«Ab jetzt bin ich eine Frau»

«Ab jetzt bin ich eine Frau»

Vierzig Jahre lang war Christian Hug ein Mann. Dann wurde aus dem Ehemann, Vater und Oberstleutnant der Panzertruppen eine Frau. Und aus der Ehefrau eine Suchende.

Von Martin Beglinger (Text) und Karin Hofer (Bilder)
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Das Buch liegt auf dem Stubentisch, das Papier ist in Hochglanz, auf der Frontseite prangt ein Bild des Paares: links Tanja Hug, strahlend, in einem weissen Brautkleid; rechts Christian Hug, strahlend, in der historischen Uniform eines Schweizer Kavallerie-Hauptmanns anno 1926. Am 2. August 2008 haben sie geheiratet, ein schönes und glückliches Paar, wie die beiden heute noch finden, wenn sie ihr Hochzeitsalbum betrachten. Bald einmal zwölf Jahre ist das nun her.

Draussen bläst ein giftiger Wind um ihr Haus und die frisch verschneiten Hügel von Tscheppach, einem 140-Seelen-Dorf, zehn Kilometer ausserhalb von Solothurn. Das Ehepaar Hug sitzt in der Stube, links Tanja, rechts Christine – nicht mehr Christian. Aus Tanjas Ehemann ist eine Frau geworden. Am Ende unseres langen Besuches wird Tanja sagen: «Vorher lag ich nachts neben einem Mann, jetzt liege ich neben einer Frau. Und neben dem Körper einer Frau. Excusez, mängisch bin i halt fadegraad, aber ich vermisse meinen Ehemann!»

Tscheppach, ein 140-Seelen-Dorf im Kanton Solothurn und Wohnort der Familie Hug.

Tscheppach, ein 140-Seelen-Dorf im Kanton Solothurn und Wohnort der Familie Hug.

In den zwölf Jahren dazwischen liegt eine Geschichte über die Suche nach sich selber; eine Geschichte über Mut, radikales Umdenken und tiefste Verzweiflung; über Toleranz und ihre Grenzen – und ein Lehrstück über den bemerkenswert offenen Umgang damit.

«Früher haben wir beide einen Panzer vor uns hergeschoben. Bei Christian wäre nicht mehr als ein ‹Hmm› herausgekommen, wenn es um so Privates ging. Und ich war zu emotional. Ein Gespräch wie dieses wäre undenkbar gewesen. Das war ein langer und oft schmerzhafter Prozess, bis wir wirklich darüber reden konnten, nur schon unter uns. Ist ja schön und recht, wenn ich in diesen Transgender-Blättchen, die bei uns ins Haus geflattert sind, lese, wie wichtig die Toleranz der Angehörigen ist und wie das Umfeld ein offenes Herz haben soll. Aber am Schluss bin ich auch nur ein Mensch», sagt Tanja.

«Das ist so, ich kann dich absolut verstehen», antwortet Christine mit ihrer sanften Stimme und streicht sich eine ihrer dünnen, schulterlangen Locken aus dem Gesicht. Christine Hug, Jahrgang 1980, ist Oberstleutnant im Generalstab und Kommandant eines Panzerbataillons, doch im Moment erholt sie sich gerade von derjenigen Operation, durch die sie endgültig zur Frau geworden ist.

Es funkt im sowjetischen Panzer

Für Tanja, 49, beginnt diese Geschichte im Sommer 2004. Zu jener Zeit arbeitet sie als Direktionsassistentin bei der Swissport in Kloten, sie hat einen tollen Job und wieder ein schönes Leben, die Scheidung von ihrem ersten Ehemann hat sie verwunden. In der Freizeit ist Tanja aktive Springreiterin, sie mag es, wenn etwas läuft, und ist deshalb auch sofort dabei, als ihre Freundin einen Besuch im Schweizerischen Militärmuseum im aargauischen Full-Reuenthal vorschlägt. Dort kann man auch alte Panzer fahren. Der Mann, der ihr gerne das Innenleben eines sowjetischen T-55 näherbringt, heisst Christian Hug. Bei den stundenlangen Gesprächen im Panzer funkt es zwischen den beiden. Am darauffolgenden Wochenende reiten die beiden gemeinsam aus, und bald darauf zieht er bei ihr zu Hause ein.

