«Operation Sunrise» – Geheimdeal mit Nazis und Alliierten

Vor 75 Jahren vermittelt der Schweizer Max Waibel auf abenteuerliche Weise das Kriegsende in Norditalien. Der Bundesrat rügt ihn für die brisante Aktion. Ein Blick zurück.

Marc Tribelhorn
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Beratung im engsten Kreis: Max Waibel, Max Husmann und Baron Luigi Parilli (von links nach rechts).

Beratung im engsten Kreis: Max Waibel, Max Husmann und Baron Luigi Parilli (von links nach rechts).

Novalis-Verlag / Keystone

Als Max Waibel am 21. Februar 1945 mit seiner Familie in die Skiferien nach St. Moritz fährt, ahnt er nicht, in welche weltgeschichtlichen Turbulenzen er bald gerät. Kaum im Engadin angekommen, wird er telefonisch nach Zürich beordert. Es sei äusserst wichtig, erklärt ihm am Apparat sein Freund Max Husmann, Pädagoge und bestens vernetzter Rektor des noblen Instituts Montana auf dem Zugerberg. Als Waibel am folgenden Tag in Husmanns Wohnung an der Sonneggstrasse eintrifft, sitzt dort schon dessen Bekannter, Baron Luigi Parilli, ein Geschäftsmann, der enge Kontakte zu den Nazi-Befehlshabern in Italien pflegt – und höchst Brisantes aus dem Kriegsgebiet zu berichten hat.

Verbrannte Erde

Da Amerikaner und Briten immer weiter Richtung Norden vorrücken, habe Hitler seiner 800 000 Mann starken Heeresgruppe C in Oberitalien befohlen, vor dem Rückzug in die «Alpenfestung» die Taktik der verbrannten Erde anzuwenden: Alle wichtigen und nützlichen Infrastrukturen seien zu zerstören, die Kulturschätze zu vernichten, sämtliche Gefangenen zu liquidieren. Parilli erklärt, er sei von hochrangigen Persönlichkeiten der SS, die die Verwüstungsaktion verhindern wollten, losgeschickt worden, um über Schweizer Kontakte mit den Westalliierten die Möglichkeit von Waffenstillstandsverhandlungen zu sondieren. Bis heute ist undurchsichtig, in welchem Verhältnis Parilli, der laut neuer Forschung als Doppelagent gilt, zu Max Husmann steht. Klar ist indes, weshalb dieser seinen Kollegen Waibel aus den Skiferien zurückgeholt hat.

Der 44-Jährige ist Major im Generalstab und als zentrale Figur im militärischen Nachrichtendienst der Eidgenossenschaft auch mit Allen Dulles bekannt, dem Vertrauten Roosevelts und Chef des amerikanischen Office of Strategic Services (OSS) in der Schweiz – einer Vorgängerorganisation der CIA. Waibel weiss, dass er sich auf ein neutralitätspolitisch gefährliches Spiel einlässt. Aber wie er später schreiben wird: «Ich hätte es vor meinem Gewissen nicht verantworten können, eine Tat, die sich aus menschlichen Gründen aufdrängte, zu unterlassen, nur weil formale Gründe dagegen sprachen.»

Bei einem Nachtessen mit Waibel zeigt sich Dulles zwar äusserst skeptisch gegenüber derartigen Verhandlungen. Dennoch knüpfen Waibel, Husmann und Parilli weitere Kontakte und treffen Absprachen, um den Krieg in Norditalien frühzeitig zu beenden. Auf deutscher Seite wird ihr wichtigster Verbündeter Karl Wolff, ehemaliger Chefadjutant Himmlers und nun höchster SS- und Polizeiführer Italiens. Wolff hofft zunächst noch, die Westalliierten durch ein Entgegenkommen zu einem Bündnis gegen die Sowjets zu bringen. Doch Waibel und Husmann machen ihm klar, das dies ebenso aussichtslos sei wie die weitere Kriegführung. Es bleibe nur die bedingungslose Kapitulation.

Über Wochen ziehen sich die Verhandlungen hin, die als «Operation Sunrise» in die Geschichte eingehen werden. Nachdem der SS-Mann Wolff als Zeichen seines guten Willens zwei italienische Partisanenführer aus der Gefangenschaft entlassen hat, kommt es am 8. März zu einem ersten Geheimtreffen mit Allen Dulles in Zürich. Bei einer Flasche Scotch versichert Wolff, sein Vorgesetzter Himmler wisse nichts von der Kontaktaufnahme, und stellt dem Amerikaner gar die Lieferung von Militärkarten in Aussicht. Dulles glaubt dem SS-General, der ihn «seltsam an Goethe erinnert». Er kabelt nach Washington, man müsse die Offerte ernst nehmen. In Ascona finden am 18. und 19. März wiederum durch Vermittlung Waibels weitere Gespräche statt, an denen auch hohe alliierte Militärs teilnehmen.

