Schweizer Grosstat im Himalaja – mit dem «Yeti» im Reich des Dhaulagiri

Im Mai 1960 gelingt einer Expedition die sensationelle Erstbesteigung des Dhaulagiri. Sie setzt dabei neue Massstäbe im Alpinismus.

Marc Tribelhorn
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Erkundung der steilen Flanken am «Berg ohne Gnade».

Erkundung der steilen Flanken am «Berg ohne Gnade».

Orell Füssli/Max Eiselin, «Erfolg am Dhaulagiri»

Diese Geschichte beginnt mit einer Niederlage. Als der Luzerner Max Eiselin im Mai 1958 in Westnepal in die Höhe blickt, weiss er, dass es aussichtslos ist: «In den Flanken des Dhaulagiri wüten die Lawinen, und auf den Gletschern herrscht Sturm.» Auch der Monsun kündet sich bereits an. Einmal mehr verhindern die extremen Wetterverhältnisse eine Besteigung des höchsten noch unerreichten Gipfels der Erde.

8167 Meter über Meer ragt der «Weisse Berg», wie der Himalajariese in der Sprache der Einheimischen heisst. Seine steilen, windgepeitschten Wände sind berüchtigt. 1950 stand erstmals eine französische Expedition vor dem «Angriff», die Weltpresse war entzückt, doch die Bergsteiger gaben Forfait – «unmöglich!» - und bestiegen dann mit der Annapurna den ersten Achttausender überhaupt. Seither versuchten sich am Dhaulagiri Argentinier, Deutsche oder eben Schweizer. Stets erfolglos, sogar Tote gab es. Doch der 26-jährige Max Eiselin plant auf der Rückreise bereits den nächsten Versuch: Eine noch nie begangene Route über den Nordostgrat des «Bergs ohne Gnade» soll den Erfolg bringen. Sie erscheint ihm wie «eine wahre Himmelsleiter». Und der Schweizer will in den eisigen Höhen des Himalajas einsetzen, was noch nie jemand zuvor gewagt hat: ein Gletscherflugzeug.

Beste Kontakte zum König

Das Unterfangen ist «bestenfalls eine mutige Torheit», wie Eiselin später zugeben wird. Und tatsächlich gestaltet sich die Verwirklichung des Plans schwierig. Da die nepalesische Regierung pro Jahr nur eine Bewilligung für die Besteigung des Dhaulagiri erteilt, muss sich der Schweizer gedulden. 1959 sind zunächst die Österreicher dran. Sie versuchen auf Anraten Eiselins die neue Route, müssen aber wegen schwerer Stürme aufgeben. 1960 bekommt die Schweiz erneut die Lizenz, obwohl sich viele andere Expeditionen darum bemüht haben. Das Erklimmen der höchsten Dächer der Welt ist alpinistischer Traum und wissenschaftliche Pioniertat, zugleich aber auch nationaler Wettstreit: Alle wollen sich in den Gipfelbüchern der letzten noch «unbezwungenen» Achttausender verewigen. Eiselin profitiert davon, dass die Schweiz mit Nepal beste Beziehungen pflegt, vor allem in der Entwicklungshilfe. Und völlig überraschend wird sogar der Einsatz eines Flugzeugs erlaubt. Der Schweizer Geologe Toni Hagen, der seit langem für die Uno in Nepal tätig ist, hat beim König ein gutes Wort eingelegt.

Expeditionsleiter Eiselin stellt nun eine 13-köpfige Truppe zusammen. Unter den Teilnehmern befinden sich etwa der Basler Albin Schelbert sowie die beiden Toggenburger Peter Diener und Ernst Forrer, starke Kletterer, die im beruflichen Leben als Innenarchitekt, Dachdecker und Briefträger tätig sind. Dabei sind aber auch Himalaja-Veteranen wie der Salzburger Kurt Diemberger, der als Erster den Achttausender Broad Peak bestiegen hat, der Kameramann Norman Dyhrenfurth oder der Arzt Georg Hajdukiewicz. Für die gefährlichen Gletscherflüge kann der Militärpilot Ernst Saxer gewonnen werden.

Beim Flugzeug fällt die Wahl auf ein einheimisches Fabrikat: den Prototyp Pilatus Porter PC-6. Die robuste einmotorige Maschine kann für Passagier- wie Gütertransporte eingesetzt werden. Vor allem aber ist sie geeignet, um in extreme Höhen aufzusteigen und auf kurzen Pisten zu starten und zu landen. Das Flugzeug wird gelb und rot bemalt und erhält den Namen «Yeti», was mehr als ein Gag ist: «Neben der Erstbesteigung des Dhaulagiri setzt sich die Expedition ein Ziel, dessen Lösung hauptsächlich durch das langsam fliegende Gletscherflugzeug ermöglicht wird: die Suche nach dem sagenhaften Yeti, dem ‹fürchterlichen Schneemenschen›», berichtet die NZZ im Februar 1960.

