Der Notstands-Staat

Ob all die drastischen politischen Massnahmen angesichts der Corona-Pandemie richtig waren, werden wir eines Tages wissen. Aber das spielt zurzeit auch keine Rolle, denn der Staat im Ausnahmezustand weiss die Mehrheit seiner Bürger hinter sich. Was bedeutet das für die Zukunft?

Hans Ulrich Gumbrecht
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Öffentliches Leben verboten: Ein Zaun versperrt den Zugang zur Flaniermeile entlang des Zürichsees.

Öffentliches Leben verboten: Ein Zaun versperrt den Zugang zur Flaniermeile entlang des Zürichsees.

Alexandra Wey / Keystone

Man hat immer schon zu viel gelesen und doch nie genug in diesen Tagen der diffusen Angst. Nie genug, weil noch keine einzige Erklärung oder Nachricht bisher das Ende der Angst konkret vorhersehbar gemacht hat. Und immer schon zu viel, weil sich die Verfallszeiten der je letzten Wissens- und Reflexionsstände beschleunigen, ohne auch nur die Richtung irgendeiner Entwicklung anzudeuten, was die Sorgen und Thesen von gestern heute bereits eigenartig banal wirken lässt.

Innerhalb dieser eigentümlichen Unter- und Überversorgung mit Informationen und Meinungen fällt mir auf, dass drei Entwicklungen am Rand der Pandemie kaum erwähnt werden, die in einem bemerkenswerten Zusammenhang stehen.

Die Wissenschaft hat die Religion ersetzt

Erstens sind religiös getönte Reaktionen bisher im Hintergrund geblieben (und wohl nicht allein dort, wo Gottesdienste als Versammlungen verboten wurden).

Dasselbe gilt zweitens für die Kommentare der sich sonst so gerne öffentlich produzierenden Intellektuellen (sie haben höchstens – wie von aussen müde protestierend und als ob unsere Erfahrung die ganze Weltgeschichte umspannte – davon gesprochen, dass dies «eigentümliche Zeiten» seien).

Schliesslich und vor allem aber ist – drittens – der Staat wieder in die Mitte unseres Lebens getreten. Der Staat im klassischen Sinn als Souverän über einen genau umschriebenen Raum, der Staat, dessen Eingriffe in ihr eigenes Leben sich die meisten Bürger bis vor kurzem verbitten wollten.

Die nun schon mehrere Wochen anhaltende Unfähigkeit der einschlägig kompetenten Spezialisten, kohärente diagnostische oder gar therapeutische Orientierungen zu liefern, hat erstaunlicherweise noch keinen definitiven Vertrauensverlust ausgelöst. Dies macht einerseits überdeutlich, wie Wissenschaft als abgehobene Autorität während der vergangenen Jahrzehnte die Religion ersetzt hat. Andererseits aber steigert der gegenwärtige Zustand unsere Nervosität, weil eine Alternative zur Wissenschaft eben nicht mehr in Sicht ist.

Da also eine verbindliche Beschreibung dessen, was geschieht (eine Darstellung der «Fakten»), vorerst ausbleibt, fehlt auch den Intellektuellen ein zentraler Bezugspunkt für ihre angestammte Übung, mit alternativen Versionen und skeptischen Fragen öffentliche Debatten in Gang zu bringen. Diese doppelte Leere an Wissen hat der Staat des Notstands – nach anfänglichem Zögern, das inzwischen längst vergessen ist – mit national kaum verschiedenen Versionen durch Handeln in der Form von immer engeren Verhaltensvorschriften gefüllt.

Für diese Rückkehr ins Zentrum hat der souveräne Staat einen Zuspruch erfahren, dessen parteienübergreifende Breite noch zur Jahreswende unvorstellbar gewesen wäre. Er drückt die wenigen verbleibenden Skeptiker immer weiter an die gesellschaftliche Peripherie, nicht zu reden von denjenigen Jugendlichen, die ihre vitale Erregung angesichts der Nähe des Abgrunds auf «Corona-Partys» zelebrieren.

Alles dreht sich ums Gleichheitsprinzip

Könnte der so heftig begrüsste Notstands-Staat zum Staat unserer Zukunft werden? An seiner Legitimität in der unmittelbaren Gegenwart kann kein Zweifel bestehen. Denn die Verfassungen der meisten demokratischen Gesellschaften sehen ja die Möglichkeit vor, die Anwendung des Rechts in Ausnahmesituationen und für je begrenzte Zeiträume direkt an die Exekutive (das heisst an Regierung und Verwaltung) zu übergeben, unter Entbindung von den Kontrollinstanzen des Parlaments und des Rechtssystems.

