Wie Singapur das Virus in den Griff bekommt und Panik vermieden hat

Der Stadtstaat hat viel aus der Sars-Krise gelernt und lässt sich vom Coronavirus nicht unterkriegen. Nicht alle Rezepte sind auf andere Länder übertragbar, einige aber schon. Und zwecks Kohäsion der Gesellschaft greift man zu ungewöhnlichen Mitteln.

Manfred Rist, Singapur
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Ankommende Passagiere werden am Singapurer Flughafen Changi von medizinischem Personal auf erhöhte Körpertemperatur geprüft.

Ankommende Passagiere werden am Singapurer Flughafen Changi von medizinischem Personal auf erhöhte Körpertemperatur geprüft.

Edgar Su / Reuters

Schauplatz City Hall im Zentrum Singapurs Ende letzter Woche: In einem populären Restaurant der Marché-Mövenpick-Kette findet ein Networking-Anlass statt. Das Haus ist gerammelt voll, die Stimmung ist gut, niemand trägt eine Atemschutzmaske. Wieso auch? Selbst sechs Wochen nach dem ersten Infektionsfall ist die Zahl der vom Coronavirus betroffenen Personen letztlich immer noch gering. Von Panik keine Spur, man hat Vertrauen in die Massnahmen der Regierung, und es gibt – entgegen ursprünglichen Befürchtungen – keine exponentiell steigenden Ansteckungszahlen.

Drei Erkenntnisse nach sechs Wochen

Die einschlägigen Diagramme zu Covid-19 im Stadtstaat zeigen vielmehr eher Beruhigendes auf: Seit dem 23. Januar, als der erste Infektionsfall verzeichnet wurde, verbreitet sich das Virus erstens nicht explosionsartig, sondern linear und hat bis zum Wochenende 138 Personen befallen. Zweitens verläuft die Linie der genesenen Patienten, deren Zahl jetzt bei 90 steht, parallel zur ersten, was heisst, dass der Verlauf der Krankheit bisher gleich und dadurch prognostizierbar geblieben ist. In diesem Zusammenhang die dritte Erkenntnis: Nach durchschnittlich 12 Tagen hat ein Patient die Infektion in der Regel überwunden.

In Singapur wurden seit Beginn der Pandemie nur 29 Todesfälle verzeichnet

Bestätigte Coronavirus-Fälle in Singapur (kumulativ), nach Status der Patienten
Tote
gegenwärtig Infizierte
Genesene

Die Regierung hierzulande ist weit davon entfernt, angesichts dieser Sachverhalte Entwarnung zu geben. Man weiss und räumt auch ein, dass neue Cluster auftreten können. Früher oder später werde es auch den einen oder anderen Todesfall geben, heisst es im Gesundheitsministerium dazu sachlich. Aber die Zuversicht, dass man das Virus auch ohne drastische Einschnitte ins öffentliche Leben in den Griff bekommt, ist in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Singapur zählt mithin zu jenen Staaten, deren Abwehrdispositiv bis jetzt recht erfolgreich ist.

Rasches Handeln und glaubwürdige Kommunikation

Der Ausbruch der Lungenkrankheit Severe Acute Respiratory Syndrome (Sars), der vor siebzehn Jahren in Singapur 33 Tote zur Folge hatte, hat wichtige Erfahrungen im Umgang mit einer Epidemie geliefert. Dazu gehört insbesondere die Einrichtung eines Contact-Tracing-Managements, das erlaubt, innert Stunden den Kreis von potenziell infizierten Personen zu eruieren. Um die Ausbreitung zu stoppen, wurde ferner ein Quarantänedispositiv erstellt, das von Selbstquarantäne zu Hause – als Präventivmassnahme – über Isolierräume in Spitälern bis zu designierten Gebäudekomplexen ausserhalb des Stadtzentrums reicht. Bei Verstössen wird hart durchgegriffen; beispielsweise sind Ende Februar vier Ausländer mit Arbeitsbewilligungen wegen Quarantänebruchs des Landes verwiesen und sofort ausgeschafft worden. «Wir wollen, dass in dieser Phase alle kooperieren. Die Leute müssen wissen, dass wir nicht zögern, harte Massnahmen zu ergreifen», erklärte Innenminister Shanmugam dazu.

Zu den Erfolgsfaktoren gehört die schnelle Reaktion. Bereits am 3. Januar, also drei Wochen vor dem ersten Infektionsfall auf heimischem Boden, sind am Flughafen Changi Ankommende aus Wuhan auf ihre Körpertemperatur überprüft worden. Bereits Ende Januar wurden Sanitätssoldaten für gewisse Kontrollaufgaben an der Grenze und am Flughafen sowie zur Verteilung von Material wie Schutzmasken eingesetzt. Seit der Sars-Krise gibt es auch Vorräte von anderen medizinischen Produkten, die zu den strategischen Reserven gehören. Zur raschen Reaktion gehörte die Errichtung einer Website des Gesundheitsministeriums, auf der sämtliche neuen Entwicklungen, Warnungen, Empfehlungen und Stellungnahmen von Fachleuten einsehbar sind.

