Die glücklichsten Belgier sprechen Deutsch

Vor hundert Jahren fielen mit dem Versailler Vertrag neun deutschsprachige Gemeinden an Belgien. Die dort lebende Bevölkerung gilt heute als Europas bestgeschützte Minderheit – und als besonders königstreu.

Daniel Steinvorth, Eupen
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Eupen, der Hauptort der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, erscheint brav und aufgeräumt.

Eupen, der Hauptort der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, erscheint brav und aufgeräumt.

Ilvy Njiokiktjien / NYT / Laif

Die Heimat der deutschsprachigen Gemeinschaft liegt eindreiviertel Zugstunden von Brüssel entfernt. Sie befindet sich im äussersten Osten Belgiens, grenzt an Deutschland im Westen und an Luxemburg im Süden. Sie ist nur 854 Quadratkilometer gross. Eine Gegend aus Mooren, weiten Feldern und Kirchturmspitzen. Ein Dazwischenland, so nannte sie einmal ein deutsches Wochenmagazin. Doch mit diesem Begriff kann der Mann, der hier die Regierungsgeschäfte führt, herzlich wenig anfangen.

«Wir sind ein eigenständiges Bundesland», sagt Oliver Paasch. Er ist der gewählte Ministerpräsident von knapp 78 000 deutschsprachigen Belgiern. Man könnte auch sagen: von 0,68 Prozent der belgischen Gesamtbevölkerung, die mehr als 11 Millionen zählt. Aber die europaweit kleinste Gebietskörperschaft mit Gesetzgebungshoheit sei man keineswegs, auf diese Feststellung legt Paasch Wert. Da gebe es ja in der Schweiz durchaus noch ein paar Kantone, die kleiner seien – und mit denen man im Übrigen gerne zusammenarbeite.

Deutschsprachige Gebiete

Die Begegnung mit dem Ministerpräsidenten findet in seinem Amtssitz in dem beschaulichen Städtchen Eupen statt. Knapp 20 000 Einwohner zählt der Hauptort der deutschsprachigen Gemeinschaft. Er erscheint brav und aufgeräumt – und von gemütlichen Menschen bevölkert, die sich auf der Strasse in einem rheinischen Singsang begrüssen. Überhaupt erinnert den Besucher in Eupen vieles daran, dass er, aus dem Westen kommend, eine Kulturgrenze überschritten hat: Es gibt Schwarzbrot beim Bäcker und Lokale, die «Ratskeller» oder «Stadtschenke» heissen. Belgische Flaggen sind jedoch fast überall zu finden.

Spielball der Mächte

Auch vor dem alten Kaufmannshaus in der Gospertstrasse Nummer 42 ist eine schwarz-gelb-rote Trikolore befestigt. Drinnen hängt ein Bild des belgischen Königs Philippe an der Wand. Paasch, ein freundlicher Endvierziger mit kurzen Haaren und hoher Stirn, sitzt an einem Besprechungstisch und klärt auf: warum es sich lohnt, genauer auf die kleine Grenzregion zu schauen. Wie aus einer leidgeprüften Bevölkerung die bestgeschützte Minderheit Europas wurde. Und warum ihr Gemeinwesen heute als eine Art politisches Laboratorium funktioniert.

Hin- und hergerissen – oder wie Historiker gerne sagen: ein Spielball der Mächtigen – waren die drei Landkreise Eupen, Malmedy und Sankt Vith schon immer. Jahrhundertelang Teil des Heiligen Römischen Reiches, dann von Napoleon besetzt, später Preussen zugesprochen, markierte das Ende des Ersten Weltkriegs die entscheidende Zäsur. Wie nur wenige Länder war das Königreich Belgien von den Verwüstungen betroffen und forderte Reparationen. Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von Versailles sah vor, dass das Deutsche Reich die drei Grenzgebiete Belgien überlassen würde. Er trat am 10. Januar 1920 in Kraft.

Unter seinen neuen Bewohnern hielt das Königreich zwar ein Referendum ab, doch eine echte Wahl hatten sie nicht: Wer sich mit seiner Unterschrift gegen die Annexion aussprach, wurde ausgewiesen, erhielt keine Lebensmittelkarten oder erlitt andere Schikanen. Die hauptsächlich deutschsprachige Bevölkerung in den neun Gemeinden von Eupen und Sankt Vith fügte sich murrend, die Menschen im überwiegend französischsprachigen Malmedy nahmen den Staatenwechsel leichter hin. Für den Preis von 200 Millionen Goldmark war der finanziell angeschlagene belgische Staat allerdings schon 1925 bereit, die «Neubelgier» wieder abzustossen. Die Geheimverhandlungen scheiterten am Widerspruch Frankreichs.

