Gastkommentar

Schizophrenie ist primär für den Erkrankten selber gefährlich

Nach dem Attentat von Hanau wurde nicht nur heftig über politische Verantwortlichkeiten diskutiert. Solche Schreckenstaten verstärken in der Öffentlichkeit stets auch das Bild des gefährlichen Schizophrenen.

Wulf Rössler
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Blick auf die Psychiatrische Klinik in Münsterlingen.

Blick auf die Psychiatrische Klinik in Münsterlingen.

Gian Ehrenzeller / Keystone

Die Mordtaten von Hanau haben weitherum Entsetzen ausgelöst. Die gezielte oder auch wahllose Ermordung von dem Täter unbekannten Personen schien in der westlichen Welt vor allem den USA vorbehalten, wo mehrmals jährlich solche Amokläufe, vorzugsweise an Schulen, stattfinden. Solche barbarischen Akte waren bei uns bis anhin eher selten. Der Täter, der nach seiner Mordserie seine Mutter und sich selbst tötete, schien kruden rassistischen Ideologien anzuhängen, da alle Opfer einen Migrationshintergrund aufwiesen. Die Tat hat eine Welle politischer Statements ausgelöst, mehrheitlich mit dem Tenor, dass diese Tat Folge der hetzerischen Verlautbarungen der Rechtspopulisten in Deutschland gewesen sei oder dass jene zumindest den Boden für diese Morde bereitet hätten.

Wahnhafte Störung

Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass der Täter offensichtlich mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Mehrere Fachpersonen kamen zu dem Schluss, dass der Täter mindestens unter einer wahnhaften Störung, vermutlich aber unter einer schizophrenen Erkrankung gelitten hat. Die Tat von Hanau ist deshalb auch kein terroristischer Akt, wie in Berlin, Nizza oder des NSU, da die Hanauer Tat Folge eines innerpsychischen Konfliktes und wohl nicht im Namen einer übergeordneten Ideologie erfolgt ist. Aber dominierende gesellschaftspolitische Entwicklungen sind wie eine Folie, vor der sich häufig die jeweiligen Wahninhalte entwickeln.

Ob der Täter unter solchen Umständen krankheitshalber exkulpiert werden kann, wird der weitere Fachdiskurs zeigen. Vor Jahren hat die Psychiatrie eine ähnliche Diskussion geführt im Hinblick auf die Verantwortlichkeit von Anders Brejvik, der getrieben von rassistischen Ideen im friedlichen Norwegen 77 vorwiegend junge Menschen ermordet hat. Im Prozess kam es zu einer erbitterten Auseinandersetzung über die Zurechnungsfähigkeit Brejviks, der wahlweise die Diagnose einer schizophrenen Erkrankung oder einer Persönlichkeitsstörung erhielt. «Erbittert» war die norwegische Diskussion deshalb, weil es ein Anliegen der Angehörigen und der Öffentlichkeit war, den Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Bemerkenswerterweise hat es im Hanauer Fall bisher noch keine Diskussion über die Gefährlichkeit psychisch Kranker, insbesondere schizophren Erkrankter, gegeben. Vermutlich erklärt sich das daraus, dass die politische Interpretation der Tat im Moment alles überlagert.

Aber dass in der Öffentlichkeit das Bild des gefährlichen Schizophrenen aktiviert wurde, steht m. E. ausser Frage – einfach weil es nie überwunden war. Als auf den damaligen deutschen Minister Schäuble in den 1990er Jahren ein Attentat durch einen psychisch Kranken verübt wurde, hat sich in Meinungsumfragen das Bild psychisch Kranker sofort und lang anhaltend verschlechtert.

Die moderne psychiatrische Versorgung hat in den letzten 50 Jahren die Betroffenen aus ihrer Isolation hinter den Mauern psychiatrischer Kliniken befreit. Das ging alles andere als reibungslos vonstatten. Dort, wo z. B. Heime für psychisch kranke Menschen eröffnet wurden, gab es häufig erbitterten Widerstand der Nachbarschaft. Man könne die Kinder nicht mehr unbegleitet aus dem Haus lassen, eben wegen der mutmasslichen Gefährlichkeit dieser Menschen. Ein Wertverlust der eigenen Immobilie drohe, was angesichts der vorgenannten Einstellungen nicht verwundert. Selbst wenn diese Menschen freundlich erschienen, müsse man vorsichtig sein. Es ist das Bild des Serienmörders aus «Dr. Jekyll and Mr. Hyde», der tagsüber der freundliche Doktor ist und nachts mordet, das prototypisch für den schizophrenen Menschen steht.

Angst und Ablehnung

Verschiedene Befragungen der Schweizer Bevölkerung haben gezeigt, wie ablehnend die Bevölkerung gegenüber psychisch Kranken ist, insbesondere gegenüber Schizophreniekranken. Man kann sich gerade noch vorstellen, eine solche Person als Arbeitskollegen zu haben, aber eine Person, die einmal an einer schizophrenen Psychose gelitten hat, als Babysitter für die eigenen Kinder zu beschäftigen, ist nahezu undenkbar. Um es gesagt zu haben: Die allermeisten Schizophreniekranken waren, sind und werden nie für irgendjemand ausser für sich selbst gefährlich. Ungefähr 10 Prozent der Menschen mit dieser Diagnose begehen Selbstmord, nicht zuletzt, weil sie an der gesellschaftlichen Realität zerbrechen. Und darüber hinaus stigmatisieren sich diese Menschen auch noch selbst; sie halten sich für schwach, unfähig und erstarren in Hilflosigkeit.

Rund ein Viertel der Bevölkerung braucht während eines Jahres Hilfe von Fachleuten wegen psychischer Störungen. Quasi jede Familie ist davon betroffen, wenige reden darüber. Häufig bedanken sich meine Patienten für die geleistete Hilfe, weiterempfehlen könnten sie mich leider nicht, weil sie mit niemandem darüber sprechen könnten, dass auch sie betroffen gewesen seien. Trotz Hanau: Zeit für einen Wechsel!

Wulf Rössler ist ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, jetzt Senior Professor an der Charité Berlin.