Ausgerechnet linke Leser haben immer wieder von den einschlägigen Theorien des Rechtsphilosophen Carl Schmitt geschwärmt, der dem Staat – und in Schmitts Lebenssituation: dem Staat Hitlers – den Entschluss in die Hand legen wollte, durch sein Handeln das Recht selbst zu schaffen. Mit dieser Tendenz und ihren Gefahren hat die neue politische Konfiguration gewiss nichts zu tun.

Es gibt keinen Grund, am besten Willen der heutigen Politiker zu zweifeln, mit ihrem Notstands-Handeln das Recht und die Interessen der von ihnen vertretenen Bürger wirklich werden zu lassen. Doch um welche Interessen es sich in der Corona-Situation genau handelt, ist nicht restlos und allgemein klar.

Von einem wirklichen Ende der Pandemie darf kaum die Rede sein, solange undeutlich bleibt, unter welchen Bedingungen sich dieses Ende (und nicht bloss eine Reduktion der Ansteckungsrate) einstellen könnte. Bis dahin soll das einzige Ziel im Vermeiden einer Situation liegen, welche die nationalen Gesundheitssysteme mit den anfallenden Akutfällen überlastete – und deshalb nicht mehr allen Patienten die gleichen Bemühungen um ihr Überleben gewähren könnte.

Letztlich geht es also um die Bewahrung eines Gleichheitsprinzips (oder, sozialdemokratisch formuliert: um die Durchsetzung eines Grundsatzes der Solidarität), von dem im spezifischen Fall des Coronavirus vor allem die besonders gefährdeten Männer ab dem achten Lebensjahrzehnt profitieren werden. Ich gehöre zu dieser Gruppe und bin ebenso sicher wie dankbar, dass die grosse Mehrzahl meiner jüngeren Zeitgenossen – tatsächlich um jeden Preis – eine Situation abwenden möchten, in der das Gleichheitsprinzip durchbrochen werden müsste (also jüngere Corona-Infizierte vor Patienten meiner Generation behandelt würden).

Welches Überleben steht auf dem Spiel?

Doch bevor sie den im Notstand agierenden Staat zu so viel auf Konsens beruhender Menschlichkeit gratulieren, sollten sich wenigstens die Intellektuellen zu zwei Kommentaren vorwagen.

Einmal ist das schöne Solidaritätsprinzip historisch ja durchaus spezifisch – und sehr jung. Seit der Einführung der Bürger-Heere in der Zeit um 1800 und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte der bewusste Entschluss, einen grossen Teil der jüngeren männlichen Bevölkerung den Zielen von Macht und Ehre zu opfern, zu den damals auch konsensgetragenen Ausnahmesituationen der nationalen Kriege. Dass dem nicht mehr so ist, darf man als Menschheitsfortschritt verbuchen – ohne allerdings die Augen vor dem Preis der Solidarität zu verschliessen.

Die wichtigsten Durchhalteparolen in den aktuellen Notstands-Staaten – und hier unterscheidet sich nicht einmal Donald Trump von seinen europäischen Kollegen – lagen bisher in der täglich erneuten Versicherung, dass es keinesfalls zu Versorgungsengpässen kommen und dass sich die Wirtschaft national wie global rasch vom verordneten Stillstand erholen werde. Auch für diesen Optimismus allerdings gibt es weder historisch gesehen noch wirtschaftswissenschaftlich konkrete Anhaltspunkte. Die berühmte Spanische Grippe, die zwischen dem Frühjahr 1918 und 1919 um die fünfzig Millionen Todesfälle forderte (knapp drei Prozent der damaligen Weltbevölkerung und fünfmal mehr Opfer als der vorausgehende Weltkrieg), wurde ja – vor allem wohl mangels medizinischen Wissens – nie durch eine globale Stilllegung des Alltags bekämpft. Dies könnte im Kontrast zur gegenwärtigen Lage erklären, warum jene Pandemie relativ früh zu einem Ende kam und offenbar erstaunlich (oder empörend) schnell vergessen wurde.

Was aber der an ein Durchhalten des Gleichheitsprinzips gebundene langfristige Preis für die Zukunft der Menschheit sein könnte, weiss heute niemand. Und hier stellt sich den (in einem moralisch positiven Sinn) populistischen Notstands-Regierungen eine – skandalös wirkende und gewiss schmerzhafte – Frage, deren Beantwortung sie schleunigst ins Visier nehmen müssen. Wird durch den Entschluss, alle Zeitgenossen mittels drakonisch durchgesetzter sozialer Distanz gleich und maximal gegen eine Todesgefahr zu schützen, das Überleben der Menschheit oder mindestens doch die Zukunft der jüngeren Generationen aufs Spiel gesetzt?

