Interview

«Ich will, dass wir Ungläubige sind!» – Gabor Steingart über das Versagen des Journalismus und dessen Zukunft

Der profilierte Journalist und Buchautor Gabor Steingart plädiert im NZZ-Interview für mehr Mitsprache der Leser und mehr Unabhängigkeit von der Werbewirtschaft.

Martin Beglinger, Marc Tribelhorn
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Die Zentrale von Media Pioneer ist im Parterre eines prächtigen Jugendstil-Reihenhauses in der Nähe des Berliner Kurfürstendamms einquartiert. Von hier aus verbreitet Gabor Steingart «100 Prozent Journalismus, keine Märchen». So heisst es jedenfalls im Schaufenster seines Startups, das er im Juni 2018 gegründet hat. Zunächst 20 Jahre lang beim «Spiegel», später Chefredaktor und Herausgeber des «Handelsblattes», zählt der 57-jährige Steingart zu den profilierten Stimmen im deutschen Journalismus. Er ist allein schon deshalb eine Ausnahmeerscheinung, weil er – kein Märchen – jeden Morgen (ausser Sonntag) um 5 Uhr 20 in der Redaktion steht, um seinem «Morning Briefing» den letzten Schliff zu verpassen. Um 7 Uhr 30 Uhr wird dann seine so elegant wie scharfsinnig formulierte morgendliche Weltschau an rund 140 000 Leserinnen und Leser verschickt – vorläufig kostenlos. Sein gleichnamiger Podcast erreicht pro Woche fast 600 000 Hörer.

Unterstützt wird Steingart von gut zwei Dutzend Journalistinnen und Journalisten, die in Berlin an grossen Bürotischen und in Fauteuils vor Bildschirmen und Laptops sitzen, im Laufe dieses Jahres sollen mindestens nochmals zwanzig Leute hinzukommen. Im Vergleich zum Branchendurchschnitt herrscht hier eine geradezu ansteckend gute Laune. Der Konferenztisch wird gerade von der dreiköpfigen Crew belegt, die ab Mai die «Pioneer One», Steingarts neues Medienschiff, auf der Spree durch das Berliner Regierungsviertel steuern wird – als «schwimmende Bühne für unabhängigen Qualitätsjournalismus», wie es Steingart bewirbt. Mit an Bord ist auch der gewichtige Axel-Springer-Verlag, der einen Anteil von 36 Prozent an Media Pioneer hält.

«Grün wählen, aber abends ‹fine dining›»: Gabor Steingart über seine Berufskollegen.

«Grün wählen, aber abends ‹fine dining›»: Gabor Steingart über seine Berufskollegen.

Thies Raetzke / Laif

Herr Steingart, wir sitzen hier am Küchentisch Ihrer Redaktion, vor Ihnen liegt eine Ausgabe der NZZ, es ist die einzige gedruckte Zeitung, die wir hier entdeckt haben.

Die liegt Ihnen zuliebe hier, ich gehöre zu Ihren Stammlesern. In der Regel aber digital.

Ihr eigenes Medium hat kürzlich den ersten Geburtstag gefeiert, die NZZ wird 240 Jahre alt. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Das ist natürlich eine grosse Historie, doch sie bietet keine Garantie fürs Überleben. Aus der Tradition ergibt sich heute gar nichts. Manchmal ist sie auch nur ein Problem und Erfahrungsschatz ein anderes Wort für Sondermüll.

Das fängt ja schön an.

Ein brutaler Satz, ich weiss. Aber der vermeintliche Erfahrungsschatz macht viele blind für das Notwendige, nicht nur in Bezug auf Medien.

Wollen Sie behaupten, Traditionsblätter seien reformunfähig?

Das grosse Erbe belastet unsere Branche. Alles ist so schwer und so nostalgisch. Die flinken Neueinsteiger aus den USA haben sich freigemacht von all den Dingen wie Papier, Logistikketten, Haptik. Wir müssen uns erst davon locker machen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Bis der letzte Traditionsleser stirbt. Wenn jemand sagt, er lese gern auf Papier, ist das keine Meinungsäusserung, sondern eine Altersangabe.

Sie kommen aus der alten Medienwelt, keine Nostalgie nach früheren «Spiegel»-Zeiten?

Die verkneife ich mir. Nostalgie ist zwar ein netter menschlicher Zug, aber kein Geschäftsmodell.

Haben Sie nie bedauert, dass Sie nicht Chefredaktor des «Spiegels» geworden sind?