Tanja (links) und Christine Hug blättern zu Hause einen Katalog mit Frauenmode durch.

Tanja (links) und Christine Hug blättern zu Hause einen Katalog mit Frauenmode durch.

«Ich dachte, mit der Heirat würde es dann endlich aufhören», erzählt Christine und schenkt Kaffee am Stubentisch nach. Aber das tut «es» nicht und wird «es» auch dann nicht, als 2009 Julia, die gemeinsame Tochter des Ehepaars Hug, auf die Welt kommt.

Dieses «es» macht sich für Christian spätestens in der ersten Primarklasse bemerkbar. Chrisli – so nennen ihn seine Eltern schon als Kind und auch dann noch, als ihr Sohn längstens ein Panzerbataillon befehligt –, Chrisli hat ebenso viele Mädchen als Gspäändli wie Buben. Er kann nicht verstehen, was die anderen Buben im Primarschulalter daran so schrecklich finden. Auch in der Pubertät kann Chrisli «nichts mit dem Männlichen anfangen». Fussball in der Pause? Furchtbar. Stattdessen schon damals der immer wieder aufkeimende Gedanke, wie es denn wäre, als Frau zu leben. «Bereits als Kind habe ich mich gefragt, ob ich nicht den Geist vom Körper abkoppeln könne», erinnert sich Christine, «doch das habe ich rasch wieder verdrängt.» Als Schüler schnappt er auf, dass es im Freundeskreis seines Vaters jemanden gebe, der vom Mann zur Frau geworden sei, was als vollkommen abwegig aufgenommen wird. «Von da an habe ich diese Vorstellungen in den Bereich des Abartigen verbannt. Ich schämte mich für meine Gedanken, das hat es nicht einfacher gemacht», sagt Christine.

Was «es» genau ist, weiss er noch immer nicht. Er wagt mit niemandem darüber zu reden, nicht mit seinem Bruder und noch weniger mit seinen Eltern. Erst mit dem Aufkommen des Internets kann er die Transwelt langsam anonym erkunden. Christian hofft weiterhin, alles werde sich legen, sobald er eine Freundin habe. Die erste findet er mit 20, aber auch diese kurze Erfahrung ändert nichts am Gefühl, er stecke in einem fremden Körper. Mehrmals steht Christian kurz davor, «den Schritt zur Frau zu machen» – und drückt sein Verlangen doch wieder weg.

Chrisli in der Testosterontruppe

Was dem jungen Mann hingegen Halt gibt, ihn auch ablenkt und auf andere Gedanken bringt: die Armee. Das ist kein Zufall, denn das Militär ist sehr präsent im Hause Hug. Bis 1994 ist Christians Vater neun Jahre lang Chef der Stadtzürcher Kriminalpolizei, dann wird Thomas Hug Erster Staatsanwalt im Kanton Basel-Stadt, zugleich ist er Milizoberst und Gründer des Militär- und Festungsmuseums Full-Reuenthal. Auch sein Sohn hilft regelmässig mit beim Aufbau des Museums und bei Führungen. Mit 20 rückt Christian Hug in die Panzer-RS ein, wird Offizier, macht die Kavallerie zu seinem Hobby und studiert Militärgeschichte, wo er seine Masterarbeit über Beschaffung und Einsatz der Schweizer Kampfpanzer in den 1950er und 1960er Jahren schreibt. Das Militärische zieht ihn derart an, dass er 2009 sogar Berufsoffizier wird.

Frau Oberstleutnant Hug in ihrem Schützenpanzer während einer WK-Übung im Kanton Thurgau.

Frau Oberstleutnant Hug in ihrem Schützenpanzer während einer WK-Übung im Kanton Thurgau.

Seither hat Christine Hug ihr halbes Leben im «Leopard» verbracht und unter Leuten, denen das Image einer Testosterontruppe anhängt. «Dieses Image ist nicht nur falsch. Aber ich selber habe immer einen grossen Bogen um alles Machohafte in der Armee gemacht. Mich interessiert das Technische, Fachliche und Historische an der Panzerei. Und der direkte Umgang mit den Leuten. Auch das Geschlecht war im Militär nie ein Thema für mich. Man ist in Uniform und konzentriert sich auf die Aufgabe, das ist fast geschlechtslos. Die eigenen Bedürfnisse muss man hingegen zurückschrauben, und das kam mir durchaus entgegen», sagt Christine.