Bezüglich Informationspolitik ist ein Blick über die Grenzen Singapurs aufschlussreich. In Indonesien, wo das Gesundheitssystem weit weniger entwickelt ist, hat Staatspräsident Joko Widodo kürzlich erklärt, nicht das Virus sei das Hauptproblem, sondern die Angst vor ihm. Diese Stellungnahme hängt wohl damit zusammen, dass dieses Riesenland bisher offiziell erst fünf Infektionsfälle verzeichnet. Doch auf eine solche Relativierung der Gefahr, die sich schnell rächen könnte, liessen sich die Regierenden in Singapur nie ein, im Gegenteil: Das Virus wurde vielmehr von Anfang an als existenzielle Bedrohung der Gesellschaft und der Wirtschaft betrachtet. Deswegen reagierte man entschlossen und richtete Krisenstäbe ein. Und weil die Behörden entschlossen und transparent agierten, machte sich nie Panik breit.

Spezielle Bedingungen eines Kleinstaats

In Singapur liegen in vielerlei Hinsicht spezielle Bedingungen vor, weshalb Vergleiche mit anderen Ländern nur bedingt zulässig sind. Dazu zählt die Insellage: Sie erlaubt, die Verkehrsflüsse zu kontrollieren und die Grenzen im Notfall einfach abzuriegeln. Dazu kommt der Einfluss der Behörden auf die Medien: Fernsehen, Radio und Presse sind Teil der Informationsmaschinerie und tragen auf diese Weise zur raschen Verbreitung von Sachverhalten, Verhaltensempfehlungen und Dekreten bei. So publizieren alle Organe seit Wochen identische praktische Anweisungen, die die Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Speziell an Singapur sind auch die Obrigkeitsgläubigkeit und der zivile Gehorsam der Bevölkerung: Aber gerade weil die Regierung als verlässlich gilt und sich insbesondere während der Sars-Zeit als Krisenmanager bewährt hatte, schenkt man ihr Glauben, beherzigt ihre Anweisungen und verfällt auch nicht in Panik.

Horizontale und vertikale Kohäsion der Gesellschaft

Bemerkenswert in dieser Krise ist denn auch die Kohäsion der Gesellschaft. Während etwa in der Schweiz örtlich in diesen Tagen schon Generationenkonflikte heraufbeschworen und Partikularanliegen thematisiert werden, wähnen sich hierzulande vorderhand alle im gleichen Boot. Schliesslich geht es alle an, und jeder kann ein gefährlicher Träger oder ein Opfer des Virus werden – oder beides. Ein wirklich grosser Testfall für Singapur war diese Krise bisher zwar noch nicht. Immerhin lässt sich sagen, dass bezüglich sozialer Resilienz, also mit Blick auf die Widerstandskraft und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Bevölkerung, die Republik bis anhin gut abschneidet.

Letzteres gilt durchaus auch in vertikaler Richtung: Den Politikern ist es nämlich gelungen, Solidarität mit der Bevölkerung zu demonstrieren und die Kluft zwischen oben und unten zu überbrücken. So haben etwa die Präsidentin, der Premierminister sowie alle anderen Minister und Parlamentarier angekündigt, wegen der Krise auf einen Monatslohn zu verzichten. Beschäftigte im Gesundheitssektor, die mit Patienten in Berührung kommen, werden neuerdings als «Helden an der Front» bezeichnet und erhalten spezielle Boni. Das eine oder das andere kann man als symbolhaftes Vorgehen sehen und verniedlichen, aber es hat landesweit positive Resonanz hervorgerufen.

Auch in Grossunternehmen, an denen der Staat Beteiligungen hält, etwa bei Singapore Airlines oder den grossen Staatsfonds, hat sich das Management Lohnkürzungen verordnet; so etwas gab es nicht einmal während der Sars-Krise. Im Gegenzug wurde finanzielle staatliche Unterstützung für Branchen gesprochen, die direkt von der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise betroffen sind, so der Detailhandel und die Tourismusbranche. Ferner hat die Regierung veranlasst, dass Arztkonsultationen und Spitalaufenthalte viel günstiger werden. Das Gefühl, dass sich die Oberen diesmal wirklich auch um die Unteren kümmern, wird durch Direktzahlungen an Haushalte mit niedrigen Einkommen verstärkt. Damit tötet man keine Viren ab. Aber das Gefühl, dass Solidarität herrsche, wird auch nicht geringer.

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