Diese schrecklichen Bilder – wie ein junger Italiener unsere Sicht auf das Coronavirus verändert hat

Fotos von nächtlichen Leichentransporten in Bergamo haben Mitte März für einen weltweiten Schock gesorgt. Die Bilder markieren eine Zäsur in der Corona-Krise, ihre Deutung ist allerdings umstritten.

Lucien Scherrer, Bergamo
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Sie wurden zum Symbol der Corona-Krise: Italienische Militärlastwagen, die Särge abtransportieren – hier ein Bild vom 26. März.

Sie wurden zum Symbol der Corona-Krise: Italienische Militärlastwagen, die Särge abtransportieren – hier ein Bild vom 26. März.

Emanuele Cremaschi / Getty

Die Nacht ist bereits angebrochen, als sich vor dem Zentralfriedhof in Bergamo ein seltsamer Autokorso in Bewegung setzt. Dreizehn Militärlastwagen passieren die unbeleuchtete, von Zypressen gesäumte Via Ernesto Pirovano, dann biegen sie auf die Via Borgo Palazzo ein, wo ein Streifenwagen der Carabinieri den Verkehr aufhält.

Durch den ungewöhnlichen Lärm neugierig geworden, steht Emanuele di Terlizzi auf dem Balkon seiner Wohnung im dritten Stock, richtet seine Handy-Kamera auf die Lastwagen und weiss noch nicht, dass er gerade das Bild seines Lebens knipsen wird.

Es ist der 18. März 2020 – der Tag, an dem der Name Coronavirus jenen bedrohlichen Beiklang erhält, der bis heute nachwirkt. Denn inzwischen weiss fast jeder, was die Lastwagen damals transportiert haben: Särge mit Corona-Toten, die in andere Städte abtransportiert werden mussten, weil das Krematorium in Bergamo überlastet war.

Die Fotos und Videos des nächtlichen Beerdigungszuges gehen am Morgen des 19. März um die ganze Welt, das Echo ist gewaltig. «Schockierende Bilder aus Italien», titelt die deutsche «Bild»-Zeitung, «dramatische Warnung aus Italien» die «Morgenpost», dazu immer wieder di Terlizzis Bild der Via Borgo Palazzo, egal ob auf BBC, im «Edmonton Journal» oder bei «Free Malaysia today».

«Symbolbild des Todes»: Mit diesem Schnappschuss hat der Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi ein weltweites Echo ausgelöst.

«Symbolbild des Todes»: Mit diesem Schnappschuss hat der Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi ein weltweites Echo ausgelöst.

Emanuele di Terlizzi via EPA

In Italien überbieten sich Journalisten und Politiker mit Kriegsmetaphern und Betroffenheitsgesten. «Herzzerreissend», schreibt Matteo Salvini, «schreckliche Bilder», twittert Silvio Berlusconi, und Roby Facchinetti, der Frontmann der Ital0-Kultband I Pooh, dichtet nach einem frühmorgendlichen Schock über «dieses Foto» gleich einen Song. «Rinascerò, rinascerai» heisst er, ich werde wiedergeboren, du wirst wiedergeboren. Bis heute ist er auf Youtube über 15 Millionen Mal angeklickt worden.

Am Anfang war ein Missverständnis

«Es war, als würde man eine Bombe in ein ruhiges Dorf werfen», sagt Emanuele di Terlizzi heute, «was seither passiert ist, ist schon verrückt.» Der 28-jährige Flugbegleiter sitzt am Stubentisch seiner Wohnung an der Via Borgo Palazzo, durch die Balkontüre scheint die Sonne herein, und die mittlerweile weltbekannte Aussicht vom Balkon stimmt an diesem Maitag mehr optimistisch als depressiv.

An der Esso-Tankstelle gegenüber stehen schwatzende Männer mit Mundschutz, Passanten stehen für eine Piadina an, die Balkone der Häuser sind mit italienischen Flaggen, Herzchenfahnen und Botschaften wie «andrà tutto bene» geschmückt.

