Tiefe Infektionszahlen, weniger Todesfälle: Weshalb Chinas Nachbarstaaten die Corona-Epidemie besser beherrschen als viele europäische Länder

Taiwan, Vietnam, Hongkong, Singapur: Trotz der Nähe zu China haben diese asiatischen Staaten und Regionen weit weniger Corona-Fälle als ihre Nachbarn – auch weniger als die Schweiz und Deutschland. Was machen sie besser?

Katrin Büchenbacher, Martin Kölling
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Asiatische Länder haben Erfahrung mit Epidemien, die in China ausbrechen. Einige rüsteten sich schon anfangs Januar gegen das neuartige Coronavirus. Das Resultat: Tiefe Fallzahlen, geringe Sterberaten.

Asiatische Länder haben Erfahrung mit Epidemien, die in China ausbrechen. Einige rüsteten sich schon anfangs Januar gegen das neuartige Coronavirus. Das Resultat: Tiefe Fallzahlen, geringe Sterberaten.

Kim Chul-Soo / EPA

Taiwan ist von der Fläche her vergleichbar mit der Schweiz, hat aber dreimal so viele Einwohner. Die Schweiz meldet am 20. März fast 5000 bestätigte Fälle von Coronavirus, Taiwan gerade einmal 135. Vietnams Bevölkerung übersteigt die deutsche um mehr als 10 Millionen Einwohner, ist von der Fläche her ähnlich gross. Deutschland weist am 20. März mehr als 16000 bestätigte Erkrankte auf, Vietnam nur knapp über 85.

Auch Hongkong und Singapur registrieren vergleichsweise geringe Zahlen an Infizierten. Südkorea weist zwar hohe Infektionszahlen auf, aber eine der geringsten Sterberaten und eine abflachende Kurve von Neuinfizierten. Natürlich ist es noch zu früh, Schlüsse zu ziehen. Trotzdem erstaunt es auf den ersten Blick, dass diese Länder in Asien trotz ihrer geografischen Nähe zu China und der engen Verflechtung mit dem Land die Epidemie gut im Griff zu haben scheinen. Deshalb lohnt sich für Europa ein Blick auf diese Länder und Regionen.

Das Coronavirus breitet sich in der Schweiz rascher aus als in Asien

Zahl der Coronavirus-Fälle in der Schweiz, Hongkong, Taiwan, Vietnam und Singapur
Hongkong
Schweiz
Taiwan
Vietnam
Singapur

Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass die fünf asiatischen Länder und Regionen vorbereitet waren. Asien erlebte in den vergangenen zwei Jahrzehnten drei grössere Epidemien: Sars im Jahr 2003, die Schweinegrippe (H1N1) in den Jahren 2009 und 2010 und Mers im Jahr 2015. Sars tauchte erstmals in China auf, löste besonders schwere Symptome aus und hatte eine hohe Sterblichkeitsrate. Weltweit steckten sich mehr als 8000 Personen mit Sars an, der Grossteil davon in Ostasien. Mehr als 700 Personen starben. Auch Hongkong, Taiwan und Singapur waren nebst China betroffen. Viele Länder Asiens modernisierten ihre Krisenreaktionspläne für solche Epidemien, investierten in die Forschung und tauschten sich gegenseitig aus.

Taiwan profitiert von der Sars-Erfahrung

Als Covid-19 sich noch im Anfangsstadium befand, beschloss Taiwans Regierung, auf Nummer sicher zu gehen. Im Januar gab es erst vereinzelte Berichte von Erkrankten aus Wuhan. Chinas Behörden versuchten, die heraufziehende Krise zu verschleiern. Doch Taiwan begann bereits damit, bei Besuchern vom chinesischen Festland die Temperatur zu messen. Am 7. Februar beschloss das taiwanische Aussenministerium, die Einreise für alle Personen, die in den zurückliegenden 14 Tagen in China waren, zu verbieten.

Laut Chan Chang-Chuan waren die verschärften Grenzkontrollen Taiwans die wichtigste und erfolgreichste Massnahme zur Eindämmung des Virus. Chan ist international anerkannter Experte für öffentliche Gesundheit und Dekan des College of Public Health der National Taiwan University. Er schreibt der NZZ per E-Mail, die frühzeitige Abriegelung gegenüber China sei auch der Grund dafür, warum Taiwan relativ wenige importierte Fälle von Infizierten aus China habe im Vergleich zu anderen Ländern mit vergleichbaren Handelsvolumina und Touristenströmen aus China. Etwa 800 000 Personen aus Taiwan leben und arbeiten in China. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China, seinem wichtigsten Handelspartner, ist gross. Diese starke Verflechtung habe Taiwan vor ein Dilemma gestellt, sagt Chan: Soll man die Handelsbeziehungen mit China aufrechterhalten oder die Gesundheit der eigenen Bevölkerung schützen? «In dieser Frage unterscheidet sich Taiwan nicht von europäischen Ländern im Umgang mit der Krise», sagt Chan.

