Als Felicitas und Bruno Eisenring vor 161 Tagen für ihre Weltreise einschifften, war die Kreuzfahrt eine boomende Industrie. Heute ist die MS «Artania» das letzte Schiff, das noch mit Passagieren unterwegs ist. Ein Logbuch über die Höhen und Tiefen einer Reise – und einer Branche.
31. Dezember 2019. Für die Passagiere der «Artania» ist der zehnte Abend an Bord ein weiterer Abend voll vergnüglicher Entscheidungen: Bestellen sie zur Einstimmung den Tagescocktail Coco Loco in Harry’s Bar, oder sehen sie sich «Dinner for one» im Bordkino an? Nehmen sie das Galadinner im eleganten «Vier Jahreszeiten» oder im Lido-Buffet ein? Vertreiben sie sich die Zeit danach in der Atlantic Lounge bei einer Musicalshow, in der Pacific Lounge mit französischen Chansons oder in der Phoenix Lounge mit der kapverdischen Folkloreband? Felicitas und Bruno Eisenring sind zum zweiten Mal im Leben auf Kreuzfahrt. Am 21. Dezember 2019 hatte das Ehepaar aus Rorschacherberg im Hamburger Hafen auf der «Artania»eingeschifft, am 9. Mai würden sie im 100 Kilometer westlich gelegenen Bremerhaven von Bord gehen. Dazwischen sollen 140 Tage, 64 Häfen, 31 Länder und 36 Inseln liegen. Dass 3 Tage Kabinenarrest und Dutzende von Fiebermessungen hinzukommen werden, ahnen die Eisenrings nicht.
Weil die beiden vor der Pensionierung ein Radio- und Fernsehgeschäft führten, waren sie nie länger als zwei Wochen am Stück in den Ferien. Nun wollen sie so viel Neues wie möglich sehen: die Weingüter bei Kapstadt, die Strände der Seychellen, das schiffförmige Dach des Singapurer Hotels Marina Bay Sands, ausserdem Australien, die Südsee, den Panamakanal. Als sie sich beim Hausarzt über Impfungen und Malariarisiko auf Landgängen informierten, hatte der ein bisschen gelacht und gesagt, die grösste Gefahr einer Kreuzfahrt sei, sich an Bord mit einer Grippe anzustecken.
An diesem Abend liegt die «Artania» bei der Kapverdischen Insel São Vincente vor Anker. Bisher verlief alles nach Reiseplan. Kurz vor zwölf Uhr hat die Mannschaft auf den Aussendecks Sektstationen aufgebaut. Die Gläser stehen dicht an dicht, schliesslich werden sich 930 Passagiere gleichzeitig zuprosten wollen. Punkt Mitternacht beginnt die Nacht zu dröhnen. Das Schiffshorn der «Artania» tutet in die Dunkelheit hinaus, im Chor mit den Hörnern und Sirenen aller Schiffe, die im Hafen liegen.
Knapp fünf Monate später erinnert sich Bruno Eisenring nicht auf Anhieb, wo sie auf ein gutes Neues angestossen haben. Die Bilder von den schönen Momenten an Bord verschwämmen, sagt er, der Jahreswechsel sei ja schon recht lange her. Es ist eine Empfindung, die er mit der ganzen Welt teilt: Nie fühlte sich Silvester im Mai ferner an als in diesem Jahr.
Die Kreuzfahrtindustrie erwartete 2020 ihr bisher bestes Jahr überhaupt. 32 Millionen Passagiere sollen laut dem Kreuzfahrtverband CLIA die Weltmeere bereisen, 12 Millionen mehr als 10 Jahre zuvor. Die Zahl der schiffreisenden Schweizer hatte sich gleichzeitig verdoppelt, auf über 150 000 Passagiere. Nichts schien den Aufwärtsgang stoppen zu können, weder die Finanzkrise noch die Toten auf der 2012 gekenterten «Costa Concordia» und auch nicht die wachsende Kritik an der Kreuzfahrt wegen Umweltschäden, schlechter Arbeitsbedingungen und überlaufener Destinationen. Ende 2019 schien das einzige Problem der Branche, dass die Werften nicht rasch genug neue Schiffe bauen konnten.
6. Januar. Um 8.45 Uhr überquert die «Artania» vor Afrikas Westküste den Äquator, die Zeremonie dazu findet aber gästefreundlich erst nach dem Frühstück statt. Wie alle 930 Passagiere schauen Felicitas und Bruno Eisenring auf Deck 8 zu, wie ein als Neptun verkleidetes Crewmitglied den Kapitän beschimpft und mit einer Flasche Schnaps besänftigt wird; in ihrer Kabine werden sie später eine Urkunde zur «Äquatortaufe» finden, die erste von drei.