Der fatale Unfall

Ebenso präsent wie Panzer sind im Leben der Hugs die Pferde. Im Stall nebenan stehen derzeit vier. Eines davon, eine damals noch unberittene dreijährige Trakehner-Stute, ist an einem Dezembermorgen im Jahr 2011 mit Tanja und Christian auf einem Feldweg unterwegs. Plötzlich schlägt die Stute gegen das hinter ihr gehende zweite Pferd aus, und als Christian zurückblickt, liegt seine Frau reglos im Schnee. Ihre linke Gesichtshälfte ist vollkommen zertrümmert, im ersten Moment weiss er nicht einmal, ob sie noch lebt. Es folgen eine 14-stündige Notoperation und im Laufe der nächsten zwei Jahre acht weitere chirurgische Eingriffe als Folge von über siebzig Trümmerbrüchen und einer zerstörten Augenhöhle.

Tanja Hug bereitet das Heu für die Pferde in ihrem Stall in Tscheppach vor.

Tanja Hug bereitet das Heu für die Pferde in ihrem Stall in Tscheppach vor.

«Christian hat mir damals das Leben gerettet, und ich möchte nie einen anderen Ersthelfer haben als ihn. Später hatte ich oft derart Schmerzen im Gesicht, dass ich es nicht einmal berühren konnte. Es war Christian, der mir jeden Morgen die Tagescrème aufgetragen hat; es war Christian, der mir jeden Morgen Salbe ins linke Auge getröpfelt hat. Er war immer für mich da. So etwas vergisst man nicht einfach, das hat uns zusammengeschweisst, auch in dem Moment, als ich seinen Brief gelesen hatte und den Boden unter den Füssen verlor», erzählt Tanja.

Dieser Brief – Christian wird noch fünf weitere Jahre brauchen, bis er ihn schliesslich schreiben wird. Zunächst macht er als Berufsoffizier Karriere, steigt hinauf bis zum Grad eines Oberstleutnants im Generalstab. Die junge Familie lebt in einem Einfamilienhaus in der Region Thun, Tochter Julia geht bereits in die Primarschule, auch Tanja hat sich recht gut von ihrem schweren Unfall erholt und ist wieder berufstätig. Doch in Christian nagt «es» weiterhin. Hin und wieder bestellt er heimlich Frauenkleider, und als Tanja zufällig ein Paket entdeckt, stellt sie ihn zur Rede, weil sie befürchtet, ihr Ehemann habe eine Geliebte. Er hat keine, wie er versichert, aber Christian spürt zugleich, dass er jetzt etwas tun muss, um ihre Beziehung zu retten. Und auch sich selbst.

Der Brief auf dem Stubentisch

«Das Schwierigste war, dass ich alles zuerst einmal für mich akzeptieren und dazu stehen konnte, dass es so ist. Ich war noch nicht in einer Depression, aber ich kam immer stärker in eine Negativspirale hinein und fragte mich, was das Leben eigentlich noch soll», erzählt Christine. Heute weiss sie wie Tanja um jene amerikanische Studie, wonach von 28 000 befragten Transmenschen in den USA nicht weniger als 40 Prozent einen Suizidversuch unternommen haben.

Am 13. Januar 2016 schreibt Christian seiner Frau einen sechsseitigen Brief und deponiert ihn auf dem Stubentisch, dann fährt er zum Dienst nach Thun. Er weiss, ab jetzt gibt es für ihn kein Zurück mehr. In der Offiziersschule und im Generalstabskurs hat er den Umgang mit Stress gelernt, doch die Anspannung, die er in diesen Stunden empfindet, ist mit nichts zu vergleichen. Es kann zu Krach, zur Trennung, zur Scheidung kommen, er muss mit allem rechnen.

