurz nach 22 Uhr den zugeteilten Sektor erreicht, in blauen Westen und mit einem Klemmbrett ausgerüstet, sind die ersten Zielpersonen schon in Sicht.

Das Stadtgebiet von Paris

9ème Arrondissement

Boulinguez hat zuvor noch einmal daran erinnert, dass nicht nur Menschen mit Schlafsäcken dazugehörten. Auch jemanden, der herumlungere oder einen verlorenen Eindruck mache, solle man fragen, wo er schlafen werde. Bei den zwei Männern und der einen Frau, die in einem Hauseingang neben den Galeries Lafayette auf zwei Matratzen sitzen und rauchen, ist der Fall klar. Ihr Hab und Gut lehnt in Plastiktaschen an der Hauswand. Sie grüssen freundlich, doch schnell stellt sich heraus, dass sie kaum Französisch sprechen. Und auch kein Englisch. Es wird nicht das letzte Mal sein an diesem Abend, dass die Freiwilligen mit einer Sprachbarriere konfrontiert sind.

Der ältere Mann zieht schliesslich seinen Ausweis aus der Jackentasche. Er kommt aus Rumänien. Der jüngere spricht ein paar Brocken Italienisch. Er sei 43, die Frau 50, sagt er. Dann nennt er seine Wunschliste: Ein paar neue Schuhe brauche er, die Frau eine Hose und alle drei Zahnbürsten. Ein dritter Mann kommt hinzu. Gross, massig, weisser Bart, Kapitänsmütze, Spazierstock. «Sie sind seit zwei Jahren hier», sagt er in akzentfreiem Französisch. Die drei lebten vom Betteln.

Der Mann vermittelt zwischen den Freiwilligen und der Gruppe, dann beginnt er von sich selbst zu erzählen. Er sei ebenfalls aus Rumänien direkt nach Paris gekommen, vor 22 Jahren schon. Die meiste Zeit habe er auf der Strasse gelebt. Als Drechsler habe er nie mehr eine Stelle gefunden. Inzwischen sei er 50. Den Lebensunterhalt finanziere er sich mit Betteln, ab und zu finde er Gelegenheitsjobs. Er schlafe derzeit in einem Parkhaus, duschen könne er beim Bahnhof in der Nähe, Essen bekomme er meist in der Gassenküche. Eine der Freiwilligen kreuzt die entsprechenden Felder auf dem Fragebogen an: Alter, Geschlecht, Schlafplatz, Zeitpunkt der Ankunft in Paris. Zum Schluss fragt sie: «Und an was fehlt es Ihnen?» Er lacht, bevor er fast pathetisch sagt: «Madame, mir fehlt es an allem. Aber vor allem fehlt mir eine Frau.» Jetzt lachen auch die zwei Männer und die Frau auf der Matratze.

Metrogänge, Parkhäuser, aber vor allem die Strasse

Die Freiwilligen verabschieden sich. Ein paar hundert Meter weiter stossen sie an einer Kreuzung von zwei befahrenen Boulevards auf einen verlassenen Schlafplatz. Neben der durchnässten Matratze liegen offene Lebensmittelpackungen und Kleider. Vom Besitzer keine Spur, er wird daher nicht gezählt. Ebenso wenig wie die Gruppe von Mittdreissigern in etwas abgewetzter Kleidung, die zwei Wohnblöcke weiter etwas verloren auf dem Trottoir stehen und einen weggetretenen Eindruck machen. «Turistas», sagt einer von ihnen, sichtlich betrunken, nachdem Véronique Boulinguez ihn angesprochen hat.

Nach zweieinhalb Stunden, gegen 00 Uhr 30, hat Boulinguez’ Team das Gebiet abgelaufen. Sie muss nun noch die Fragebogen ins Rathaus bringen; die umfangreichen Ergebnisse sollen bis Ende Februar veröffentlicht werden. Ihr Team hat in seinem Sektor insgesamt zehn Personen angetroffen, vierzehn weniger als im Vorjahr. Drei von ihnen haben geschlafen, sie wurden daher lediglich registriert. Mit fünf konnten sich die Freiwilligen wegen Sprachbarrieren nicht unterhalten. Doch widerspiegelt ihr Ergebnis gewissermassen die Tendenz, die unter den Obdachlosen in Paris schon in den letzten beiden Jahren festgestellt worden ist: Die Mehrheit schläft weder in Parkhäusern noch in den Metrogängen, sondern auf der Strasse. Über 80 Prozent von ihnen sind Männer, und rund ein Drittel von ihnen bewegt sich in Gruppen.