Eine Frau führt ihren Hund in Thessaloniki spazieren, während Ordnungskräfte (links) sie beobachten.

Eine Frau führt ihren Hund in Thessaloniki spazieren, während Ordnungskräfte (links) sie beobachten.

Dimitris Tosidis / EPA

Gewiss, eine wirksame pharmakologische Entdeckung könnte vielleicht schnell genug die laufende Entwicklung brechen, oder das Virus könnte «sich erschöpfen», wie es Anfang 1919 voller Erleichterung hiess. Doch solange das Szenario jener viel radikaleren wirtschaftlichen Zukunftsbedrohung nicht auszuschliessen ist, schliesst der von so viel Beistimmung gesicherte Populismus der Notstands-Regierungen ein eigentlich unerträgliches – und auch nicht zu verantwortendes – Risiko ein.

Da sie als eine neu geformte Exekutive die Reaktion der deutlichen Bürgermehrheit repräsentieren und in Verhaltensvorschriften umsetzen, geniessen die Notstands-Staaten eine perfekte politische Legitimität – eine Legitimität allerdings, die nicht schon gleichbedeutend ist mit einer optimalen Erfüllung ihrer Aufgabe. Die wäre erst erreicht, wenn sie diejenigen entscheidenden Zukunftsfragen, die über den soliden Konsens hinausgehen, trotz (oder gerade wegen) ihrer Offenheit in den Blick der Bürger rückten und zugleich deren noch ausstehende Beantwortung so effizient als irgend möglich förderten – um dann auf der Grundlage verbesserter Kompetenz debattieren und entscheiden zu können.

Die entscheidende Frage

Vorstellbar wird so eine bisher ganz und gar ungewohnte Entscheidungssituation, in der es tatsächlich darum ginge, ob man bewusst die Überlebenschancen der ältesten Generation zugunsten der Zukunftsmöglichkeiten ihrer jüngeren Zeitgenossen verringert. Dies ist eine entscheidende Frage, die bis anhin – und wohl bis auf weiteres – mit einem Tabu belegt ist.

Gerade in den vergangenen Tagen haben sich Anzeichen und Stimmen deutlich vermehrt, die den wirtschaftlichen und globalen Überlebensoptimismus infrage stellen. Wie tief können die Börsenkurse sinken, ohne eine Erholung unmöglich werden zu lassen? Ist eine Kontinuität in der bisherigen (ja keinesfalls idealen) Versorgungslage der Weltbevölkerung wirklich garantiert? Jeder Tag des verordneten Stillstands mag also nicht nur ein Tag auf dem Weg zur Überwindung der Pandemie, sondern auch ein Tag auf dem Weg zum Ende der Menschheit sein.

Der dramatisch klingende Satz spricht nicht unbedingt für eine Aufhebung der schnell global werdenden Quarantäneverschreibungen. Dies wäre angesichts der Konsenslage ganz unrealistisch – und ohne eine vertrauenswürdige Hochrechnung der Zukunft auch nicht einmal individuell zu verantworten.

Doch angesichts anderer – offenbar bereits glaubhaft berechneter – Bedrohungen aus ökologischen, demografischen und wirtschaftlichen Dimensionen, welche auf die Menschheit zuzukommen scheinen, könnte der Notstands-Staat tatsächlich (zumal wenn er sich in der Corona-Situation bewähren sollte) zum politischen Modell der Zukunft werden. Dann wird es wichtig, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass seine strikte Ausrichtung am Mehrheitswillen nicht mehr den politischen Anforderungen genügt. Verantwortungsvolles Regieren wird mehr denn je von der Umsicht und Bereitschaft abhängen, den Mehrheitswillen – wo immer guter Grund besteht – mit von ihm abweichenden Auskünften der Kompetenz zu konfrontieren.

Solange die Kompetenz-Erwartung sich allerdings nicht zu langfristig bündigen Kompetenz-Orientierungen konkretisiert, wird der Notstands-Staat versucht bleiben, die Lücke des Wissens – wie in der gegenwärtigen Situation – mit seiner von Kontrolle entbundenen Handlungsmacht zu füllen. Hier liegt ein mögliches Post-Corona-Dilemma, das die Corona-Situation zum ersten Mal sichtbar macht.