«Für mich war nicht absehbar, wie Tanja reagieren würde. In den meisten Situationen des Lebens hat man ja einen Referenzwert, entweder aus Erfahrung oder angelerntem Verhalten. Aber in diesem Fall hat man absolut nichts, null. Man kommt an einen Punkt, an den man sich nicht mehr herantasten kann, und steht dann vor dem Abgrund. Wenn ich springe, habe ich keine Ahnung, was passieren wird», erzählt Christine.

Im Alltag der Familie Hug sind Pferde so präsent wie Panzer.

Im Alltag der Familie Hug sind Pferde so präsent wie Panzer.

Zurück von ihrer Arbeit, findet Tanja den Brief auf dem Tisch vor, sie liest ihn – und kann sich vor Wut kaum fassen. «Schliifts? Geits eigetlich no?» Christian schreibt, er fühle sich extrem von Frauenkleidern angezogen, doch sie brauche keine Angst zu haben, er wolle nur ehrlich sein und müsse das jetzt einfach ausprobieren und sehen, wo das alles hinführen werde. Der Begriff Transgender taucht noch nicht im Brief auf. Als am Abend die Haustüre aufgeht und ihr Mann dort steht – als Frau, in Frauenkleidern, demonstrativ geschminkt –, da fällt Tanja in sich zusammen. «Ich hatte einen Schock. Mit dem hatte ich nicht gerechnet, nie im Leben!», sagt sie. Die eigene Ehefrau ist der erste Mensch, dem Christine sich offenbaren kann. Doch ein Gespräch ist in den folgenden Monaten fast nicht möglich, zu tief fühlt sich Tanja verletzt, zu schwer wiegt der Verdacht, ihr Ehemann habe vielleicht doch eine Freundin. Man verdrängt, funktioniert, nimmt Tag für Tag.

Tanjas tiefe Verwirrung

Im Sommer 2017 zieht die Familie Hug nach Tscheppach, weil sie im Solothurnischen endlich gefunden hat, wonach sie seit Jahren suchte: ein Haus mit Stall und direkt angrenzender Koppel für ihre beiden Pferde, denn die Leidenschaft für das Reiten ist geblieben, trotz allem. «Ein Lebenstraum», sagen beide. Doch alles andere hängt in der Schwebe. Noch weiss niemand davon, auch nicht ihre Tochter Julia. Zwischendurch versucht sich Tanja mit der Vorstellung zu beruhigen, es sei vielleicht eine schöne Abwechslung, wenn Christine sich nun ebenfalls für elegante Blusen und schöne Schuhe im Schaufenster interessiere. «Früher hatte er Kampfstiefel und ein Paar Ausgangsschuhe, fertig», sagt Tanja. «Frauenkleider? Es gibt schlimmere Spleens.» Doch als sie zu realisieren beginnt, dass es längst nicht nur um Frauenkleider geht, folgt auf den ersten Schock eine «tiefe Verwirrung». Ihr Mann, wenn er denn noch einer ist, ist kein Transvestit. Er will endlich eine Frau sein – in aller Konsequenz.

Es werden schliesslich zwei lange Jahre, in denen Tanja und Christine ihr Geheimnis alleine mit sich herumtragen. Darüber zu reden, schaffen die beiden erst dank der Hilfe einer Psychologin, eines Psychologen und später einer Paartherapeutin. Rasch steht definitiv fest: Christian ist eine Transgender-Frau, deren Geschlechtsidentität nicht mit ihren äusseren Geschlechtsmerkmalen übereinstimmt. Mit Tanja hat das alles gar nichts zu tun. Sie sagt: «In dem Moment realisierte ich, dass ich nicht dagegen kämpfen kann. Gegen Wellen anzuschwimmen, braucht viel zu viel Lebenskraft. Entweder gehe ich mit, oder ich gehe unter.»

Christine Hug striegelt ihr Pferd zuhause in Tscheppach.

Christine Hug striegelt ihr Pferd zuhause in Tscheppach.