Klar habe ich das bedauert; aber eine Selbstkrönung war ja nicht vorgesehen. Natürlich habe ich auch Reminiszenzen an diese Zeit, als mir der damalige Chefredaktor Stefan Aust, der möglichst rasch eine Titelgeschichte über Daimler haben wollte, sagte: Nehmen Sie sich ein Privatflugzeug, und fliegen Sie zu Daimler-Chef Schrempp. Eine Stunde später sind wir gestartet. Einen anderen Kollegen haben wir aus St. Moritz eingeflogen. Das war pure Geldverschwendung, aber auch eine cowboymässig grosse Zeit, als wir «Spiegel»-Menschen noch die Könige waren und nicht die Knechte von Werbewirtschaft und Auflagenschwund. Solche Erinnerungen gehören zu einem weinseligen Abend am Jahresende, aber nicht in ein Meeting und auch nicht jeden Tag in die Kantine.

Ein Satz, der oft zitiert wird, stammt von «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein: «Schreiben, was ist.» Wie steht es denn darum?

Dieser Satz steht ja gross in der Lobby des «Spiegels», als Ermahnung. Der Satz wird so hochgehalten, dass viele nicht mehr drankommen, nicht nur beim «Spiegel».

Woran krankt der Journalismus?

Viele Journalisten haben Neugier durch Haltung ersetzt. Diese Transformation war nicht vorgesehen, sie hat auch nichts mit dem Internet zu tun. Unsere Aufgabe ist Neugier, auf Fehler zu gucken. Aber dass jetzt Haltung zu unserem Hauptanliegen werden soll und wir nicht über Klimaschutz berichten, sondern ihn einfordern und Journalisten sich als Aktivisten verstehen, das halte ich für falsch.

Wie ist das gekommen?

Ich weiss nicht so recht. Natürlich braucht es Haltung, geschenkt. Jeder soll in Kommentaren seine Meinung schreiben dürfen, aber dass ganze Redaktionen zu NGO werden, die Lobbying für lauter gute Dinge betreiben – eine humane Welt, Tierschutz, weniger CO2, das ist einfach nicht unser Job.

Den Impetus der Weltverbesserung hat es doch schon früher gegeben, gerade auch beim «Spiegel».

Rudolf Augstein hat mal gesagt, er kenne keinen guten Journalisten, der nicht auch die Welt verbessern möchte. Aber es geht um die Reihenfolge.

Ist es vor allem ein deutsches Problem?

Nein. Ich habe das als Korrespondent während der Bush- und Obama-Jahre auch in Amerika erlebt, wo Fox News den Konkurrenten CNN erst angegriffen und dann abgehängt hat und heute in der Primetime mindestens doppelt so viele Leute erreicht. Auch die Redaktionen der Medien sind ein Teil der verschärften Polarisierung der Gesellschaft.

Neugier durch Haltung zu ersetzen, ist also keine Frage von links oder rechts?

Auf keinen Fall. So oder so: Ich will, dass wir Ungläubige und Unerschrockene sind!

Sie werben mit dem Claim: «100 Prozent Journalismus, keine Märchen.» Erzählen die andern Medien Märchen?

In unserem Gewerbe sind auch Märchenerzähler unterwegs. Im Fall Claas Relotius verstand sich ein Reporter des «Spiegels» als Belletrist, darauf bezieht sich der Claim.

In der Bevölkerung wird mindestens so häufig kritisiert, dass die Medien bestimmte gesellschaftliche Milieus gar nicht mehr abbildeten, weil die Journalisten alle aus der gleichen Bubble stammten. Zu Recht?

Ja. Alle kommen aus denselben Klöstern. Zumindest vom Ressortleiter an aufwärts wohnen alle in denselben Stadtteilen. Altbau, Stuckdecke, SUV, wenn möglich mit Hybridantrieb. Grün wählen, aber abends «fine dining». Wir sind uns alle viel zu ähnlich.

Wie überwindet man die Milieublindheit der Journalisten?

Indem man sie erst einmal erkennt anstatt negiert. Und nicht immer die gleichen alten Kumpels aus der Journalistenschule rekrutiert.

Reicht das aus?

Es braucht mehr Partizipation. Die Leser sind vielen Journalisten lästig, sobald sie mitreden wollen. Niemand analysiert wirklich, warum unsere Leser vieles so ganz anders sehen und welche Fragen sie wirklich beschäftigen. Der Leser hat kein Stimmrecht. Mir imponiert aus den USA, dass nicht nur Politiker gewählt werden, sondern auch Polizeiobersten oder Geschworene an Gerichten.

