«Ich war ja nicht ein Doper, der mit der Nadel im Arm erwischt worden war» – wie ein Schweizer Handballer gegen den Vorwurf des Betrugs kämpfte

Simon Getzmann ahnte nichts Böses, als er sich einem Dopingtest unterzog. Als er erfuhr, dass die Kontrolle positiv ausgefallen war, beteuerte Getzmann seine Unschuld – nach einem aufwendigen Verfahren bekam er Recht. Ein Auszug aus dem neuen Buch «Der vergiftete Sport», das der langjährige Anti-Doping-Kämpfer Matthias Kamber als Co-Autor geschrieben hat.

Matthias Kamber, Benjamin Steffen
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Bei der Doping-Kontrolle lächelt Simon Getzmann heute nicht mehr.

Bei der Doping-Kontrolle lächelt Simon Getzmann heute nicht mehr.

Simon Tanner / NZZ

Simon Getzmann räumte jeden Schrank in seiner WG aus, er überprüfte die Zusammensetzungen von Shampoo und Duschgels, er googelte und suchte nach Gründen. Wieso? Wieso war seine Dopingprobe positiv?

Am 17. Dezember 2014 war bei Getzmann, Handballer beim Schweizer Klub BSV Bern Muri, eine Dopingkontrolle erfolgt. Formsache, wie er meinte. Bis ihn am 14. Januar 2015 ein eingeschriebener Brief von Antidoping Schweiz erreichte. «Sehr geehrter Herr Getzmann, die Analyse Ihrer Urinprobe, erhoben anlässlich einer Wettkampfkontrolle am 17. Dezember 2014, hat die Präsenz von Hydrochlorothiazid ergeben.»

Getzmann geriet in Panik. Und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ihn in dieser Geschichte die Angst übermannte. «Es ist spannend zu erfahren, wie sich plötzlich alle gegen dich stellen», sagt Getzmann. Ein führender Funktionär des Schweizerischen Handballverbands rief ihn an und sagte, es sei doch «eine Frechheit». Soeben sei Getzmann erstmals ins Nationalteam berufen worden, nun falle ein schlechtes Licht auf die Auswahl. «Er schiss mich zusammen. Ich entgegnete, ich hätte nichts genommen. Aber wem erzählst du das? Sagen ja alle.»

Ungewissheit und Argwohn

Hydrochlorothiazid ist auf der Dopingliste der Welt-Anti-Doping-Agentur in der Substanzklasse der Diuretika und Maskierungsmittel aufgeführt – und jederzeit verboten. Hydrochlorothiazid ist ein harntreibender Wirkstoff, der in der Regel in Kombination mit Blutdruckmitteln zur Behandlung von Ödemen, Bluthochdruck und einer Herzinsuffizienz verwendet wird. Im Sport sind Diuretika verboten, weil sich durch eine schnelle Gewichtsreduktion bei Sportarten wie Gewichtheben, Boxen, Judo oder Ringen die Einteilung in eine tiefere Gewichtsklasse erreichen lässt. Zudem können Diuretika eine niedrige Urindichte bewirken, was etwaige andere Dopingmittel verdünnt und schwerer nachweisbar macht.

Getzmann sagt, die Zeit der Verdächtigungen habe ihn zu einem «psychischen Wrack» gemacht. «Ich wusste nie: Ist heute mein letztes Training? Werde ich morgen provisorisch gesperrt?» Und vor allem: der Argwohn der Leute. «Diese Skepsis, fast überall. Schwierig. Man weiss von niemandem, wie sie in einer solchen Situation reagieren, weder von den Mitspielern noch von Trainer, Klubchefs, Arzt, Vater, Partnerin. Ich habe ein sehr enges Verhältnis zu meinem Vater, gerade was den Sport betrifft. Es gab Zeiten, da verpasste er kein Match von mir. Er sagte mir, er glaube mir, dass ich nichts genommen hätte – aber er wisse es ja nicht. Da merkst du ganz stark, dass sich jeder selber der Nächste ist. Ist einfach so.»

«Jetzt bist du komplett am Arsch»

Nachdem Getzmann über den Befund orientiert worden war, wandten sich mehrere Personen an Antidoping Schweiz und sagten aus, dass Getzmann niemals zu Doping greifen würde; er nehme zudem nie oder nur selten Nahrungsergänzungsmittel oder Medikamente. Die einzig mögliche Hilfe von Antidoping Schweiz bestand darin, Getzmann darauf hinzuweisen, dass er minuziös aufschreiben solle, was er zu sich genommen hatte, alles, auch Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente. In den vorangegangenen Jahren hatten mehrere Male Nahrungsergänzungsmittel eine positive Dopingprobe mit Diuretika verursacht. Zudem empfahl Antidoping Schweiz Getzmann, die B-Probe zu verlangen und bei deren Öffnung zugegen zu sein, damit er sichergehe, dass die Probe korrekt versiegelt sei und keine Verwechslung vorliege.

