Ein neuronales Netz weckt Erinnerungen an Kopernikus

Mit künstlicher Intelligenz wollen Forscher eine elegantere Darstellung der Quantentheorie finden. Die Feuertaufe hat das KI-System erfolgreich bestanden.

Christian Speicher
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Über viele Jahrhunderte galt die Erde als Mittelpunkt des Universums. Und das nicht ohne Grund. Der Blick in den Himmel scheint zu bestätigen, dass der Mond, die Sonne und die Planeten um die Erde kreisen. Selbst als Astronomen feststellten, dass manche Planeten sich auf Schleifenbahnen bewegen und kurzzeitig sogar rückwärts laufen, war das Ende des geozentrischen Weltbildes noch nicht gekommen. Lieber postulierte man, dass die Planeten kleine Kreisbahnen um einen Punkt beschreiben, der seinerseits um die Erde kreist. Erst Nikolaus Kopernikus machte diesem Spuk der Epizyklen ein Ende. Im 16. Jahrhundert erkannte er, dass sich die Himmelsmechanik viel natürlicher beschreiben lässt, wenn nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum unseres Sonnensystems steht.

Im Ptolemäischen Weltbild kreisen der Mond, die Planeten und die Sonne um die Erde. Aus Andreas Cellarius Harmonia Macrocosmica, 1660/61.

Im Ptolemäischen Weltbild kreisen der Mond, die Planeten und die Sonne um die Erde. Aus Andreas Cellarius Harmonia Macrocosmica, 1660/61.

PD

Eine Frage der Parameter

Hätten die Astronomen bereits damals Systeme mit künstlicher Intelligenz besessen, hätte sich das heliozentrische Weltbild möglicherweise schneller durchgesetzt. Diesen Schluss legt zumindest eine Untersuchung von Physikern der ETH Zürich nahe. Die Gruppe von Renato Renner fütterte ein neuronales Netz mit Positionsdaten von Mars und Sonne, wie sie ein irdischer Beobachter messen würde. Anschliessend musste das Netz berechnen, wo sich der Mars zu einem späteren Zeitpunkt befindet. Wie die Forscher feststellten, löst das neuronale Netz diese Aufgabe, indem es von selbst zu einer heliozentrischen Darstellung der Daten übergeht.

Interessant an der Arbeit der ETH-Forscher ist, dass sie bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen können, wie das künstliche neuronale Netzwerk die gestellte Aufgabe löst. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise gleichen neuronale Netze einer Blackbox. Wie sie es nach ausgiebigem Training beispielsweise schaffen, das Bild einer Katze von dem eines Hundes zu unterscheiden, bleibt schleierhaft. Das ist schlecht, wenn man aus experimentellen Daten neue wissenschaftliche Erkenntnisse destillieren will.

Das neuronale Netz der ETH-Forscher unterscheidet sich von anderen dadurch, dass es aus zwei Untereinheiten besteht, die in beschränktem Masse miteinander kommunizieren. Man könne das mit zwei Agenten vergleichen, die unabhängig voneinander arbeiteten und nur die wichtigsten Informationen austauschten, erklärt Renner. Der erste Agent macht das, was auch ein Physiker tun würde, der mit einem Wust von neuen Beobachtungsdaten konfrontiert wird. Er versucht, in den Daten eine Systematik zu erkennen und die relevanten Parameter zu identifizieren, durch die man die Daten darstellen kann. Diese Parametrisierung wird dann an den zweiten Agenten weitergereicht, der auf dieser Grundlage Antworten auf konkrete Fragen zu finden versucht – etwa: Wo befindet sich der Mars zu diesem oder zu jenem Zeitpunkt?

In einem mehrstufigen Lernprozess, in dem die Zwischenergebnisse hin und her gereicht werden, nähert sich das System einer Parametrisierung, die auf alle Fragen die richtige Antwort gibt. Da die Forscher verfolgen können, welche Informationen die Agenten austauschen, können sie nachvollziehen, wie das System die Daten intern darstellt. Das neuronale Netz spucke zwar kein fertiges Modell aus, sagt Renner. Es könne einem Physiker aber dabei helfen, das richtige Modell zu entwickeln.

Widersprüchliche Quantenphysik

Dass das neuronale Netz nach dem Training den gleichen Weg einschlägt wie Kopernikus vor 500 Jahren, ist erfreulich. Eigentlich geht es der Gruppe von Renner allerdings um etwas anderes. Renner ist Quantenphysiker. Und als solchem sind ihm Elektronen, Photonen und Atome näher als Planeten und Monde. Seit bald hundert Jahren gibt es mit der Quantenmechanik eine Theorie, die den Mikrokosmos sehr erfolgreich beschreibt. Schwierig wird es allerdings, wenn man mit dieser Theorie komplexe Objekte, etwa Menschen, beschreibt. Wie Renner vor einem Jahr zeigen konnte, ergeben sich Widersprüche, wenn man die Quantenmechanik auf Forscher anwendet, die mit Hilfe dieser Theorie Experimente interpretieren. Für eine Theorie, die den Anspruch erhebe, universell zu sein, sei das ein unhaltbarer Zustand, so Renner.

Muss die Quantenmechanik also durch eine umfassendere Theorie ersetzt werden? Nicht unbedingt, sagt Renner. Es könnte sein, dass der mathematische Kern dieser Theorie durchaus korrekt sei. Möglicherweise ergebe sich das paradoxe Resultat nur deshalb, weil die historisch gewachsene Darstellung dieser Theorie unangemessen für die Beschreibung komplexer Objekte sei. Auch das geozentrische Weltbild sei ja nicht falsch, so Renner. Mit ihm lasse sich die Bewegung der Planeten durchaus berechnen. Im heliozentrischen Weltbild sei das aber viel einfacher. Im gleichen Sinne könnte es eine elegantere Darstellung der Quantentheorie geben, glaubt Renner.

Das Netz soll es richten

Hier kommt nun das neuronale Netz ins Spiel. Von ihm erhoffen sich die Forscher Hinweise, wie eine elegantere Darstellung der Quantentheorie aussehen könnte. Die Situation ist aber ungleich komplizierter als beim Beispiel mit dem Sonnensystem. Denn zum einen weiss man nicht, mit welchen Daten man das neuronale Netz füttern muss, um zu neuen Einsichten bezüglich der Quantenmechanik zu gelangen. Zum anderen sind die Informationen, die die Agenten austauschen, viel schwieriger zu interpretieren. Denn im Unterschied zur Himmelsmechanik ist unbekannt, wie eine elegantere Darstellung der Quantentheorie aussehen könnte.

Um weiterzukommen, hat sich Renner mit Hans Briegel von der Universität Innsbruck zusammengetan. Gemeinsam mit dem Wiener Quantenphysiker Anton Zeilinger hat Briegel kürzlich ein Computerprogramm vorgestellt, das eigenständig quantenphysikalische Experimente entwirft. Wie die Forscher zeigen konnten, ist das Programm der menschlichen Intuition überlegen, wenn es um das «Ausdenken» komplexer Experimente mit vielen Teilchen geht.

Renner schwebt vor, dass ein Agenten-basiertes neuronales Netz in Zukunft selbst entscheidet, welche Messungen am besten geeignet sind, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Er dämpft allerdings übertriebene Erwartungen. Selbst wenn es eine elegantere Darstellung der Quantentheorie geben sollte, sei man derzeit noch weit davon entfernt, diese zu finden.

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