Wohlhabende Menschen auf See zu unterhalten, war seit je das Geschäftsmodell der Kreuzfahrt. Im Januar 1891 brach die «Augusta Victoria» in Cuxhafen zu einer neuartigen «Bildungs- und Vergnügungsreise» auf. Der Direktor der «Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft», kurz Hapag, wollte so die Schiffe, die im Sommer Auswanderer nach Amerika brachten, im Winter auslasten. Während der 57-tägigen Reise sollten sich die Passagiere nicht wie auf einem Schiff fühlen, sondern wie in einem erstklassigen schwimmenden Hotel. An Bord waren mehr Crewmitglieder als Gäste, es gab Dampfheizungen für kalte und Deckenventilatoren für warme Tage, Champagner, Austern, Kaviar. Ausserdem standen Landausflüge auf dem Programm: In Piräus ordnete der König Salutschüsse an, in Istanbul traf man den Sultan, von Alexandria aus besuchten die Passagiere die Pyramiden.
Bis zum Ersten Weltkrieg waren Kreuzfahrten der Oberschicht vorbehalten. Ab den 1920ern aber entstand in Amerika eine Art der Schiffsreise, die für neue Schichten erschwinglich und erstrebenswert war. Die «cruises to nowhere» schipperten während der Prohibition aus der amerikanischen Dreimeilenzone in internationale Gewässer, kreuzten ein paar Tage hin und her und verkauften unbeschränkt Alkohol – gut möglich, dass die Mafia an den «booze trips» auf See mitverdiente.
An der Demokratisierung der Kreuzfahrt wirkten auch andere zweifelhafte Kräfte mit. 1937 wurde das damals grösste Kreuzfahrtschiff, die «Wilhelm Gustloff», in Hamburg getauft. Ursprünglich hätte das Schiff für 1463 Passagiere «Adolf Hitler» heissen sollen, doch man fürchtete die Symbolkraft, sollte es sinken. Die «Wilhelm Gustloff» mit Schwimmbad und Theatersälen wurde von der NS-Freizeitorganisation «Kraft durch Freude» betrieben; fünftägige Fahrten kosteten 50 Reichsmark, was einer heutigen Kaufkraft von gut 200 Euro entspricht.
Ab Anfang der 1960er Jahre entdeckte dann die DDR die Traumschiffe für ihren Arbeiterstaat. Die Fahrten auf der «Friedensflotte» wurden bevorzugt an Parteifunktionäre vergeben. Zwischen 1961 und 1989 nutzten trotzdem 233 Passagiere die Reise für einen Fluchtversuch; 225 mit Erfolg.
9. Januar. China meldet ein bisher unbekanntes Virus, und die «Artania» legt vor St. Helena an. Ab acht Uhr morgens setzen die Passagiere mit Rettungsbooten auf die Insel über. Das Angebot an Landausflügen ist an diesem Tag überschaubar: Es gibt eine Inselfahrt in fünf Gruppen, für die sich die Eisenrings entscheiden, oder einen Stadtrundgang. Dass die beiden ihre Reise auf der «Artania» gebucht haben, die vom deutschen Unternehmen Phoenix Reisen gechartert wird, hatte neben der Route weitere Gründe: Vom Aufbau her ist die «Artania» noch ein klassisches Kreuzfahrtschiff für maximal 1200 Passagiere; 1984 wurde sie von Prinzessin Diana getauft. Ausserdem gefällt den beiden, dass sie ihren CO2-Fussabdruck nicht zusätzlich durch lange Flüge vergrössern – und dass die Bordsprache Deutsch ist.
Mit fünf Hochseeschiffen ist Phoenix Reisen ein kleiner Fisch im internationalen Ozean. Rund 46 Milliarden Dollar setzte die Kreuzfahrtindustrie im Jahr 2018 um; drei Viertel davon erwirtschafteten die drei grössten Reedereien der Welt. Sie alle sind zu der Zeit entstanden, als der Flugverkehr das Geschäft mit den Passagierschiffen zu bedrohen begann, und sie alle haben die Kreuzfahrt revolutioniert. Die «Norwegian Caribbean Line» wurde 1966 vom norwegischen Reeder Knut Klosters und vom amerikanischen Geschäftsmann Ted Arison gegründet; als ihr erstes Schiff zwei Jahre später ausgeliefert wurde, waren die beiden zerstritten. Klosters baute daraufhin alleine die «weisse Flotte» auf. Sein Erfolgsrezept bestand darin, die unterschiedlichen Schiffsklassen und die steifen Umgangsformen über Bord zu werfen: Das neu eingeführte Einklassensystem übertrug die ungezwungene Stimmung amerikanischer Resorthotels aufs Meer und lockte jüngere Menschen an.