Die meisten Obdachlosen in Paris sind alleine unterwegs

Erhebung 2019, in Prozent

Das Ziel der Zählung sei unter anderem, die Bedürfnisse der Menschen besser zu verstehen, hatte Anne Hidalgo zum Auftakt des Abends gesagt. Die sozialistische Bürgermeisterin hat die Initiative vor drei Jahren nach dem Vorbild von New York ins Leben gerufen. Erste Vergleiche werden nun möglich, und sie zeigen keine positive Entwicklung. Zwischen 2018 und 2019 ist die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz in Paris gestiegen; wobei die Verantwortlichen der Studie darauf hinweisen, dass sich die Methode verbessert habe und das Gebiet etwa auf Metrostationen ausgeweitet wurde.

Auch bei gleichbleibendem Perimeter wurde allerdings eine Zunahme um über 200 Personen verzeichnet. 2019 wurden auf dem untersuchten Stadtgebiet, zu dem auch die zwei Stadtwälder zählen, 3641 Obdachlose gezählt. 2020 sind es mit 3552 immerhin 89 weniger. In den letzten Jahren hat die Stadt Paris ihr Angebot an Notunterkünften allerdings stetig ausgebaut; laut Hidalgo sind die inzwischen 25 000 Plätze derzeit ausgelastet. Ihr Engagement galt zuletzt insbesondere den Frauen, deren Anteil unter den Obdachlosen tendenziell zunimmt (2019 lag er bei 14 Prozent). Im vergangenen Jahr hat Hidalgo im Rathaus von Paris zwei Räume umfunktionieren lassen, in denen bis zu 100 Frauen und Kinder einen Rückzugsort finden.

Mehr als 30 Prozent der Obdachlosen hatten nie eine Wohnung in Paris

Rund 58 Prozent von ihnen leben zudem seit mehr als einem Jahr auf der Strasse

«Schuld ist die Regierung»

Mit rund 60 Anlaufstellen für Menschen ohne Obdach gibt es durchaus ein soziales Auffangnetz in der französischen Hauptstadt: von Duschen über Gepäckfächer und Sozialarbeiter bis zur medizinischen Beratung. Seit 1993 nimmt sich der «Samu social», ein Zusammenschluss mehrerer Nichtregierungsorganisationen, zudem speziell Menschen ohne feste Unterkunft an. Zum Angebot gehört auch eine Notfallnummer, unter der rund um die Uhr jemand erreichbar ist. Doch zeigen die Erhebungen der letzten beiden Jahre auch, dass die deutliche Mehrheit der Befragten dort noch nie um Hilfe gebeten hat.

Für Hidalgo, die sich in fünf Wochen zum zweiten Mal als Bürgermeisterin zur Wahl stellt, war die Obdachlosenzählung, «Nuit de la Solidarité» genannt, auch ein Kampagnentermin. Und damit ein Moment, in dem sie eine Erklärung brauchte für eine Situation, die trotz ihrem Effort kaum besser geworden ist. Die Stadt Paris trage die Konsequenzen der schlechten französischen Asylpolitik, sagt sie. Weil es an Unterkünften fehle, landeten viele der Asylsuchenden auf der Strasse. Dass diese in die Hauptstadt kämen, sei eine Logik, die sich seit Jahrzehnten zeige: Hier erhofften sie sich die besten Überlebenschancen.

Just zwei Tage vor der Obdachlosenzählung hat die Polizei zum 60. Mal seit 2015 ein Flüchtlingslager auf Stadtgebiet geräumt. Rund 1400 Personen hausten dort über Monate unter widrigsten Bedingungen. In der diesjährigen Statistik werden sie nicht auftauchen. Sie wurden vorübergehend in Turnhallen untergebracht. Ob Hidalgo mit ihrem Erklärungsversuch recht hat, lässt sich allerdings nicht überprüfen. Die Herkunft der Obdachlosen wird in den Fragebogen nicht erhoben.