27. Januar, Fahrt nach Lausanne zum Laboratoire Suisse d’Analyse du Dopage (LAD), Öffnung der Probe. «Mein Vater reiste mit mir», sagt Getzmann. «In Lausanne benahm sich der Jurist von Antidoping Schweiz so, als wäre ich ein Schwerverbrecher. So empfand ich es jedenfalls. Ich überlegte mir bereits, dass ich im Fall einer Sperre ein wenig Fussball spielen ginge, mit Kollegen beim FC Goldstern – um mir das schlechte Gefühl zu nehmen. Aber als dieser Gedanke zur Sprache kam, sagte mir der Jurist, dass die Sperre für jede Sportart gelten würde, auf jeder Stufe. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen – jetzt bist du komplett am Arsch.»

Auch die B-Probe ist positiv

Am 28. Januar 2015 erhielt Antidoping Schweiz vom LAD in Lausanne die Bestätigung, dass auch die B-Probe Hydrochlorothiazid enthielt. Über die Konzentration der verbotenen Substanz machte das Labor keine Angaben. Erst im Verlauf des Verfahrens trat zutage, dass die gefundene Konzentration äusserst gering war, nahe der Nachweisgrenze des Labors.

Am 6. Februar 2015 beantragte Antidoping Schweiz bei der Disziplinarkammer für Dopingfälle von Swiss Olympic die Eröffnung eines Verfahrens wegen Verstosses gegen die Dopingbestimmungen.

Am 9. Februar eröffnete die Disziplinarkammer das Verfahren.

Und am 29. Mai 2015 reichte Getzmann nach verschiedenen Fristerstreckungen eine Stellungnahme ein. Getzmanns Forderung: Einstellung des Verfahrens.

Was war geschehen?

Wieder suchen, wieder googeln

Getzmanns Begründung: In einem Handballspiel vom 3. Dezember 2014 habe er sich eine Schulterprellung zugezogen. Das folgende Spiel vom 6. Dezember habe er unter Schmerzen, aber ohne Schmerzmittel absolviert, wogegen er am 9. Dezember an einem weiteren Spiel in Absprache mit Mannschaftsarzt und Mannschafts-Physiotherapeut zwecks Schmerzlinderung und Entzündungshemmung drei Filmtabletten des Präparats «lbuHexal akut 400 mg Filmtabletten» zu sich genommen habe. Da sich dieses Medikament nicht auf der Dopingliste befinde, hätten sowohl Getzmann als auch Arzt und Physiotherapeut keinerlei Probleme gesehen. Erhalten habe er die Tablette vom Physiotherapeuten, der ihm einen neuen, unangebrochenen Blister (wie Sichtverpackungen auch genannt werden) mit zehn Filmtabletten ausgehändigt habe. Die Packung habe von einem Einkauf in einer Apotheke in Deutschland gestammt, in der der Physiotherapeut zehn Packungen lbuHexal erworben habe. Getzmann habe diese Schmerzmittel auch bei den Spielen vom 14. und 17. Dezember 2014 zu sich genommen. Am Tag der Dopingkontrolle sei noch eine Tablette im Blister gewesen.

Im Strafrecht muss der Staat einem möglichen Täter die Tat nachweisen. In der Dopingbekämpfung gilt die umgekehrte Beweislast. So ist es nicht notwendig, dass die Anti-Doping-Organisation Vorsatz, Verschulden oder Fahrlässigkeit seitens des Athleten beweist, um einen Dopingverstoss festzustellen. Das Vorhandensein einer verbotenen Substanz im Körper des Athleten reicht für die Feststellung eines Dopingfalls. Der Athlet muss danach glaubhaft aufzeigen, wie die Substanz in den Körper kam – und dass er alles unternommen hatte, um dies zu verhindern. Einzig wenn den Athleten kein oder nur ein geringes Verschulden trifft und er nicht fahrlässig gehandelt hat, lassen sich Sanktionen reduzieren oder aufheben.

Hilfe vom Kantonsapotheker

Nach der positiven B-Probe hatte Getzmann wieder zu suchen und zu googeln begonnen. Er wollte herausfinden, wie sich überprüfen lässt, aus welchen Inhaltsstoffen ein Medikament besteht, und stiess auf das Pharmazeutische Kontrolllabor des Kantons Bern und auf Hans-Jörg Helmlin, Kantonsapotheker.

Getzmann sagt: «Ich hatte das Gefühl, jeder sei gegen mich – oder nicht proaktiv für mich. Die erste Person, die anders wirkte, war Hans-Jörg Helmlin. Er meinte, der Fall sei sehr spannend, und er versuche, im Rahmen seiner Möglichkeiten nachzuforschen. Bei ihm spürte ich, dass er nicht sofort dachte, ich sei schuld. Ich war ja nicht ein Doper, der mit der Nadel im Arm erwischt worden war.»