Sollten auch Chefredaktoren gewählt werden?

Ja, und zwar von der Leserschaft, nicht vom Aufsichtsrat.

Haben Sie das hier schon eingeführt?

Ich weiss nicht, ob wir jetzt gleich die ganze Welt retten sollen.

Also nein.

Nicht direkt, nicht sofort, aber ich kann mir das vorstellen. Bei Traditionszeitungen könnte das noch besser funktionieren, wo die Leser die Redaktoren seit Jahren kennen.

Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie, damit die Leser und Hörer zu mehr Rechten kommen?

Wir denken darüber nach, wie wir ihnen einen Expertenstatus geben könnten. Jemand, der sich zum Beispiel bei Daimler oder bei Bosch mit Elektromobilität beschäftigt, weiss in Wahrheit unendlich viel mehr darüber als ein Redaktor, der sich seit zwei Jahren mit dem Thema Automobil beschäftigt – oder aber seit 30 Jahren, weshalb er mit den Verbrennerjungs besonders dick verbandelt ist.

Kann der Technikexperte auch so schreiben, dass es die Leser verstehen?

Besser, als wir denken. Beim «Handelsblatt» habe ich die Redaktion mit dem Satz provoziert: «Wir müssen von der für uns sehr schmerzhaften Tatsache ausgehen, dass unsere Leser nicht dümmer sind als wir.» Gerade in einem bürgerlichen Medium wie Ihrem kennen sich die Leute aus.

Das bezweifeln wir auch nicht. Unser Punkt ist: Interviews mit Experten, die mehr wissen als wir, zählen zu den klassischen Formaten im Journalismus.

Das ist eine gute Möglichkeit. Aber der Experte kann auch selber schreiben oder ein Thema anregen. Manchmal rufen mich Unternehmer nach einer Sendung an und sagen, dass sie dies oder das ganz anders sehen. Dann lade ich sie ein. Journalismus für die Mitte der Gesellschaft, und das als dialogisches Verfahren. Darum geht es mir.

Sollen Journalisten künftig vor allem als Kuratoren funktionieren?

Sie sollen sich demokratisieren, ihr religiöses Kastendenken ablegen. Natürlich schreiben sie weiterhin, aber nicht allein. Journalisten sind nicht der Ersatz des Pfarrers. Der Leser soll ein Mitspracherecht bekommen – wie die Kinder am Familientisch. Wie in einer Partei. Wie in jedem Verein.

Soll man auch ein Mitspracherecht haben, obwohl man nicht einmal etwas für das Produkt bezahlt wie bei Ihnen?

Wir werden ja nicht auf Dauer kostenlos bleiben. Unser Angebot ist erst im Aufbau begriffen, das Medienschiff kommt, mit den Veranstaltungen dort wird es Ausgangspunkt einer medialen Wertschöpfungskette sein. Auf dem Schiff finden Gespräche statt, daraus wird ein Podcast, ein Streaming, ein Artikel, ich kann es nur hören oder auch dabei sein, aber sicher steht irgendwann auch ein Preisschild dran.

Geht Ihr Geschäftsmodell Richtung Community-Building?

Ich bin noch gar nicht beim Geschäftsmodell. Das ist nicht der erste Anker, sonst wäre ich Kaufmann geworden und nicht Journalist.

Sie sagen doch selber, die Finanzierung müsse sichergestellt sein.

Aber erst mal mache ich ein attraktives Angebot für Leserinnen und Leser, dann entwickelt sich daraus ein Modell.

Das Problem ist nur, dass die Medienhäuser vor über zwanzig Jahren damit begannen, redaktionelle Inhalte gratis zur Verfügung zu stellen. Bis heute sucht man ein Geschäftsmodell.

Das war die Ursünde der damaligen Verleger, die das Internet nicht verstanden, sondern es nur als Marketingkanal sahen. Ich kenne aber auch innovative Unternehmen, die ein funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt haben, zum Beispiel Netflix.

Sie sehen Inserate als einen Verrat an der eigenen Unabhängigkeit. Machen Sie aus der Not eine Tugend? Die Inserate in Zeitungen werden ja ohnehin immer weniger.