Nach einem Gutachten des Psychologen darf Christine im Mai 2018 ihre Hormontherapie beginnen, mit der sie einerseits die Produktion von Testosteron unterdrückt und anderseits dem Körper für den Rest ihres Lebens Östrogen zuführt. Als Tanja die erste Packung sieht, wirft sie sie gleich in den Abfall. «Das war wirklich heftig, als diese Hormontherapien begannen. Es war wie ein kalter Entzug. Plötzlich war der vertraute Geruch nicht mehr da, kein Aftershave mehr am Morgen, das ich so liebe. Auch keine Barthaare mehr. Es ist nicht lustig zuzuschauen, wie der Mann eine Haut bekommt wie die eigene. Das ist nicht sexy! Männer fühlen sich anders an, sie riechen anders, sie sind auch anders. Es ist nicht mehr der gleiche Mensch im gleichen Körper», sagt Tanja.

Was für sie hart ist, findet Christine wunderbar. Der männliche Sexualtrieb weg, kein Schweissgeruch mehr, die Stimme höher und melodiöser, weniger Bizeps, dafür ein kleiner Busen. Und mehr Emotionen. «Früher hat man sie abgeblockt, heute kann man die eigenen Gefühle viel besser zulassen und ist offener, weil man näher bei sich selbst ist», sagt Christine, die noch heute lieber «man» als «ich» sagt, wenn sie über sich spricht.

«Ich würde mich lesbisch fühlen»

Langsam wagt sich das Paar wieder an die Öffentlichkeit, ein erstes Mal zum Nachtessen nach Solothurn. Aber Tanja hat anfangs grosse Mühe, wenn Christine auf Schminke, Rock und Bluse besteht. Sie ginge lieber mit ihrem Mann aus und nicht mit ihrem . . .– ja, wie soll sie die Frau an ihrer Seite überhaupt nennen? «Ehemann» oder «Partner» geht nicht mehr, und «Partnerin» passt auch nicht, weil sie sich dann «lesbisch fühlen würde». So legt sie sich auf «Chrige» fest, weil in «Chrige» noch ein Rest von Mann für sie anklingt. «Chrige ist jetzt nicht mehr mein Mann, sondern mein Lieblingsmensch.»

«Das sind die Knackpunkte, wenn bei einem Heteropaar plötzlich jemand aus seiner Rolle aussteigt. Ich bin keine Regenbogenfrau und kann mich nicht plötzlich als Lesbe hinstellen. Das übersteigt meine Vorstellungskraft und ist gegen meine innerste Überzeugung», sagt Tanja.

Mit der Zeit beginnt sie sich etwas besser an die Frau neben sich zu gewöhnen, und manchmal wird es sogar richtig lustig. «Duuu, könntest du mir echli Manicure machen?», sagt dann die eine zur andern vor dem Badezimmerspiegel. Oder wenn Tanja Chrige zum ersten Mal zur Coiffeuse führt, einer langjährigen Freundin beider, und sie beim Haarefärben berät («du könntest ein bisschen experimentierfreudiger sein»). Oder wenn «Chrige» sämtliche Männerkleider entsorgt und mit Tanja auf Einkaufstour geht («es muss ja nicht gleich Kaschmir sein»).

Als mache ihr nicht anderes genug zu schaffen, prallt Tanja im Sommer 2018 unglücklich mit dem Kopf an den ihres Pferdes, kurz darauf bricht sie zweimal die Nase, und alles zusammen bereitet ihr seither höllische Schmerzen im Gesicht. Wer sie dabei wieder sehr umsorgt: ihr Lieblingsmensch.

Das Coming-out

Es sind wohl auch die Hormone, die Christine zur nächsten grossen Entscheidung drängen, denn sie machen sie immer weiblicher. Im März 2019 beschliessen Tanja und Christine, das Verstecken zu beenden, sie wollen sich outen. Vorangehen muss Christine, sagt Tanja, «das ist deine Bürde». Auch die bald elfjährige Julia soll es nun erfahren, wie später auch ihre Lehrer. Julia reagiert, so die Eltern, überraschend gelassen. «Soll ich dir jetzt auch Mami sagen?», will die Tochter als Erstes wissen, aber Christine ist und bleibt für Julia der Papi. Jedenfalls innerhalb der Familie. Und für ausserhalb erfindet Julia einen zweiten Rufnamen für ihn: Nana. Aber viel wichtiger als der Name ist für sie etwas anderes: Dass der Papi hier bleibt.