Die Machtergreifung der Nazis 1933 hatte die deutschsprachige Bevölkerung noch in prodeutsche Revisionisten und probelgische Demokraten gespalten. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen am 10. Mai 1940 waren alle politischen Unterschiede sofort aufgehoben. Paasch zeichnet ein Bild vom Ende des Weltkrieges: «Meine Heimatstadt Sankt Vith wurde während der Ardennenoffensive dem Erdboden gleichgemacht. Von über sechshundert Häusern blieben nur sechs stehen.» Nach Kriegsende gelangten die Gebiete zwar an Belgien zurück, doch nun standen die Deutschsprachigen unter Generalverdacht. Echte und mutmassliche Kollaborateure wurden hart bestraft, der Gebrauch des Deutschen war verpönt.

Der Föderalismus – ein Glücksfall

Schwere Jahre seien es für die Generation seiner Grosseltern gewesen, aber die Nachgeborenen hätten ihren Frieden mit der Geschichte gemacht, erzählt Paasch. Und mehr als das: Laut einer Umfrage bekennten sich heute 97 Prozent der deutschsprachigen Ostbelgier zum Staat Belgien. 98 Prozent seien insgesamt mit ihrer Lebensqualität zufrieden. Gut zwei Drittel der Menschen bezeichneten sich ausserdem als königstreu – ein rekordverdächtiger Wert in einem Land, in dem die Monarchie alles andere als tief verankert ist. Wie erklärt sich der Ministerpräsident diese Werte? «Die Wende fand für uns im Jahr 1963 statt mit der Anerkennung der deutschen Sprache als Amts- und Landessprache. Und noch mehr mit der Föderalisierung des belgischen Staates.»

Der Föderalismus, ausgerechnet. Paasch kennt den Spott aus dem Ausland, wenn es die Belgier wieder einmal nicht schaffen, eine Bundesregierung zu bilden oder wenn nach einem Terroranschlag die Sicherheitsbehörden überfordert sind. Schnell sei dann von einem «failed state» die Rede. Doch dass sich das Land im Zuge von insgesamt sechs Staatsreformen und unter dem Druck des flämisch-wallonischen Sprachenstreits von einem Einheitsstaat in ein kompliziertes föderales Doppelsystem verwandelte, konnte aus Sicht der Deutschsprachigen nur ein historischer Glücksfall sein.

So besitzen heute nicht nur die drei Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel, sondern auch die drei Sprachgemeinschaften – also die flämische, die französische und die deutsche – ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Sechs Gliedstaaten, die für unterschiedliche Sachbereiche zuständig sind, das kann schon Verwirrung schaffen. Doch der deutschsprachigen Gemeinschaft stiftete es vor allem einen in Europa einzigartigen Autonomiestatus: Zuständig ist man in Eupen nicht nur für Kultur, Sprache, Bildung und Ausbildung, sondern auch für den Tourismus, den Wohnungsbau sowie für Teile der Gesundheits- und der Sozialpolitik, wozu auch die Aufnahme und Integration von Einwanderern gehört. Sogar in der Aussenpolitik nimmt man Rechte wahr, etwa bei der Ratifizierung von Handelsverträgen.

Eine «besondere Spezies Mensch»

So konnte sich das Gebiet entfalten und prosperieren, das aus seiner Nähe zu den Ballungsräumen im Rhein-, Ruhr- und Maasgebiet, wirtschaftlichen Nutzen zog. Weil man, so formuliert es der Ministerpräsident, in Ostbelgien sowohl von der germanischen Gründlichkeit als auch von der romanischen Lebensfreude beeinflusst werde, sei man zudem «eine ganz besondere Spezies Mensch geworden». Nur der Begriff deutschsprachige Gemeinschaft klinge für ein Bundesland doch recht sperrig. Und so benutzt man in der Verwaltung, in der 4-köpfigen Regierung und im 25-köpfigen Parlament von Eupen seit einiger Zeit lieber den grosszügigen Begriff Ostbelgien.