Arne Wilhelmsen, ebenfalls Spross einer norwegischen Reederfamilie, verjüngte ab 1970 mit der Royal Caribbean Cruise Line die Optik der Kreuzfahrtschiffe: Sie waren flach genug, um in karibische Häfen einzulaufen, und wiesen innen die moderne Ästhetik auf, die auch «Hilton» und «Hyatt» von herkömmlichen Hotels unterschied.
Die mit Abstand grösste Reederei ist aus dem Unternehmen von Ted Ariston hervorgegangen. Nach dem Streit mit Klosters liess er einen Ozeanliner zur «Mardi Gras» umbauen, die ab 1972 mit Roulette- und Black-Jack-Tischen und einer Halle voller Spielautomaten in See stach. Mit der Idee knüpfte Ariston an die «cruise to nowhere» an: In internationalen Gewässern konnte niemand das Glücksspiel verbieten oder Steuern darauf erheben. Die schwimmenden Kasinos waren ein so gutes Geschäft, dass Ariston kurz erwog, die Kreuzfahrten seiner Carnival Cruise Line gratis anzubieten. Heute gehören zur Carnival Corporation & Plc Marken wie Costa, Aida, Princess Cruises oder Cunard; 2019 nahm das Unternehmen fast 21 Milliarden Dollar ein und machte über 3 Milliarden Gewinn.
25. Januar. Mehrere Reedereien geben bekannt, dass sie keine Häfen in China mehr anliefen, die «Artania» nimmt Kurs auf Madagaskar, und Bruno Eisenring hustet. Die Grippe begleitet ihn schon eine Weile; drei Tage lag er mit 39 Grad Fieber im Bett. Er besucht das Bordhospital, ein Profitcenter, das sich einmietet und auf eigene Rechnung arbeitet. Das Wartezimmer ist voller erkälteter Passagiere, aber Sorgen macht sich niemand. Noch ist Corona an Bord nur eine Biermarke, die nicht einmal auf der Getränkekarte steht.
30. Januar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ruft einen internationalen Gesundheitsnotstand aus, und auf Mauritius ist für die «Artania» ein sogenannter Wechseltag: Ein Teil der Gäste schifft aus, neue steigen zu. Die Mehrzahl der Passagiere fährt nicht um die Welt, sondern nur auf einem von sieben Teilstücken mit. Für Weltreisende beginnen sich Dinge zu wiederholen – ein Kapitänsdinner, ein Oktoberfest, ein Austernbuffet finden auf jedem Abschnitt statt. Den Eisenrings macht das nichts aus. Sie haben die «Artania» auch gewählt, weil sie kein Megaliner ist mit unbegrenzter Unterhaltung und Kletterwänden, Minigolf oder Gokartbahn und schwindelerregenden Preisen an Bord. «Auf ein solches Schiff brächte man mich nicht einmal, wenn es gratis wäre», sagt Bruno Eisenring.
Ohne die Mega- und Gigaliner für 2500 bis weit über 6000 Passagiere wäre es nie zum Boom der Branche gekommen. Diese Erlebnisschiffe wurden nicht gebaut, um eine steigende Nachfrage zu befriedigen, sondern um neue Nachfrage zu schaffen. Während mit der «Artania» noch eine klassische Kreuzfahrt stattfindet, näherten sich die Reedereien mit den Erlebniskreuzfahrten den Preisen von Pauschalreisen an.
Alexis Papathanassis, der an der Hochschule Bremerhaven «Cruise Management» unterrichtet, sagt, je grösser ein Schiff sei und je mehr Kabinenkategorien es darauf gäbe, desto variabler könne eine Reederei ihre Preise gestalten. Sie sinken dank Frühbucherrabatten oder Last-Minute-Angeboten so weit, bis irgendjemand zugreift und das Schiff voll ist. Denn bei der Entscheidung eines Kunden, wo und wie er seine Ferien verbringt, stehen Kreuzfahrten im Wettbewerb – untereinander, aber auch zu anderen Reisearten. «Ist der Passagier erst einmal an Bord, hat die Reederei das Monopol auf sein Portemonnaie.» Getränke und Glücksspiel, Spezialitätenrestaurants mit Aufpreis und obligatorische Servicezuschläge, der Zugang zum Spa oder zum Internet, die Fotos vom Kapitänsdinner, die Fahrt im Gokart, die Landausflüge: Amerikanisch geprägte Schiffe nehmen mit diesen Umsätzen an Bord im Schnitt 40 Prozent ein, europäisch geprägte mehr als 25.