Taiwan habe vom Sars-Ausbruch im Jahr 2003 harte Lektionen erteilt bekommen, sagt er. Damals starben 73 Personen auf dem Inselstaat an der Krankheit. Nach Sars wappnete sich Taiwan gegen neue Infektionskrankheiten, um in der Zukunft mit einem zentralen Kommandozentrum vorbereitet zu sein. Die Regierung gründete Agenturen und wissenschaftliche Institutionen und schulte medizinisches Personal. Infektionskontrollen in Spitälern und Kliniken wurden verschärft. Das Land habe im Zuge der Sars-Krise eine weitere wichtige Erfahrung gemacht, sagt Chan: «Wir können keine frühzeitigen und genauen Daten zum Krankheitsausbruch aus China erwarten.»

Taiwan zapfte die Datenbanken der Krankenkassen und Zuwanderungsbehörden an, um den Menschen Warnhinweise per SMS zu schicken. Wurde jemand unter Quarantäne gestellt, lokalisierten die Behörden das Handy der Person. So stellten sie sicher, dass der Betroffene das Haus nicht verlässt. Hatte jemand Symptome, die nicht auf eine normale Grippe zurückzuführen waren, musste er zum Covid-19-Test antreten. Auf diese Weise wurde ein Fall identifiziert.

Die Regierung griff der Wirtschaft schon bald mit Konjunkturpaketen unter die Arme. Im Februar hatte das Taiwan CDC bereits Gesichtsmasken rationiert, bevor die Leute Panikkäufe tätigen konnten. Mitte März stiegen die «importierten» Fälle aus dem Ausland an. Die rasant steigenden Infektionszahlen in Italien, dem Rest Europas und den USA stellen nach China eine neue Gefahr für die Epidemiekontrolle dar.

Singapur reagiert vor allen anderen

Singapur konnte ebenfalls auf die Erfahrung mit Sars 2003 und H1N1 2010 zurückgreifen. Damals steckten sich geschätzt 400 000 Patienten mit der Schweinegrippe an. Heute hat Singapur staatliche Quarantänegebäude und ein neues nationales Zentrum für infektiöse Krankheiten mit 330 Betten. Bereits bestehende Prozesse und Strukturen ermöglichten dem Land eine schnelle Reaktion auf Covid-19. «Singapur hat seine Kapazität in der Gesundheitssicherheit in den vergangenen 15 Jahren massgeblich ausgebaut», sagte Lo Ying-Ru Jacqueline, die WHO-Repräsentantin für Malaysia, Brunei und Singapur.

Am 2. Januar setzte das Gesundheitsministerium Singapurs alle Ärzte im Lande in Kenntnis: Sie sollten alle Patienten mit einer Lungenkrankheit, die in letzter Zeit in Wuhan waren, identifizieren. Tags darauf begann das Flughafenpersonal, die Temperatur der Ankömmlinge aus Wuhan zu messen. Gleichzeitig schränkte die Regierung die Einreise aller Personen, die in den letzten 14 Tagen nach China gereist waren, ein. 700 Personen aus Hubei wurden unter Quarantäne gesetzt, und jeder, der aus China nach Singapur eingereist war, musste 14 Tage in die Selbstquarantäne. Zu dem Zeitpunkt hatte Singapur 13 bestätigte Fälle. Singapur war eines der ersten Länder mit dieser Regelung. Japan schloss seine Grenzen erst vergangenen Montag für Personen, die aus den betroffenen Regionen anreisen.

Daneben arbeitet die Regierung mit einer Reihe von Anreizen und Strafen zur Prävention und Kontrolle von Covid-19. Singapurs Gesundheitssystem, das sonst teuer ist, schenkt Coronavirus-Patienten die Behandlung. Personen, die unter Quarantäne stehen, diese aber nicht einhalten, müssen mit einer Geldstrafe von bis zu 10 000 Singapur-Dollar (6700 Schweizerfranken) oder einer sechsmonatigen Haftstrafe rechnen.

