«Sie fangen Leute, und sie sägen mit dem Messer den Hals ab» – einer der letzten amerikanischen Sklaven erzählt aus seinem Leben

Cudjo Lewis wurde 1860 von Benin nach Alabama verschleppt. Mit 86 Jahren sprach er über seine Kindheit, die Gefangennahme und den Alltag in Amerika. Sein Bericht ist Pflichtlektüre.

Claudia Mäder
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Im besten Anzug, aber ohne Schuhe wollte sich Cudjo Lewis 1928 fotografieren lassen: «Ich will aussehen wie in Afrika, weil das ist, wo ich sein will.»

Im besten Anzug, aber ohne Schuhe wollte sich Cudjo Lewis 1928 fotografieren lassen: «Ich will aussehen wie in Afrika, weil das ist, wo ich sein will.»

Mit freundlicher Genehmigung der McGill Studio Collection, The Doy Leale McCall Rare Book and Manuscript Library, University of South Alabama

Allein im deutschsprachigen Raum erscheinen täglich mehr als 200 neue Bücher. Viele davon sind schön und gut und wichtig, aber bei einigen denkt man sich doch, dass man auch ohne sie hätte leben können, und bei manchen begreift man nicht, dass sie überhaupt einen Verlag finden konnten. Und dann gibt es Bücher, bei denen man sich fragt, warum sie jetzt erst veröffentlicht werden. In diese letzte Kategorie gehört «Barracoon».

Die afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston hat das Buch 1931 fertiggestellt, konnte es aber nirgendwo unterbringen. Nach ihrem Tod im Jahr 1960 lagerte das Manuskript in einer Universitätsbibliothek, und obwohl Hurstons literarische Werke ab den 1970er Jahren wiederentdeckt und gefeiert wurden, blieb «Barracoon» unpubliziert. Erst 2018 erschien das Buch in den USA, nun liegt es auch auf Deutsch vor.

Hurstons Grossnichte hatte sich 2016 neu über den Nachlass gebeugt und vor dem Hintergrund der anhaltenden Spaltungen in der amerikanischen Gesellschaft entschieden, den alten Text herauszubringen. Alsbald stand er auf den Bestsellerlisten, und tatsächlich kann man dem Buch gar nicht genug Publikum wünschen, denn es handelt in sehr vielen Graustufen von schwarzen und weissen Menschen, von Sklaverei und Rassenfragen.

Illegaler Menschenhandel

Im Zentrum des Buches steht Cudjo Lewis, ein Mann, der in den 1920er Jahren als «letzter Sklave» galt. Lewis ist 1860 von Westafrika nach Alabama verschleppt worden. Laut amerikanischem wie britischem Gesetz war der transatlantische Sklavenhandel zwar seit 1808 untersagt, doch die Durchsetzung des Verbots verlief nicht rigoros, der Sklavenhandel wurde illegal weiterbetrieben: Viele amerikanische Südstaatler wollten nach wie vor neue Arbeitskräfte aus Afrika beziehen, und diverse afrikanische Herrscher hatten jedes Interesse, ihre lukrative Einnahmequelle zu bewahren.

Besonders die Könige von Dahomey (heute Benin) hatten sich auf den Menschenfang spezialisiert und verkauften Angehörige fremder Stämme an die Amerikaner. Diese wiederum schickten ihre Schiffe gezielt an die Küsten, an denen die Sklavengefängnisse («barracoons») standen. Der letzte Schoner, «Clotilda» mit Namen, legte im Frühjahr 1860 in der Nähe von Ouidah an, nahm 110 Männer und Frauen aus dem Stamm der Yoruba mit und wurde beim Eintreffen in Alabama versenkt – nichts sollte von dem faulen Handel zeugen (das Wrack aber wurde 2019 gefunden). Die Afrikaner wurden unter vier Weissen verteilt und blieben in deren Besitz, bis das Ende des Bürgerkriegs 1865 allen Sklaven die Freiheit brachte.

Kurz darauf gründeten viele der vormaligen «Clotilda»-Passagiere eine eigene Gemeinde. Africatown nannten sie die Siedlung in Alabama und verwiesen damit auf ihren wahren Sehnsuchtsort: Die meisten wollten nach der Freilassung zurück übers Meer, konnten sich die Überfahrt aber nicht leisten, und «von dem her machten wir Afrika dort, wo sie uns hingebracht haben», wie Cudjo Lewis sagte. Er, der ursprünglich Kossula hiess, war 1927 der letzte Überlebende aus der Gründergeneration von Africatown.