Getzmann übergab Helmlin die letzte verbliebene Tablette aus dem verwendeten Blister und andere Tabletten aus dem Einkauf in Deutschland. Diese Tabletten hatten andere Herstellungs-Chargennummern als die von Getzmann verwendeten Tabletten. Am 20. Februar 2015 erfuhr Getzmann von Helmlin, dass in der letzten Tablette des angebrochenen Blisters neben dem Wirkstoff Ibuprofen auch Spuren des nicht deklarierten Hydrochlorothiazid gefunden worden seien. Helmlin schätzte die Verunreinigung auf 0,002 Milligramm pro Tablette zu 400 Milligramm. In den übrigen Tabletten mit anderen Herstellungschargen fand sich keine Verunreinigung.

Die Placebo-Tabletten

Helmlin forderte die Herstellerfirma Hexal dazu auf, ihm Rückstellmuster der infrage kommenden Produktionseinheit für weitere Analysen zur Verfügung zu stellen. Rückstellmuster sind fertig produzierte Medikamente einer Produktionscharge, die gelagert werden müssen, damit sich bei Fragen der Qualität oder Produktesicherheit darauf zurückgreifen lässt. Darauf unternahm Hexal selber Abklärungen und bestätigte, dass in der besagten Charge die Verunreinigung mit Hydrochlorothiazid beim sogenannten Coating-Prozess entstanden sei. Der Überzug («coating») macht eine Tablette besser schluckbar und schützt sie vor Zerbrechen. Zudem erfolgte die Bestätigung, dass nur die besagte – von Getzmann verwendete – Charge verunreinigt worden war, keine andere sonst. Aber: Die Verunreinigung lag deutlich unter der Grenze, die durch die Good Manufacturing Practice definiert ist – die Herstellerfirma hatte keinen Fehler begangen.

Auch Antidoping Schweiz erhielt Getzmanns Eingabe mit den Analysen aus dem kantonalen Kontrolllabor. Damit stand Antidoping Schweiz vor der Frage, ob der positive Dopingfall mit dieser Geschichte erklärbar war – und ob es denn überhaupt möglich sei, dass ein derart niedrig verunreinigtes Medikament bei sachgemässer Anwendung ein positives Analyseresultat verursache.

Für die Verifikation unternahm Antidoping Schweiz mit dem Anti-Doping-Labor in Köln sogenannte Ausscheidungsversuche. Bei Ausscheidungsversuchen wird die Anwendung des Medikaments simuliert, also: Anzahl eingenommener Tabletten, Einnahmezeit, Einnahmedauer. Zudem werden Urinproben zu verschiedenen Zeiten gesammelt und analysiert. Dieser Prozess hilft herauszufinden, wie und wie schnell sich ein Medikament im Körper abbaut. Zu diesem Zweck stellte die Apotheke des Inselspitals in Bern eine 400-mg-Placebo-Tablette her und versetzte sie mit derselben Menge Hydrochlorothiazid, die der Verunreinigung bei Getzmann entsprach. Anschliessend führten zwei freiwillige Personen Ausscheidungsversuche mit den verunreinigten Placebo-Tabletten durch. Dabei zeigte sich: Wenn jemand – wie bei diesem Schmerzmittel üblich – täglich dreimal eine Tablette einnahm, liess sich im Urin eine ähnliche Konzentration an Hydrochlorothiazid wie bei Getzmanns positiver Probe feststellen.

Blut schwitzen

Gemäss dem Dopingstatut von Swiss Olympic muss bei einer positiven Dopingprobe der Tatbestand Doping festgestellt und anschliessend die Sanktion festgelegt werden. Antidoping Schweiz erkannte an, dass die Ausführungen des Angeschuldigten Getzmann, wonach das Hydrochlorothiazid durch das verunreinigte Medikament aufgenommen worden sei, glaubhaft seien. Antidoping Schweiz beantragte deshalb lediglich die Feststellung eines Dopingfalles, aber keine Sperre. Getzmann und sein Anwalt hingegen argumentierten, dass Normen nicht nur anhand ihres Wortlautes, sondern auch anhand ihres Zweckes, ihrer Entstehungsgeschichte auszulegen seien. Deshalb: keine Feststellung eines Dopingfalles.

Die Disziplinarkammer sprach Getzmann am 20. Februar 2016, mehr als ein Jahr nach der verhängnisvollen Dopingkontrolle, vom Vorwurf des Dopings frei.

Getzmanns Geschichte zeigte auf, dass erlaubte Medikamente zu einem positiven Analyseresultat führen können. Höchstwahrscheinlich war es der weltweit erste wissenschaftlich nachgewiesene Fall einer positiven Dopingkontrolle aufgrund eines korrekt zugelassenen Medikaments.

Getzmann sagt, früher sei er immer mit einem Lächeln zur Dopingkontrolle gegangen, «denn ich wusste ja, ich nehme nichts». Doch als er letzthin wieder einmal zum Test gebeten worden sei, da habe er Blut geschwitzt.

Matthias Kamber, Benjamin Steffen: Der vergiftete Sport. Orell Füssli, Zürich 2020. 224 S., Fr. 23.00.