Die Regierung verteilte vier Masken an jeden Haushalt und wies alle an, diese nur bei Krankheitssymptomen zu tragen. Forscher der Harvard-Universität schrieben in einer neuen Studie, die noch nicht begutachtet wurde, dass Singapur sich durch ein historisch sehr stark entwickeltes System der epidemischen Überwachung und des Contact Tracing ausweise.

Auf einem Dashboard findet die Bevölkerung genaue Daten zu den Angesteckten und Geheilten – bis zur Wohnadresse und zu Orten, welche die Patienten besucht hatten. Dies hielt die Menschen jedoch nicht von Hamsterkäufen ab. Eine App ermöglicht die Nachverfolgung von Kontakten von Infizierten. Neulich kam es allerdings zu einem Anstieg von «importierten» Fällen aus dem Ausland, ähnlich wie in Taiwan.

Vietnams datengetriebene, offene Krisenkommunikation

Vietnams Gesundheitsbehörden produzierten ein Musikvideo, das auf der ganzen Welt geteilt und gefeiert wurde. «Lass uns die Hände waschen. Reib, reib, reib sie! Lass die Finger von Augen, Nase, Mund. Und geh nicht an überfüllte Orte. Bekämpfe Corona, Corona!», so geht der Refrain.

Das Land hat sich durch eine grossflächige Kampagne zur Aufklärung gegen das Coronavirus ausgewiesen. Die Regierung informiert die lokale Bevölkerung und nach Vietnam Reisende auf einer Website ausführlich über die Situation und entwickelte eine Coronavirus-App.

Sobald in Vietnam Corona-Fälle auftauchen, riegelt die Regierung die betroffene Region ab. Kranke werden hospitalisiert, Kontaktpersonen müssen in Quarantäne.

Sobald in Vietnam Corona-Fälle auftauchen, riegelt die Regierung die betroffene Region ab. Kranke werden hospitalisiert, Kontaktpersonen müssen in Quarantäne.

Linh Pham / Getty

Als sich die ersten Fälle in Son Loi abzeichneten, riegelten die Behörden die Stadt für 20 Tage ab. Auch die Grenze zu China, Vietnams wichtigstem Handelspartner, wurde geschlossen, Flugverbindungen von und nach China und Südkorea wurden gekappt und die Schüler in 63 Provinzen bis auf weiteres vom Unterricht befreit.

«Das Land hat sein Reaktionssystem zu einem frühen Zeitpunkt des Ausbruchs aktiviert, indem es die Überwachung intensivierte, die Testkapazität der Labors erhöhte, Infektionsverhinderung und Kontrolle sicherstellte, die Handhabung von Krankheitsfällen in den Spitälern regelte, eine klare Botschaft zur Risikoeinschätzung kommunizierte und über die Sektoren hinweg zusammenarbeiten liess», sagte ein Repräsentant der WHO gegenüber al-Jazeera.

Damit hatten die Behörden die Corona-Fälle lange konstant bei 16 stabil halten können, von denen offenbar alle geheilt wurden. Neulich wurde eine Gruppe neuer Fälle auf einem Flug von Grossbritannien nach Vietnam entdeckt, importierte Fälle sorgten für einen neuen Anstieg. Die Behörden reagierten rasch und entschieden, keine Visa für Reisende aus dem Ausland mehr auszustellen. Ausländer können bis mindestens 15. April nicht mehr nach Vietnam reisen. Über 40 000 Menschen stehen in Vietnam unter Quarantäne. Zudem entwickelten die Behörden einen Online-Service. Mit diesem werden alle Bürger angehalten, ihren Gesundheitszustand zu melden – sonst drohen Strafen.

Hongkongs Bevölkerung übt Druck aus

Basierend auf der Devise «Ein Land, zwei Systeme» ist die wirtschaftliche und politische Verflechtung zwischen der Sonderverwaltungszone Hongkong und dem Festland sehr eng. Hongkong teilt 13 Grenzübergänge mit dem Festland. Ungefähr 70 Prozent aller Touristen in Hongkong stammen vom Festland, und über 100 000 Anwohner aus Hongkong pendeln jeden Tag nach China zur Arbeit. Trotzdem: Hongkong meldete lange weit weniger Fälle als die angrenzenden chinesischen Provinzen. Neulich gab es einen Anstieg von Fällen aus dem Ausland ausserhalb Chinas, wie Italien. Als Folge müssen alle Menschen bei ihrer Ankunft aus dem Ausland für zwei Wochen in die Selbstquarantäne. Sie müssen ein Band tragen, dass sie verrät, falls sie die Quarantäne brechen.