Wer sich an den ländlichen Stadtrand von Eupen begibt, kann jemanden treffen, auf den die Definition von Paasch mit Sicherheit zutrifft. Freddy Derwahl ist Journalist und Schriftsteller, ein Widerspruchsgeist und ein verhinderter Mönch, wie er selber sagt. Der 73-Jährige lebt in einem alten Bauernhaus voller Bücher und Erinnerungen. Er weiss über jede Zeit etwas zu erzählen, etwa über die Nachkriegsjahre, als die strengen Rituale der katholischen Kirche den Bewohnern Trost spendeten. Oder über die Jahre des kulturellen Aufbruchs, in denen man in Wallonien immer seltener verächtlich von «Beutebelgiern» sprach, wenn man die Deutschsprachigen meinte.

Ende der 1980er Jahre stach Derwahl in ein Wespennest, als er aufdeckte, dass die einflussreiche Partei der deutschsprachigen Belgier (PDB) über Jahre geheime Spendengelder von einer Stiftung aus Düsseldorf bezogen hatte. Offiziell gab die Hermann-Niermann-Stiftung an, sich für deutsche Minderheiten im Ausland einzusetzen. Tatsächlich aber verfolgte sie eine deutschnationale Agenda und unterstützte dabei nicht nur die PDB, sondern auch militante Separatisten in Südtirol oder die elsässischen «Schwarzen Wölfe», die Brandanschläge verübten. Von belgischen Medien alsbald als «Heim-ins-Reich-Partei» verschrien, sank der Stern der PDB. Derwahl hatte sich damit viele Feinde gemacht.

Heute, sagt er, sei die Zeit der «Deutschtümler» in Ostbelgien unwiderruflich vorbei, schliesslich seien die Leute viel zu glücklich über ihre Autonomierechte: «Ehrlich gesagt, dieses Grossmäulige und Laute der Deutschen, das passt auch gar nicht zu uns.» Dass es für diesen Weg der wahren Belgierwerdung den wallonisch-flämischen Sprachenstreit brauchte, um sich als eigene Sprachgemeinschaft zu emanzipieren, will Derwahl gar nicht bestreiten. «Wir haben von dem Streit profitiert, aber wir mussten uns unsere Sonderrolle auch hart erkämpfen.»

Politisches Labor

Im Unterschied zu Südtirol hat Ostbelgien nie eine militante Autonomiebewegung hervorgebracht. Anders als manche Politiker in Flandern, die Unabhängigkeit fordern, oder manche Wallonen, die eine Union mit Frankreich ins Spiel bringen, würden die Deutschsprachigen auch nie den Gesamtstaat infrage stellen. Sie sind Belgier, durch und durch. Doch damit ist die Geschichte Ostbelgiens noch lange nicht zu Ende. Seit einigen Monaten läuft ein politisches Experiment in dem kleinen Landstrich, das sogar schon Diplomaten aus Tansania und aus Usbekistan nach Eupen gelockt hat.

Es geht um den sogenannten Bürgerrat; ein System, bei dem sich eine permanente Vertretung von zufällig ausgewählten Bürgern an der Regionalpolitik beteiligen soll. Als «eine Art zweite Kammer neben dem Parlament», so hatte der Ministerpräsident stolz die neue Institution bezeichnet. Erstmals im September eingesetzt, wählten die 24 Männer und Frauen, die in einem Losverfahren ermittelt worden waren (und bereit waren, das Experiment zu unterstützen), zunächst das Thema aus – Pflege – und begannen dann, Empfehlungen an die Politik auszuarbeiten. Parlament und Regierung sollen darauf reagieren und begründen, wenn sie etwas nicht umsetzen können.

Um Rat gebeten hatte Paasch zuvor den belgischen Historiker David Van Reybrouck, Autor der Streitschrift «Gegen Wahlen», die sich mit Auswegen aus der Demokratiekrise beschäftigt. Als Mittel gegen die demokratische Ermüdung der Menschen, gegen permanenten Wahlkampf und populistische Verführer propagiert Van Reybrouck die dauerhafte Einbeziehung des Volkes per Losverfahren. Wahlen alle vier oder fünf Jahre, so seine These, reichten längst nicht mehr aus. «Wir betrachten den Bürgerrat als eine Ergänzung zu unserer Demokratie», meint Paasch.

Als kleines, überschaubares und politisch sensibilisiertes Gemeinwesen eignet sich Ostbelgien gut als Demokratielabor. Auch die Erfahrung, Europas bestgeschützte Minderheit zu sein, dürfte den Deutschsprachigen helfen. Über ihre Köpfe hinweg soll jedenfalls nichts mehr entschieden werden.

Dem Brüsselkorrespondenten Daniel Steinvorth auf Twitter folgen.

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