Welch schwimmende Goldgrube ein Schiff ist, zeigt das Internetportal cruisemarketwatch.com: Die «Diamond Princess» zum Beispiel, die zu Carnival gehört, wurde vor 16 Jahren für rund 500 Millionen Dollar gebaut und fuhr 2018 einen Umsatz von 362 Millionen Dollar ein – die Baukosten sind natürlich längst amortisiert. Für die «Artania», das grösste der Schiffe, die für Phoenix unterwegs sind, gibt das Portal für 2018 einen Umsatz von über 100 Millionen Dollar an.
5. Februar. Die japanische Gesundheitsbehörde stellt den Megaliner «Diamond Princess», der in der Nähe von Tokio liegt, unter Quarantäne; mehr als 3700 Menschen sitzen fest. 17 Tage später werden gegen 700 von ihnen mit Covid-19 infiziert sein und 6 an der Infektion sterben. Die Eisenrings erfahren auf den Seychellen aus dem Bordfernsehen von der Quarantäne; das deutsche Programm läuft mit einem Tag Verzögerung. Natürlich verfolgen sie die Corona-Krise, «aber halt nur mit einem Auge». China, Japan – das liegt ja nicht auf der Route ihres Schiffs. Auch die meisten Reedereien denken zu diesem Zeitpunkt noch so.
10. Februar. Bevor die Passagiere in Mahé auf den Malediven aussteigen dürfen, wird von den Behörden Fieber gemessen. Einige Passagiere beschweren sich, weil sie erst zwei Stunden später als geplant an Land können.
16. Februar. Eigentlich soll die «Artania» heute die kleine Insel Weh vor Sumatra anlaufen, doch der Kreuzfahrtdirektor verkündet über den Bordkanal, der Bürgermeister verwehre die Einfahrt, die Insel sei medizinisch zu schlecht ausgerüstet. Den Eisenrings macht das nichts aus. Die Insel Weh zählt nicht zu ihren Must-Sees, und es ist nicht die erste Abweichung vom Programm: Das namibische Lüderitz hat man ausgelassen, weil es zum Anlegen zu stürmisch war, in Kapstadt lag die «Artania» wegen des Winds länger als geplant.
In den Zentralen der Reedereien allerdings werden die Schiffe nun fieberhaft umgeleitet. Das Problem beschränkt sich nicht mehr auf den asiatischen Raum, wo mehr und mehr Länder ihre Häfen schliessen. In der Karibik entbrennt ein Machtkampf zwischen Behörden und Kreuzfahrtunternehmen, nachdem sich Jamaica und die Cayman-Inseln geweigert haben, ein Schiff anlegen zu lassen. Auf La Réunion im Indischen Ozean, wo die «Artania» vor vier Wochen lag, werfen Einheimische Steine und zünden Abfalleimer an, um die Busse für die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs an der Fahrt aus dem Hafen zu hindern.
25. Februar. Der erste Corona-Fall in der Schweiz wird bestätigt, und Bruno und Felicitas Eisenring besichtigen die Reisfelder und Tempel von Bali, dem einzigen indonesischen Hafen, der die «Artania» noch anlaufen liess. Die Polizeiautos, die die sechs Busse mit Passagieren eskortieren, sind nicht wegen des Virus da. Sie sorgen dafür, dass die Gäste nicht im dichten Verkehr steckenbleiben.
12. März. Ein Sportflieger zeichnet mit seinem Kondensstreifen Buchstaben in den Himmel über Sydney; «Wash hands» steht einen Moment lang dort geschrieben. Fasziniert fotografiert Bruno Eisenring die flüchtige Warnung, er sitzt gerade im Oberdeck eines Touristenbusses. Als er später zwei Australiern den Lift auf die Harbour Bridge offenhält und scherzhaft sagt, das koste fünf Dollar, versteht er die Pointe ihrer Antwort nicht: «Und zwei Rollen Toilettenpapier», entgegnet einer. Noch fühlen sich Eisenrings vollkommen sicher. «Als befänden wir uns auf einer Arche, die dem Virus immer ein Stück voraus ist.»
13. März. Am Abend schauen sich die Eisenrings im Opera House «Carmen» an; die Vorstellung ist ausverkauft. Es wird eine der letzten Aufführungen sein, bevor das Land grössere Veranstaltungen verbietet. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in Australien 156 bestätigte Covid-19-Fälle.