Da Flüge seit Anfang März eingestellt sind, bleibt dem Flugbegleiter di Terlizzi seit Wochen nichts anderes übrig, als zu warten, Kaffee zu trinken und Anfragen von italienischen Journalisten zu beantworten, die ihm, dem Schöpfer des «Symbolbilds des Todes» («Il Messaggero»), immer wieder Interview-Anfragen schicken.

Denn der gebürtige Neapolitaner hat zwar beileibe nicht die einzigen Bilder der Leichentransporte gemacht, mittlerweile gibt es Dutzende davon. Aber es ist eines der ersten, meistverbreiteten und verstörendsten Bilder, dessen Wirkung durch die nächtliche Düsternis noch verstärkt wird.

Dabei dachte di Terlizzi zuerst, der Konvoi helfe beim Aufbau eines provisorischen Spitals in Mailand. Doch nachdem er das Bild mit einer aufmunternden Botschaft auf Instagram gepostet hatte, belehrten ihn Kollegen umgehend eines Besseren. Noch am selben Abend teilte einer von ihnen den Schnappschuss in einem Forum mit über 2500 Mitgliedern.

Seither führt die nächtliche Strassenszene im Internet ein Eigenleben, als Teil jener «Bilder von Bergamo», auf die Politiker, Wissenschafter und Journalisten immer wieder verweisen, um an die Gefährlichkeit des Coronavirus zu erinnern.

Mittlerweile gelten die Lastwagen- und Sargbilder als Zäsur in der Corona-Krise, deren Wirkung nicht zu unterschätzen ist. «Man sollte die Situation in Italien nicht auf die Bilder aus Bergamo reduzieren», sagt Daniel Koch, der Corona-Delegierte des Bundesamtes für Gesundheit, aber: «Die Bilder aus Italien haben sicher stark dazu beigetragen, das Problem im Bewusstsein der Bevölkerung in Europa zu verankern.»

Tatsächlich gingen die makabren Strassenszenen aus Bergamo zu einem Zeitpunkt um die Welt, als viele Regierungen bereits drastische Massnahmen beschlossen hatten (darunter auch die schweizerische), die sich aber in der Wahrnehmung weiter Teile der Bevölkerung gegen eine noch sehr diffuse Gefahr richteten.

Selbst in Norditalien, das die Regierung am 8. März zur Sperrzone erklärt hatte, waren «Corona» und «Covid-19» noch keine Begriffe, die man automatisch mit Tod und Verderben assoziierte. Emanuele di Terlizzi drückt es so aus: Bis zu jenem Abend am 18. März habe er geglaubt, dass das Coronavirus eine Stronzata der Medien sei, ein aufgebauschter Blödsinn wie seinerzeit die Schweinegrippe.

Erst danach habe er das Virus in seiner ganzen, schrecklichen Wirkung erkannt. Und so wie ihm sei es vielen ergangen: «Freunde, Bekannte, aber auch Fremde haben mir von überall her geschrieben, aus Spanien, aus den Philippinen oder aus England», erzählt er, «ein spanischer Fernsehsender wollte die Bilder unbedingt haben, damit die Leute das Ganze endlich ernst nähmen.»

Dass sich um die «Schreckensbilder aus Bergamo» verschiedene Theorien ranken, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich. Eine davon lautet, Medien, Politiker oder nicht näher genannte Interessengruppen hätten die Bilder absichtlich dramatisiert, um die Leute gefügig zu machen für alle möglichen Krisenmassnahmen, von der Maskenpflicht bis zu kollektiven Ausgangssperren, die in Frankreich just einen Tag vor dem ersten Einsatz der Militärcamions in Bergamo in Kraft getreten sind.