Wir könnten problemlos Anzeigen haben. Wollen wir aber nicht. Wir geben unsere Nutzer nicht in die Vermarktung. Ich finde es entwürdigend, wenn in Podcasts Journalisten Werbung verlesen.

Was ist daran so verwerflich?

Es konterkariert die Unabhängigkeit komplett. Einerseits behaupten wir, kritisch über die Autoindustrie zu schreiben. Andererseits wirbt der Chefredaktor am nächsten Tag beim Businesslunch mit Firmen dafür, dass sie Anzeigen schalten. Dieses Modell stammt aus einer anderen Zeit, wie die Grossspenden der Parteien. In den USA verzichten alle progressiven Kandidaten auf Geld der Wirtschaftslobbys. Sie nehmen zwar Geld, aber nur von ihren Wählern. «Small money», das in Summe aber sehr viel sein kann.

Ihr Modell für Journalismus?

Wir kommen aus dieser Finanzierung: 50 Prozent Leser, 50 Prozent Inserate. Das ist ein alter Zopf, der wegmuss. Es täte unserer Glaubwürdigkeit sehr gut, die Leser sind nicht blind.

Sie propagieren ein Reinheitsgebot, das schwer umzusetzen ist.

Fast alle anderen Branchen haben sich diesem Reinheitsgebot verpflichtet. Den teuren Kaffee bei Starbucks zahle ich auch, und er ist nicht von Bayer gesponsert. Die Leser der NZZ oder des «Spiegels» sind keine armen Schlucker. Es kann doch nicht sein, dass wichtige ökonomische Akteure über Wohl und Wehe einer Redaktion entscheiden.

Sie sind ein Purist.

Überhaupt nicht. Diese Abhängigkeit muss nicht sofort und radikal gekappt werden, gerade nicht bei Traditionshäusern. Als Geschäftsführer beim «Handelsblatt» setzte ich kein absolutes Werbeverbot durch, sondern nur klare Richtlinien. Aber ich halte es mit Hans-Dietrich Genscher: Fordern, was kommt!

Was macht Sie so sicher, dass die Leser auch wirklich den Preis für guten Journalismus zahlen werden?

Nichts. Es ist eine Wette auf die Zukunft, wie in einer Partnerschaft. Wenn der Leser nicht bereit ist, den Preis des Produkts zu bezahlen, haben wir ein Problem in unserer Beziehung.

Sie sterben also lieber in Reinheit. «Kurt Tucholsky wäre auch nicht als Anzeigenverkäufer zu Daimler gegangen», sagten Sie einmal.

Das klingt mir zu verzagt. Wir stehen am Anfang einer neuen journalistischen Welt. Da denkt man nicht schon ans Scheitern.

Was halten Sie von einer staatlichen Unterstützung der privaten Medien, falls es auf dem freien Markt nicht klappen sollte?

Das könnte ein gangbarer Weg für Kommunalzeitungen sein in Gebieten, wo nur wenige Leute wohnen, oder für Bürgerradios. Aber auf keinen Fall für die «FAZ», den «Spiegel», die NZZ, die Flaggschiffe des Journalismus! Die öffentlichrechtlichen Medien haben ja keine Sorgen wegen Werbekunden. Ihr Problem kommt von einer ganz anderen Seite eingeflogen – der Politik, die in den Aufsichtsgremien gemacht wird, von der Kirche bis zu den politischen Parteien.

Im März erscheint Ihr neues Buch mit dem Titel «Die unbequeme Wahrheit». Worin besteht diese für die Medien?

Darin, dass die breite Masse selbst Qualitätsmedien als parteiische und gekaufte Zeitungen empfindet. Auch sind viele Journalisten zu wenig kritisch, zu brav. Sie fürchten die Auseinandersetzung, die spielerische Provokation. Vielen saust ja schon der Frack, wenn sie von Kollegen einen eingeschenkt bekommen – und erst recht von den Lesern. Die Harmlosigkeit ist leider auch ein Kriechgas im Journalismus.

War das früher besser?

Mit historischen Vergleichen bin ich vorsichtig. Neulich las ich, dass der grosse Karl Kraus mit seiner Zeitung «Fackel» am Schluss noch 120 Abonnemente hatte (lacht). Wichtig ist der Gegenwartsbefund: Es gibt heute mehr PR denn je, da müssen wir mit klugem und sauberem Journalismus Gegensteuer geben. Ich glaube, dass die Leser weiter sind als wir. Die wollen hundert Prozent Unabhängigkeit.

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