Was die beiden bei dem Bild von der «Artania» als Arche ausgeblendet haben, sind all die Landausflüge – und die Wechseltage. Am Vortag sind neue Crewmitglieder und ein neuer Kapitän an Bord gekommen, der Norweger Morten Hansen, an diesem Tag schiffen 631 neue Passagiere ein. Als sie ihre Reise antraten und irgendwo in ein Flugzeug gestiegen sind, glaubte man bei Phoenix Reisen noch, die Weiterreise sei gesichert. Als die Flugzeuge landen, sieht die Lage ganz anders aus. Vor der chilenischen Küste dümpelt die MS «Zandaam», nachdem sie von mehreren Häfen abgewiesen worden ist. Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC erlässt eine «no sail order» für die nächsten dreissig Tage. Die Reedereien Princess Cruises, Costa, Aida und Ocean Vicing Cruises stellen alle Kreuzfahrten ein.
14. März. Um halb fünf Uhr abends gehen die Bordlautsprecher in allen Lounges, auf allen Decks und in jeder Kabine an. Am Morgen hatte der Kreuzfahrtdirektor informiert, die Route müsse geändert werden, weil Bora Bora und Tahiti keine Schiffe mehr anlaufen liessen. Jetzt sagt er, Neuseeland habe vor wenigen Stunden bekanntgegeben, dass auch seine Häfen für Kreuzfahrtschiffe gesperrt seien: «Damit hat es keinen Sinn mehr, die Reise fortzusetzen. Die ‹Artania› wird sich so bald als möglich auf die Rückfahrt nach Bremerhaven begeben.»
An diesen Moment erinnert sich Bruno Eisenring genau. Sie hören die Nachricht in der Kabine, sofort rufen Bekannte auf dem Schiff an. Man verabredet sich in der Bar, trinkt und berät. Die Passagiere haben die Wahl: Sie können in den nächsten Tagen von Sydney aus nach Hause fliegen. Oder mit der «Artania» bis nach Bremerhaven mitfahren; 28 Tage auf See, ohne einen Landgang. Rasch ist für die Eisenrings klar, dass sie auf dem Schiff bleiben. Der Kreuzfahrtdirektor kündigte den Passagieren eine trotz allem schöne Seereise an, mit mehr Unterhaltung an Bord. Ausserdem, so glauben die beiden, seien sie in den 28 Tagen auf dem Schiff vor dem Virus sicherer als in der Schweiz, wo schon 19 Menschen daran gestorben sind. Von den 1038 Passagieren bleiben 836 an Bord. Eine Entscheidung, die sie bereuen werden.
18. März. Die beiden Bordärzte gehen nach einem Zeitplan von Kabine zu Kabine und messen die Temperatur aller Passagiere, während die «Artania» mit letzten Lebensmitteln und Medikamenten beladen wird. Weltweit sind jetzt mehrere Dutzend Kreuzfahrtschiffe unterwegs, die nach offenen Häfen suchen, um ihre Passagiere auszuschiffen. Die Aktien der drei grössten Reedereien der Welt erreichen ihren Tiefpunkt. Seit Anfang Jahr haben sie 80 Prozent ihres Wertes verloren.
19. März. Die «Artania» nimmt Kurs auf Westaustralien. Eine Woche später soll sie in Fremantle bei Perth anlegen und Treibstoff bunkern.
21. März. Am späteren Nachmittag ist der Kreuzfahrtdirektor auf dem Bordkanal 8 in Endlosschlaufe zu sehen: Ein Passagier, der in Sydney zugestiegen und drei Tage später zurückgeflogen ist, sei in Deutschland positiv auf Covid-19 getestet worden. Es bestehe kein Grund zur Beunruhigung. Vor den Restaurants stehen nun Crewmitglieder mit Sprühflaschen, damit kein Gast vergisst, die Hände zu desinfizieren.
23. März. Die Eisenrings sehen sich mit gemeinsam mit mehreren hundert Zuschauern in der Atlantic Show Lounge die Flower Power Men an, eine grandiose Stimmung herrscht. Der Gitarrist gibt danach Autogramme, verkauft CD und posiert für Fotos. Als er kurze Zeit später von Bord aus dem Berliner «Tagesspiegel» über die Situation auf der «Artania» berichtet, erwähnt er, er habe sich am Morgen vor dem Konzert schwach und müde gefühlt und ein Kratzen im Hals verspürt.