«Am Anfang fragte ich mich so oft: Was werden die Leute sagen? Was wird das Dorf sagen? Muss ich jedes Mal eine Tarnkappe anziehen, wenn ich zu den Pferden gehe? Dann merkten wir, dass Offenheit die beste Waffe gegen peinliches Schweigen oder komische Fragen ist. Gerade auch im Dorf. Wenn dann einer an der Koppel vorbeispazierte und sich verlegen um die Frage des Namens herumdruckste, dann sagte ich: ‹Ich bin genauso verwirrt wie du. Mach’s doch wie ich und sag einfach Chrige›», erzählt Tanja.

Für Tochter Julia bleibt Christine der Papi.

Für Tochter Julia bleibt Christine der Papi.

Als Christine in den folgenden Wochen das Gespräch mit Mutter, Vater und Bruder sucht, da weiss sie schon zuvor, dass sie auf ihrem Weg bleiben wird, unbesehen von der Reaktion. «Warum habe ich das nie bemerkt?», fragt die Mutter. «Ich habe alles erwartet, nur das nicht», meint der Vater. Und beide versichern: «So oder so, du bleibst unser Kind.»

Existenzängste

Doch was, wenn die Vorgesetzten in der Armee negativ auf ihr Outing reagieren? Wenn sie das Kommando ihres Bataillons abgeben oder gar ihren Job als Berufsoffizier quittieren muss? Christine sagt im Rückblick: «Ich wäre auch zur Kündigung bereit gewesen. Ich wusste nicht, wie es herauskommt, ich wusste nur, dass es schlecht kommt, wenn es bleibt, wie es ist.» Tanja sagt: «Ich musste damit rechnen, dass er seinen Job verliert. Deshalb fragte ich mich natürlich, ob ich wieder Arbeit fände. Was hiesse das für Julia? Was würde mit den Pferden passieren? In diesem Moment hatte ich echte Existenzängste.»

Christines direkter Vorgesetzter, Brigadier Fridolin Keller, ist nicht vollkommen überrascht. Denn auch ihm war die zunehmende Haarlänge seines Oberstleutnants nicht entgangen. Überdies hatte Keller bereits 2014 einmal mit einer Transgender-Soldatin zu tun, und seither hat die Armee, die sich heute als «grösste Vielfaltsgesellschaft der Schweiz» bezeichnet, dieser Thematik noch mehr Gewicht gegeben und im Frühling 2019 eine eigene Diversity-Beauftragte eingestellt.

Der Brigadier reagiert nüchtern und benachrichtigt den Chef der Armee, dieser wiederum informiert die neue Chefin des VBS, Bundesrätin Viola Amherd, und das war’s auch schon. Somit wird das stolze Panzerbataillon 12, der älteste noch aktive Panzerverband der Schweizer Armee, von einer Frau befehligt – wie übrigens auch das zweite Panzerbataillon von einer Frau geführt wird, Oberstleutnant Corina Gantenbein. Die Neuigkeit sickert rasch durch das halbe Bundeshaus, und als sich die Medienanfragen bei der Armee häufen, macht es Christine selber publik.

Im Oktober 2019 rückt Oberstleutnant Hug mit 6 Kompanien, 28 Kampfpanzern und 35 Schützenpanzern in den Wiederholungskurs in Thun ein. Am ersten Tag stellt sie sich vor ihre knapp 800 Wehrmänner und 3 Frauen, gibt das Programm bekannt und sagt schliesslich kurz und knapp, was ohnehin jeder bereits aus «20 Minuten» weiss: «Diejenigen, die mich schon länger kennen, kennen mich unter einem anderen Namen. In diesem Jahr habe ich mich entschlossen, mein Leben nicht mehr als Christian weiterzuführen, sondern als Christine.» Dann geht es los in die Übung Gladius, in der das Bataillon durch die halbe Ostschweiz rollt, um der Bevölkerung wieder einmal in Erinnerung zu rufen, dass die Schweizer Armee auch noch über Panzer verfügt.