Auf Messers Schneide

Doch statt eines zügigen Abschlusses des Waffenstillstands tauchen immer neue Hürden auf: Zunächst wird der als friedenswillig eingeschätzte Kommandant der Heeresgruppe C an die Westfront versetzt, dann gerät Wolff wegen seiner Reisen in Verdacht bei Himmler und darf fortan nicht mehr in die Schweiz. Immerhin gelingt es Max Waibel, einen tschechischen OSS-Agenten mit einem Funkgerät in Wolffs italienisches Hauptquartier einzuschleusen, damit die Kommunikation weiter sichergestellt ist. Auf alliierter Seite protestieren indes bald die Russen, dass die Amerikaner hinter ihrem Rücken mit den Deutschen verhandeln und sich Vorteile verschaffen wollten, «während die Sowjetunion die Hauptlast des Krieges» trage. Im April stirbt zudem der amerikanische Präsident Roosevelt; sein Nachfolger Truman verfügt, die Gespräche mit den Deutschen seien abzubrechen, was Dulles aber wenig kümmert.

Am 27. April erhält Waibel schliesslich auf seinem Luzerner Landsitz Dorenbach, wo alliierte wie deutsche Unterhändler seit Wochen ein- und ausgehen, doch noch grünes Licht. Feldmarschall Alexander, der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen im Mittelmeerraum, bittet ihn, zwei deutsche Parlamentäre in sein Hauptquartier in Caserta bei Neapel zu bringen, wo die erste Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg unterzeichnet wird. Am 2. Mai tritt der Waffenstillstand in Norditalien in Kraft. Ob dies das Kriegsende in Europa um mehrere Wochen beschleunigt hat, wie Experten mutmassen, ist ungewiss. Sicher ist, dass dadurch Menschenleben, Infrastrukturen und Kulturschätze gerettet worden sind.

Als Max Waibel im Juni 1945 in der «Weltwoche» anonym über den Vermittlungserfolg schreibt und im Jahr darauf Vorträge hält, schreitet der Bundesrat ein, der sich um die Reputation der Schweiz sorgt: Der «zielbewusste Eingriff in die deutsche Kriegsführung» sei «ohne Zweifel eine Neutralitätsverletzung» gewesen, die einen Gewaltakt Hitlers hätte provozieren können. Auch habe Waibel seine Vorgesetzten, Nachrichtendienstchef Masson und General Guisan, nicht informiert (was Waibel, wie wir heute wissen, durchaus tat). Der Bundesrat verzichtet im Oktober 1946 zwar auf eine strafrechtliche oder disziplinarische Ahndung, beauftragt aber das Militärdepartement, «Max Waibel die Missbilligung auszudrücken für sein Verhalten». Zudem wird ihm ein unbeschränktes Publikationsverbot für seinen Tatsachenbericht auferlegt.

Die Kapitulationsvermittlung scheint neutralitätspolitisch so brisant, dass Allen Dulles noch 1962 vom Verkauf der Rechte an der «Operation Sunrise»-Story an ein Hollywoodstudio absieht. Dulles macht nach dem Krieg notabene weiter steil Karriere und prägt als CIA-Chef die amerikanische Aussenpolitik, bis er nach der gescheiterten Schweinebucht-Invasion auf Kuba abtreten muss.

Späte Strafe für SS-Mann Wolff

Dank der Fürsprache von Dulles wird SS-General Karl Wolff von den Alliierten auffällig geschont. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen muss er nicht auf die Anklagebank, sondern nur in den Zeugenstand. Erst nachdem Adolf Eichmann den «Salonoffizier mit weissen Handschuhen» beschuldigt hat, wird Wolff 1964 in München vor Gericht gestellt und verurteilt – wegen Beihilfe zu Mord in mindestens 300 000 Fällen.

Und Max Waibel, der Schweizer Held dieser Geschichte? Trotz bundesrätlichem Rüffel wird er in der Armee weiter befördert, bis zum Divisionär und Waffenchef der Infanterie. Sein Leben endet indes tragisch: Er übernimmt als Pensionär gutgläubig das Verwaltungsratspräsidium einer Bank, die wegen Misswirtschaft in Konkurs geht – und erschiesst sich 1971. Zehn Jahre nach seinem Tod kann der «Originalbericht des Vermittlers» doch noch erscheinen. 2005 würdigt Bundespräsident Samuel Schmid an einer Gedenkveranstaltung die «tapfere Mission» Waibels.

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