24. März. Morgens um halb acht wecken die Bordlautsprecher die Passagiere: Mehrere Leute mit Fieber hätten sich bei den Bordärzten gemeldet. Die Animationsprogramme werden sofort eingestellt, der Spa geschlossen, in den Restaurants dürfen sich die Gäste nicht mehr selber an den Buffets bedienen. Die Crew trägt nun Mundschutz, und an den Tischen lässt man Stühle frei. Bruno Eisenring fällt auf, dass die «Artania» Fahrt aufnimmt. Schipperte sie vorher mit gemächlichen 12 bis 14 Knoten, fährt sie jetzt fast doppelt so schnell.
25. März. Anders als geplant, legt die «Artania» nicht am Pier von Fremantle an, sondern ankert vor dem Hafen auf Reede. Auch in Australien hat der Wind gedreht. In Sydney waren zuvor 2700 Passagiere der «Ruby Princess» ungehindert an Land gegangen, obwohl es an Bord Menschen mit Grippesymptomen gab; über 650 wurden später positiv auf Covid-19 getestet. Nun fällt auch hier der böse Begriff: schwimmende Petrischalen. Um zehn Uhr kommen Mitarbeiter der australischen Gesundheitsbehörde an Bord der «Artania», um die Fiebernden auf Corona zu testen. Währenddessen umkreisen Boote mit Fotografen und Kamerateams das Schiff, und Drohnen überfliegen die Decks.
Kurz nach neun Uhr abends gehen die Bordlautsprecher an. Sieben Menschen sind positiv. Alle Passagiere müssen sich sofort in ihre Kabinen begeben und dort bleiben.
26. März. Der Regierungschef von Westaustralien fordert, dass die «Artania» verschwinde, andernfalls werde er die Marine zu Hilfe rufen. Er werde nur schwerkranken Passagieren erlauben, von Bord zu gehen, die anderen müssten auf dem Seeweg nach Deutschland zurück. Der Politiker befürchtet, die Spitäler könnten mit ausländischen Patienten geflutet werden. Vor allem, wenn die «Artania» zu einem Präzedenzfall und Fremantle zum Magnet für Kreuzfahrtschiffe auf der verzweifelten Suche nach einem Hafen werden könnten.
Felicitas und Bruno Eisenring schauen die Nachrichten in der Kabine, lesen in der Kabine, beginnen in der Kabine zu packen; die Tage nehmen kein Ende. Manchmal fragen sie sich, ob die Reise ein Fehler war. Deckweise dürfen die Passagiere eine Stunde pro Tag an die frische Luft, wie Hofgang im Gefängnis. Und täglich kommt jemand vom Bordhospital vorbei, um Fieber zu messen, danach sind die Eisenrings jeweils wieder ein bisschen beruhigt. Die Mahlzeiten werden an die Tür gebracht. Anfangs streikt das Kabinenpersonal, warum, wissen die Eisenrings nicht. Später nimmt es die Arbeit wieder auf.
In den Büros von Phoenix Reisen in Bonn finden inzwischen täglich mehrere Konferenzschaltungen mit Teilnehmern der Reederei, des deutschen Aussenministeriums und der australischen Behörden statt. Fieberhaft wird nach einer Lösung gesucht und verhandelt, um die Passagiere zu evakuieren.
Am Abend bittet Kapitän Hansen wegen eines medizinischen Notfalls an Bord offiziell um Hilfe: Ein 71-jähriger Passagier ist lebensbedrohlich erkrankt, allerdings nicht an Corona. Die «Artania» darf aus humanitären Gründen anlegen. Der Mann und die an Covid-19 Erkrankten werden von Bord und ins Spital gebracht, die «Artania» bleibt am Pier. Hansen streicht den Passagieren ihren Freigang auf Deck, damit keine Fotos von zu eng beieinanderstehenden Leuten in den australischen Zeitungen erscheinen.
27. März. Die «Artania» liegt am Pier, während Donald Trump das zweite Hilfspaket für die amerikanische Wirtschaft unterzeichnet, über zwei Billionen Dollar. Obwohl er zuvor verkündet hatte, die Kreuzfahrtindustrie zu retten, schliesst das Paket die Branche vorsätzlich aus: Der Kongress hatte beschlossen, nur Firmen zu unterstützen, die von den USA aus tätig seien und unter amerikanischer Gesetzgebung stünden. Es räche sich nun, dass so gut wie alle Kreuzfahrtschiffe unter einer «flag of convenience», einer Billigflagge, führen, sagt Alexis Papathanassis von der Hochschule Bremerhaven. In Staaten wie Panama, Bahamas oder Bermuda müssten die Unternehmen keine oder kaum Steuern, sondern nur Gebühren zahlen, und auch das Arbeitsrecht auf dem Schiff richte sich nach dem Flaggenstaat.