Padre Marco hat die BBC am Telefon

Bei allem verschwörungstheoretischen Gedröhn, das hier mitschwingt: Völlig haltlos ist es nicht, von einer Dramatisierung zu sprechen, selbst wenn die Situation in Bergamo Mitte März nachweislich chaotisch und äusserst bedrohlich war. Kaum jemand weiss das besser als Padre Marco – ein Kapuzinermönch, der den Verstorbenen auf dem Zentralfriedhof das letzte Geleit gibt.

Kahlköpfig und von schlanker Gestalt, erinnert er ein wenig an den Schweizer Krisenmanager Daniel Koch. Nur trägt er eine Gesichtsmaske und eine Soutane. «Sehen Sie hier», sagt er, während er im Sitzungsraum der Friedhofskirche in einer vollgekritzelten Agenda blättert, «am 3. März gab es nur wenige Tote, am 4. März ebenfalls, aber dann . . .»

132 Särge stapelten sich Mitte März in der Friedhofskirche, wobei Padre Marco und sein fratello Mario oft nicht einmal wussten, wer die Toten waren. Abschied konnten die Angehörigen nicht nehmen, und anders als üblich sollten die meisten Verstorbenen kremiert werden; in normalen Zeiten sind es nur 48 Prozent. «Das war einfacher und auch viel weniger gefährlich», sagt Padre Marco, «eine behördliche Anweisung dazu gab es jedoch nicht.»

Sicher ist, dass diese Praxisänderung die Bildung der berüchtigten Lastwagenstaus von Bergamo begünstigt hat. Hinzu kommt, dass auch in Italien längst nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermassen bedroht waren – was die mediale Kriegsrhetorik im Nachhinein reichlich schrill erscheinen lässt. So war in der «Repubblica» nach den Leichentransporten von «Gefallenen» die Rede, die den «Kampf von Haus zu Haus» verloren hätten.

Ob diese mediale Dramatisierung ausreicht, um auf einen vorsätzlichen, systematischen Missbrauch der «Bilder von Bergamo» zu schliessen, ist eine andere Frage. Die italienischen Behörden und Militärs zumindest scheinen nicht darauf erpicht gewesen zu sein, jene hässlichen Bilder entstehen zu lassen, die heute mit der Stadt Bergamo assoziiert werden.

Padre Marco vermutet, es sei ihnen bei den ersten Leichentransporten mehr um Vertuschung gegangen: «Sie haben extra gewartet, bis es dunkel ist, damit die Leute nicht so viel sehen, aber da haben sie sich getäuscht, wie Sie ja wissen», sagt er, «am nächsten Tag hat hier dauernd das Telefon geklingelt, sogar die BBC war dran.»

Die Bilder der Lastwagenkarawane, so ist der Kapuzinermönch überzeugt, hätten der Welt endlich die Augen geöffnet. Ein einziges Bild, das zeigt gerade das Beispiel von Emanuele di Terlizzi, kann auf der ganzen Welt Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgefühle wecken, und sei es nur für einen kurzen Moment.

Reich ist der 28-Jährige mit seinem Beitrag nicht geworden, denn seit ein Kollege sein Bild am 18. März ungefragt weiterverbreitet hat, ist es zwar überall auf der Welt publiziert worden. Aber ob er damit einverstanden sei, hat di Terlizzi bisher kaum jemand gefragt, und Geld hat er sowieso keines erhalten.

Stattdessen verwenden Journalisten sein Werk ohne Quellenangabe, manche schreiben «Screenshot» oder verweisen auf die Agentur EPA, die das Bild irrtümlich einem Journalisten aus Bergamo zuschreibt. Doch der nonchalante Umgang mit seinen Urheberrechten ist für den jungen Steward jetzt eher Nebensache.

Zurzeit beschäftigen ihn ganz andere Fragen. Zum Beispiel, ob die einst berühmte Pizzeria vis-à-vis seines Hauses die Krise überleben wird. Oder wie man mit einem reduzierten Monatslohn durchkommt, wenn die eigene Wohnung immer noch gleich viel kostet. Und vor allem: Wie steht es um die Zukunft der Flugbranche, die derzeit vor immensen Problemen steht?