Dem Boden entrissen

In diesem Jahr erhielt der 86-Jährige Besuch von Zora Neal Hurston. Später vor allem als Autorin bekannt, war Hurston damals als Anthropologin unterwegs. In den 1920er Jahren begannen viele Afroamerikaner ein neues Selbstverständnis zu entwickeln und mit Stolz auf ihre eigene Kultur zu blicken – die es freilich in vielem erst noch zu entdecken galt. Auf verschiedenen Reisen sammelte Hurston Geschichten, registrierte Rituale und Gebräuche, und im Rahmen eines Forschungsprojekts lernte sie Lewis kennen.

Während rund drei Monaten besuchte sie den ehemaligen Sklaven immer wieder; sie gewann sein Vertrauen, stellte ihm manchmal Fragen zum Verlauf seines Lebens, liess ihn aber häufig auch nur reden, schweigen, weinen. Was Lewis erzählte, verarbeitete sie anschliessend zu einem stark mündlich geprägten Text (die deutsche Übersetzung des afroamerikanischen Dialekts ist mässig geglückt) und schuf damit ein Dokument, das seinesgleichen sucht.

Die Herausgeberin des vorzüglich kommentierten Bandes und zum Thema forschende Historiker betonen es gleichermassen: Zeugnisse, die in dieser Breite von der Sklaverei berichten und von der afrikanischen Kindheit über die Gefangennahme durch Dahomey-Krieger bis zum Alltag in Amerika alle Stationen behandeln, sind äusserst selten.

Durch ein einzelnes Schicksal wird hier eine kollektive Erfahrung deutlich: Lewis beschreibt weniger einen langen Weg in die Freiheit als vielmehr eine nie überwundene Entwurzelung. Dem immer wieder beschworenen «Afficky soil» (deutsch: «Afrikaland») wurde er mit 19 Jahren entrissen, in der amerikanischen Kultur kann er trotz äusseren Anpassungen nicht Fuss fassen.

Als 1893 seine Tochter stirbt, bringt Lewis sie zwar auf den Friedhof – «wir waren jetzt Christenleute» –, doch bald eilt er zum Grab und baut einen Zaun darum, um sein Mädchen ein bisschen zu schützen, «sie sah so einsam aus da draussen ganz allein». In Afrika, hat man einige Kapitel zuvor erfahren, ist sein verstorbener Grossvater im Lehmboden seines Familienhauses begraben worden; man habe dort gesagt: «Wir leben mit dir, wenn du lebendig bist, wieso sollen wir nicht mit dir leben, wenn du tot bist?»

«Unzivilisierte Wilde»

Auf der Ebene solch persönlicher Erlebnisse spielt das ganze Buch. Um Politik schert sich Lewis nicht, aber natürlich findet auch die schwarze Ohnmacht in seinen Erzählungen Ausdruck. Nachdem er etwa von einem Zug angefahren wurde, kann Lewis wohl einen Anwalt engagieren und Klage gegen die Eisenbahn einreichen. Die ihm zustehende Entschädigung stecken sich aber andere in die Tasche – die «Gesetze der Weissen» bleiben für den Schwarzen undurchdringlich. Während Lewis dies um die Jahrhundertwende am eigenen Leib erfährt, zementiert der Staat 1896 das Prinzip der Rassensegregation: «Getrennt, aber gleich» lautete nunmehr die heuchlerische Losung für das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiss.

Auch unter den Farbigen aber sind die Beziehungen schwierig. Als spät angekommene Sklaven werden Lewis und die Seinen von in Amerika geborenen Schwarzen geächtet und als «unzivilisierte Wilde» beschimpft. Hört man dazu, wie viele von Lewis’ Dorfgenossen 1860 von afrikanischen Menschenjägern massakriert wurden, wird es schwierig, eine grosse schwarze Gemeinschaft zu beschwören: «Sie fangen Leute, und sie sägen mit dem Messer den Hals ab, so, dann drehen sie den Kopf so, und er geht vom Hals ab. Ogottogott!»

Hurston, die nach den Wurzeln des afrikanischen Volkes suchte, hatte daran «schwer zu schlucken», wie sie in ihrer Autobiografie gestand. Lewis’ Geschichte habe die simplen «Märchen» zerstört, mit denen sie gross geworden sei, und ihr «den universellen Charakter von Habgier und Ruhmsucht» vor Augen geführt, schrieb sie dort.

Auch für uns Heutige ist der schonungslose Bericht nicht leicht zu verdauen. Trotzdem müssen wir ihn als Glücksfall sehen: Die ungeschliffenen Sätze des «letzten Sklaven» können helfen, auch die feinen Mechanismen von Unterdrückungssystemen zu verstehen.

Zora Neal Hurston: Barracoon. Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven. Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring. Penguin-Verlag, München 2020. 225 S., Fr. 19.90.