29. März. Heimreise heisst jetzt Evakuierung. Kurz nach Mittag sitzen Felicitas und Bruno Eisenring mit Gesichtsmasken in der Pacific Lounge. Für die Evakuierung hat Phoenix Reisen vier Flugzeuge gechartert, doch die Flüge sind verspätet. Die Stimmung unter den Passagieren ist angespannt. Gegen halb vier betritt der Bordarzt die Lounge und sagt, einige dürften nicht mitfliegen. Sie hätten bei der Untersuchung am Morgen Fieber gehabt und würden in ein Krankenhaus oder in ein Hotel gebracht. Er verliest neun Namen. Eisenring ist nicht dabei. Neun Passagiere verlassen die Lounge mit versteinertem Gesicht und Tränen in den Augen.
Um halb sechs Uhr abends besteigen die Eisenrings ihren Bus. Draussen stehen Menschen und fotografieren, manche winken. Von einer Polizeieskorte begleitet, fahren die Busse zum Flughafen und dort direkt aufs Rollfeld. Im Flugzeug sagt die Stewardess, bei diesem Flug handle es sich um eine Rückführung und es gebe keinen Service. Die Flugbegleiter verteilen Plastiksäcke mit zwei Sandwiches, einem Apfel, einem Schokoriegel und zwei Flaschen Wasser; dann verschwinden sie in die erste Klasse, die für sie reserviert ist.
Nach der Landung in Frankfurt werden die Eisenrings in den Bus für die Schweizer Passagiere gebracht. Als sie am Donnerstagabend in Zürich ankommen, ist der Hauptbahnhof mitten in der Stosszeit menschenleer.
3. April. Ein Passagier der «Artania», ein 69-jähriger Deutscher, stirbt im Spital in Perth an den Folgen von Covid-19.
7. April. Der Passagier, der als medizinischer Notfall ausgeschifft wurde, aber nicht wegen Covid-19, stirbt.
16. April. Ein 42-jähriger Filipino, der seit 14 Jahren auf der «Artania» arbeitet, stirbt an den Folgen von Covid-19. An Bord der «Artania» spricht die Crew ein gemeinsames Gebet, jeder für sich allein, dann ertönt «I am sailing» aus den Bordlautsprechern. Passagiere sind keine mehr an Bord. Die australischen Behörden hatten eingewilligt, dass die «Artania» ihre Quarantäne vor Fremantle verbringt. Seit zwölf Tagen darf niemand seine Einzelkabine verlassen.
Ein Team von dreissig Industriereinigern desinfiziert inzwischen jede Ecke des Schiffs. Sicherheitspersonal patrouilliert, Videokameras überwachen die Gänge. Eine Cateringfirma stellt jeden Abend eine warme Mahlzeit und Nahrung für die nächsten 24 Stunden vor die Kabinentüren: Frühstücksflocken, Früchte, Sandwiches. Erst nach der Durchsage, auf dem Deck sei alles verteilt, dürfen die Türen geöffnet werden. Alle zwei Tage misst jemand aus dem 17-köpfigen Team der Gesundheitsbehörde die Temperatur, in Schutzkleidung und mit Masken, das ist der einzige menschliche Kontakt.
Kapitän Hansen hält täglich eine Rede, informiert, wenn jemand von der Besatzung Symptome zeigte und deshalb ausgeschifft wurde, spricht einzelnen Leuten Mut zu. Die Kosten bezahlt Phoenix Reisen, und dank all den Aufträgen für Caterer, Sicherheitsleute und Reinigungsfirmen habe das der lokalen Wirtschaft zu einem kleinen Aufschwung verholfen, lässt sich die australische Verantwortliche vor Ort zitieren.
18. April. Die «Artania» verlässt den Hafen, ein Transparent mit den Worten «Thank You Fremantle» hängt vom obersten Deck. Von den 403 Crewmitgliedern, die jetzt noch an Bord sind, will der Kapitän so viele wie möglich mit dem Schiff nach Hause bringen. Auf der «Artania» befinden sich auch wieder acht Passagiere. Sie haben ihre Quarantäne in einem Hotel in Perth verbracht und sind für die Heimfahrt an Bord zurückgekehrt. Offiziell gab es diese Möglichkeit nicht. Aber die acht Deutschen hatten ihre Weltreise ab und bis Deutschland gebucht, weil sie aus medizinischen Gründen nicht fliegen dürfen – oder so schlimme Flugangst haben, dass sie um keinen Preis in ein Flugzeug steigen; wenn sie in Bremerhaven ankommen, werden sie die letzten Kreuzfahrtpassagiere der Welt sein.