Die Grenzen Hongkongs zum Festland sind teilweise offen. Am 8. Februar hat die Regierung 10 der Landübergänge geschlossen. Neuankömmlinge aus dem Festland müssen zuerst 14 Tage in die Quarantäne. Doch die Massnahmen kamen erst, nachdem Krankenhauspersonal zu Tausenden gestreikt hatte. Wieso reagierte die Hongkonger Regierung nicht früher?

Mareike Ohlberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator Institute for China Studies mit Fokus auf Hongkong und Taiwan, sagt, Peking habe grossen Druck auf umliegende Länder ausgeübt, die Grenzen nicht zu schliessen. Die Regierung in Hongkong stehe unter Einfluss Pekings, deshalb sei es schwierig, die Grenzen ganz zuzumachen. Gleichzeitig sei die gesellschaftliche Reaktion in Hongkong auf das sich ausbreitende Virus aus Wuhan heftig. «Die Gesellschaft hat den Ausbruch des Coronavirus ernst genommen, weil sie die Sars-Krise mitbekommen hat und ein Grundmisstrauen gegenüber der Kommunikationspolitik der Kommunistischen Partei Chinas hegt», erklärt Ohlberg.

Menschen horteten Masken, Desinfektionsmittel und Toilettenpapier zu Hause und forderten strengere Massnahmen. «Die Bevölkerung traut der eigenen Regierung nicht», sagt Ohlberg. Privatpersonen betreiben aktiv Selbstschutz vor einer Ansteckung, indem sie Masken tragen, um Keime nicht weiter durch Husten und Niesen zu verteilen, und möglichst zu Hause bleiben. Die Schulen blieben nach dem chinesischen Neujahr geschlossen, Firmen ordneten Home-Office an und verteilten kostenlos Masken. Diese Massnahmen sollen sogar dazu geführt haben, dass die Grippe-Saison einen Monat früher als üblich endete, wie die «Financial Times» berichtete.

Südkorea testet grossflächig

Südkorea begann bereits am 11. Januar zu testen – das Land hatte rasch hohe Testkapazitäten bereit. Inzwischen wurden 270 000 Personen auf das Virus untersucht, es können bis zu 20 000 Virentests täglich durchgeführt werden. Gleichzeitig wurden im Land Hotlines und Drive-Through-Testzentren eingerichtet, in die Bürger mit dem Auto hinfahren können. Auch Thermometer kamen bald flächendeckend in Behörden und Unternehmen zum Einsatz, um fiebernde Mitarbeiter zu erkennen. Und überall, selbst in Bussen und an Strassenlaternen, hingen bald nach Auftreten des Virus Behälter mit Desinfektionsmittel, mit dem die Bürger ihre Hände von Viren befreien konnten.

Ausserdem folgt die Bevölkerung in Korea den Aufforderungen der Regierung, ihre Wohnungen möglichst nicht zu verlassen. Vor allem aber war das Gesundheitssystem auf einen Ansturm vorbereitet und sortierte die Patienten rasch aus. Schwere Fälle kamen in Spezialkliniken, leichte Fälle mussten sich zu Hause auskurieren, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Wurden Cluster gefunden, stellte die Regierung ganze Wohnblöcke oder Einrichtungen unter Quarantäne.

In Südkorea hat sich die Situation stabilisiert – im Gegensatz zu Italien

Zahl der Coronavirus-Fälle in Italien und Südkorea
Italien
Südkorea

Die Folge: Südkorea hat zwar hohe Infektionszahlen, aber mit einem Prozent eine der geringsten Sterberaten. Zudem gehen die Neuinfektionen zurück. Und auch die hohe Zahl der bestätigten Infektionen ist eigentlich ein positives Zeichen, denn sie ist das Ergebnis aggressiver Tests und eines Eindämmungsprotokolls, das – anders als in China in vergleichbaren Fällen – nicht einmal seine am stärksten betroffene Stadt Daegu vollständig isoliert.

Der Grund für die gute Vorbereitung ist wie bei den anderen asiatischen Nationen, dass auch Korea stark von den Coronaviruskrankheiten Sars und Mers betroffen war. Im Gegensatz zum wenig betroffenen Nachbarn Japan habe Korea daher grosse Testkapazitäten aufgebaut, erklärt der bekannte japanische Virologe Hiroto Oshitani. Und nicht nur das: Die Behörden spielten auch immer wieder das Szenario einer neuen Coronavirus-Pandemie durch, zuletzt – wie es der Zufall wollte – im Dezember 2019. Das Resultat: Während andere Länder nicht genau wissen, wie schlimm die Lage ist, gelten Südkoreas Zahlen mit als die zuverlässigsten der Welt.

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