Der Mut, sich selber treu zu sein

Beim grossen Abschlussdefilee auf dem Flugplatz Dübendorf sagt Hauptmann Frank Lorenz, der Seelsorger des Bataillons, in einer kurzen Ansprache zur versammelten Truppe: «In den vergangenen Wochen waren wir Zeuginnen und Zeugen einer erstaunlichen Wandlung, die aber im Grunde nur aus der Treue eines Menschen zu sich selbst kam. Du, werte Kommandantin, hast uns allen gezeigt, was es heisst, zu sich selber zu stehen. Du hast den Mut gezeigt, wie man jemand anders wird, um dir, in deinem tiefsten Inneren, treu zu sein und zu bleiben. Ich glaube, ich kann für uns alle sprechen, wenn ich sage: Brava! Gut gemacht! Wir sind stolz, unter dir zu dienen, denn du hast uns erinnert, wie wichtig es ist, zuerst den Kampf mit sich selbst zu führen und zu gewinnen, bevor wir den Kampf mit externen Gegnern beginnen.»

Was in diesem Moment fast niemand weiss: Oberstleutnant Hug muss ihre Diensttauglichkeit überprüfen lassen. Denn gemäss den gegenwärtig noch geltenden Vorgaben werden Transgender als untauglich eingestuft. Deshalb muss sie am letzten WK-Tag vor der medizinischen Untersuchungskommission antreten, wird eher pro forma kurz befragt und wieder für «tauglich» befunden. Der Papierkrieg in der Armee ist bedeutend kleiner als am Amtsgericht Solothurn, wo sich Christine ebenfalls ihr neues Geschlecht und den neuen Namen bescheinigen lassen muss.

Die Kommandantin begutachtet einen «Leopard»-Panzer beim Verlad.

Die Kommandantin begutachtet einen «Leopard»-Panzer beim Verlad.

«Ich war selber erstaunt, dass mir hinterher ausgerechnet ein paar der besonders hartgesottenen Panzergrenadiere zu meinem Mut gratulierten und sagten, mit mir würden sie jederzeit in den Krieg ziehen. Weil ich nicht auf das laute Geschrei und das absolut Strikte setze, hiess es manchmal, ich sei kein typischer Offizier. Aber man ist nicht weniger fordernd, es ist nur eine andere Umgangsart, und die wird von den Untergebenen sehr geschätzt, gerade in diesem Umfeld. Noch bis 2004 hatten wir bei den Kampftruppen überhaupt keine Frauen. Als dann die ersten kamen, hörte man, das gehe gar nicht. Aber diverse Studien haben längstens belegt, dass es bis in die Spitze hinauf sehr gut oder sogar besser geht, als wenn es eine reine Männertruppe wäre», sagt Christine Hug, die sich weiterhin Kommandant und nicht Kommandantin nennt.

«Auch ich war mit unserer Tochter und Christines Mutter bei der Standartenübergabe dabei, weil wir uns dort als Familie zu Chrige bekennen wollen», sagt Tanja. «Ob Chrige als Panzerkommandant ein Mann oder eine Frau ist, spielt gar keine Rolle, es geht alleine um die fachlichen sowie die Führungs- und Sozialkompetenzen, nicht um das Geschlecht. Das ist für mich echte Gleichberechtigung, so sollte es überall sein!»

Bei allem Zuspruch aus den Reihen der Armee, weder die Kommandantin noch der Seelsorger machen sich Illusionen: Längst nicht jeder findet ihr Outing toll. Einigen ist es schlicht egal; andere meinen, sie übertreibe es mit ihrer öffentlichen Präsenz; und besonders kritisch sind diejenigen, die am liebsten gar keine Frauen in der Armee hätten, obwohl sie das nur noch leise sagen. Im Gespräch sagt Hauptmann Lorenz: «Auch im Militär gibt es diese Sehnsucht nach einem Bereich im Leben mit klarer, also klassischer Zuteilung der Rollen. Christine stellt dies radikal infrage.»

«Sie sind jetzt ein Vorbild für mich»

Es rührt Frau Oberstleutnant zu Tränen, wenn Soldaten oder eine Kompaniekommandantin ihr sagen: «Sie sind jetzt ein Vorbild für mich.» Sie, die nie Vorbilder hatte, ob als Mann, Frau oder Trans, soll nun selber eines sein. Sie hilft nun kräftig mit beim Frauenförderungsprogramm des VBS, und eine Grossbank hat sie bereits als Referentin für Diversity-Management gebucht. Doch eine LGBT-Ikone will Christine Hug gewiss nicht werden. Die politisch korrekte Sternchenwelt in den Städten ist ihr zu schrill und zu ideologisch.