In Australien gibt es jetzt 6600 Corona-Fälle und 72 Tote, über ein Viertel der Ansteckungen und 40 Prozent der Todesfälle gehen auf Kreuzfahrtschiffe zurück.
23. April. Die «Artania» schifft auf Jakarta gut fünfzig indonesische Crewmitglieder aus.
1. Mai. Die «Artania» schifft in Manila mehr als zweihundert philippinische Crewmitglieder aus. Um 12 Uhr Ortszeit ertönen wie auf allen Häfen der Welt die Schiffshörner, um auf die schwierige Lage der Seeleute aufmerksam zu machen. Die drei grössten Reedereien verbrennen nun mehr als eine Milliarde Dollar jeden Monat.
Das werde die Kreuzfahrtbranche überleben, sagt Alexis Papathanassis von der Hochschule Bremerhaven. Allerdings beschleunige die Corona-Krise Trends, die bereits vorher absehbar gewesen seien: Während sich die grossen Reedereien neues Geld an der Börse besorgen könnten, werden ein paar kleinere wohl geschluckt. Vor allem aber müssten die Schiffsbetreiber ernsthaft an ihrem Ruf arbeiten und von den «flags of convenience» zu «flags of confidence», zu vertrauenswürdigen Flaggen, wechseln, auch wenn das teurer sei. Eine Reedereien haben bisher beinahe rufschädigend ungeschickt kommuniziert. Er sei geschockt gewesen, als Carnival mitten in der Krise bekanntgegeben habe, sie wolle schon am 1. August wieder losfahren, sagt Papathanassis. Sie hätten beweisen müssen, dass bei ihnen das Wohl der Menschen über jedem Profitdenken stehe, stattdessen hätten sie in den letzten Wochen vor allem drei Dinge vermittelt: «Erstens: Wir wollen Hilfe vom Staat. Zweitens: Hunderttausend Crewmitglieder hängen auf Kreuzfahrtschiffen fest, aber das ist nicht unsere Priorität, und sie werden zum Teil nicht einmal bezahlt. Und drittens: Wir wollen jetzt sofort wieder los.»
11. Mai. Auf dem Screenshot des Schiffsradars ist zu erkennen, dass die «Artania» ein seltsames Manöver gefahren ist. Auf Facebook rätseln ehemalige Passagiere, ob das eine Rettungsübung war. Aber der Grund ist ein anderer. Der Kapitän zeichnete mit seinem Schiff ein Herz aufs Meer, um die Mütter zu grüssen; einen Tag verspätet, weil am Muttertag zu viel Schiffsverkehr war.
24. Mai. Am Abend meldet sich Kapitän Morten Hansen, der Kapitän der «Artania», aus dem Golf von Aden schriftlich bei der NZZ: Die Stimmung an Bord sei sehr gut, die Ärzte würden nach wie vor die Temperatur und den Gesundheitszustand von jedem Einzelnen an Bord kontrollieren. Seine Besatzung, jetzt noch 113 Leute, sei damit beschäftigt, das Schiff in gutem Zustand zu erhalten, auch die Passagiere hätten eine tägliche Routine entwickelt. «Jetzt steht noch die Fahrt durch den Suezkanal an, danach planen wir unsere Ankunft in Bremerhaven. Ich freue mich, die Besatzung dort wohlauf meiner Ablöse zu übergeben, danach möchte ich nur noch nach Österreich zu meiner Familie.»
29. Mai. Geht alles gut, trifft die «Artania» in neun Tagen mit den letzten acht Kreuzfahrtpassagieren der Welt in Bremerhaven ein. In Rorschacherberg haben die Eisenrings das Geld für den ausgefallenen Teil ihrer Weltreise bereits auf dem Konto. Sie hätten stattdessen einen Gutschein mit zehn Prozent Aufschlag für eine nächste Reise wählen können, aber Bruno Eisenring ist nicht sicher, ob er noch einmal auf eine so lange Kreuzfahrt will. Nicht wegen der Angst vor einer neuen Seuche. Sondern weil er findet, er habe für den Moment genug Inseln, Strände, Metropolen gesehen.
Auf Facebook ist währenddessen ein Streit unter ehemaligen Gästen entbrannt. Die Dankbarkeit dafür, knapp einer Katastrophe entkommen zu sein, verblasst. Nun ärgern sich einige, dass sich ihre Koffer noch immer an Bord der «Artania» befinden. Man hätte sie ja in einem Hafen ausladen und nach Deutschland fliegen oder schneller fahren können oder wenigstens keine Zeit vergeuden, indem man ein Herz in den Ozean zeichnet.