Ende 2019 hat Christine den letzten Schritt in ihrer langen Metamorphose noch vor sich: die Geschlechtsumwandlung. «Muss das unbedingt sein? Wozu? Um später womöglich einen Mann zu begehren?», hatte Tanja immer wieder gefragt. «Ich verstehe ihre Frage, aber für mich ist das ein untergeordnetes Thema. Mit der Angleichung des Geschlechts brauche ich mir in der Badi oder beim Duschen keine Gedanken mehr zu machen und kann ein ganz normales Leben führen. Das ist der Punkt und nicht die sexuelle Orientierung», sagt Christine dazu.

Tanja findet sich schliesslich damit ab und sagt zu Chrige: «Wenn du nach der Operation glücklich bist und dich die nächsten vierzig Jahre wohl fühlen kannst, ist das okay, auch wenn ich persönlich tief traurig darüber bin. Aber eines ist klar: Ich werde dich sicher nicht ins Spital begleiten, wenn dort mein Mann begraben wird.»

In sechs Stunden ein neues Geschlecht

Anfang Februar 2020 rückt Christine ins Universitätsspital Zürich ein, ohne geringste Nervosität und ohne jeden Zweifel, dass sie den richtigen Entscheid getroffen hat, nach fast vierzig Jahren ihr Leben als Mann definitiv zu beenden. Ein plastischer Chirurg entfernt ihr in einer sechsstündigen Operation Penis und Hoden und formt Teile davon zu einer Vagina, Schamlippen und einer Klitoris um; ein Eingriff, der hier jede bis jede zweite Woche stattfindet und anstandslos von Christines Grundversicherung abgedeckt wird. Noch vom Spitalbett aus plant Oberstleutnant Hug den nächsten WK ihres Bataillons.

Neun Tage später ist sie wieder daheim, immer noch gleich gross und breitschultrig wie Christian, aber mit einem neuen Geschlecht. Tanja hat kaum Gelegenheit, ihren frisch operierten Lieblingsmenschen zu betrachten, als Christine am ersten Morgen zu Hause in Folge einer aufgerissenen Ader einen starken Blutverlust erleidet und das Bewusstsein verliert. «Das war einer der schlimmsten Momente in meinem Leben, als ich Chrige da liegen sah. Ich machte mir natürlich unheimlich Sorgen, ihr Puls war ja kaum noch zu spüren, wir mussten sofort die Ambulanz rufen. Und gleichzeitig gingen mir tausend Flüche durch den Kopf. Selber schuld, warum hast du diese Operation gewollt!»

Unterdessen geht es Christine wieder besser, die Wundheilung verläuft nach Plan. Doch nun ist es Tanja, der ein Spitaltermin bevorsteht. Ihr Gesicht muss von neuem operiert und ihr linkes Auge frisch gerichtet werden, zum hoffentlich letzten Mal. Und es ist Christine, Chrige, Nana, ihr Lieblingsmensch, der mit Julia daheim auf sie warten wird.

Tanja sagt: «In nächster Zeit muss ich vor allem zu mir selber Sorge tragen. Was uns betrifft: Wir wollen einen gemeinsamen Weg finden, es verbindet uns so viel, da packt man nicht einfach die Koffer. Ich bin froh für Chrige, dass sie jetzt aufgeht in diesem neuen Kokon und ein Schmetterling herauskommt, der sich an diesen neuen Körper gewöhnen muss. Aber man muss sich wieder neu aneinander gewöhnen, und das wird ein schwerer Kraftakt, seelisch und körperlich. Der Ausgang ist völlig offen. Vielleicht entdecken wir einen Pfad, bei dem wir hinterher sagen werden: Warum hatten wir so viel Angst davor? Wie ich im Rückblick auf unser Leben oft sagen kann, es war turbulent, frustrierend, verwirrend, chaotisch, aber schliesslich haben wir gemeinsam etwas geschafft.»

Das Ehepaar Hug nach Christines Operation.

Das Ehepaar Hug nach Christines Operation.

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