Das Abenteuer möglich machen private Spender sowie der Verkauf von 30 000 Postkarten, die dann mit den Unterschriften der Alpinisten aus Nepal versendet werden. Auch Sponsoring ist schon ein Thema: Mit der Dhaulagiri-Expedition werben später nicht nur die Pilatuswerke, sondern auch die Uhrmacher von Certina, der Elektronikkonzern Philips («Von der Schweiz bis zum Himalaja – einwandfreier Radioempfang über 8500 km Luftliniendistanz») oder ein Hersteller von Vakuumverpackungen («Zürcher Speck und Bündnerfleisch waren am Dhaulagiri dabei»).

Weltrekord und Absturz

Sechs Tonnen Ausrüstung und Verpflegung werden im März 1960 mit Lastwagen nach Genua gebracht, dort nach Bombay verschifft und weiter nach Nepal transportiert. Der Zoll ist vor allem in Indien ein Ärgernis, wie die Bergsteiger klagen, die auf dem Seeweg anreisen. Nicht weniger aufregend ist der Luftweg. Eine Woche dauert die Reise mit der kleinen Pilatus Porter von Kloten nach Kathmandu – via Balkan, Nahen und Mittleren Osten sowie Indien.

Abflug zum Himalaja-Abenteuer: Am 12. März 1960 startet der «Yeti» in Kloten.

Abflug zum Himalaja-Abenteuer: Am 12. März 1960 startet der «Yeti» in Kloten.

Str/Photopress-Archiv

In Nepal angekommen, zeigen sich die Vorteile von Eiselins Plan. 18 Tage dauerte zuvor der Marsch in Hitze und Staub, um von der Stadt Pokhara zum Basislager am Dhaulagiri zu gelangen. Jetzt wird die Strecke in einer halben Stunde zurückgelegt; statt unzähliger Träger braucht es nur ein halbes Dutzend Sherpas. Der «Yeti» bringt Mannschaft und Material vom Flachland direkt in das Hochgebirge. Es ist ein riskantes Experiment. Doch nach einigen Tagen im Dämmerzustand, mit Kopfweh und Erbrechen, sind die Alpinisten meist erstaunlich gut akklimatisiert. Und auch die Landungen auf dem «Gletscherflughafen» auf 5200 und später sogar auf 5700 Metern über Meer gelingen «butterweich». Der mit Ski ausgerüstete «Yeti» bricht damit den Weltrekord für eine Landung im Gebirge – und hält ihn bis heute.

Während Wochen sind die Alpinisten am Berg unterwegs: Trainingsläufe und Erkundungen, das Einrichten von Höhenlagern, das Ausharren in kleinen Zelten fernab der Zivilisation. Genaue Karten gibt es noch nicht, Funkkontakt ist schon zwischen den einzelnen Lagern Glückssache. Aber alles läuft nach Plan, bis am 13. April der «Yeti» nicht mehr im Lager auftaucht. Banges Warten. Erst nach Tagen kommt die niederschmetternde Nachricht: Wegen eines Motorschadens mussten Pilot Saxer und sein Co-Pilot notlanden. Die beiden sind unverletzt, der «Yeti» aber ist gegroundet.

Lager auf dem Mayanghdigletscher in 5200 Metern Höhe.

Lager auf dem Mayanghdigletscher in 5200 Metern Höhe.

Orell Füssli/Max Eiselin, «Erfolg am Dhaulagiri»

Der Nachschub mit Nahrungsmitteln und Ausrüstung erfolgt nun notgedrungen «klassisch» mit Rucksack und unter grössten Mühen. Max Eiselin steigt hinab, um bei Pilatus in Stans einen neuen Motor anzufordern, der bereits nach drei Wochen in Nepal eintrifft. Der «Yeti» nimmt seinen Dienst wieder auf. Doch bereits am 5. Mai stürzt er wegen eines Problems mit dem Steuerknüppel am Dambuschpass ab. Erneut kommen die Piloten mit dem Schrecken davon.

«Träge fliesst das Blut»

Am Berg ist tags zuvor ein erster Gipfelversuch wegen schlechten Wetters gescheitert. Doch am Freitag, dem 13. Mai, ist es schliesslich so weit. Nach einer ungemütlichen Nacht zu sechst in einem Zweierzelt auf 7800 Metern Höhe brechen Peter Diener, Ernst Forrer, Albin Schelbert, Kurt Diemberger und zwei Sherpas um 8 Uhr auf. In der «Todeszone» dauert alles viel länger: «Die Knochen sind steif und ungelenkig, unheimlich träge fliesst das Blut, der Geist ist wie Melasse», berichtet Diener später.

Wolkenlos und windstill ist es, als die Gruppe auf einem steilen Fels- und Firngrat die letzte Höhendifferenz überwindet – notabene ohne Sauerstoffgeräte. Um 12 Uhr 30 stehen sie auf dem langersehnten Gipfel, beglückwünschen sich, geniessen das Panorama, bis sich Gewitterwolken zusammenbrauen.

Die NZZ jubelt über die «grosse Tat», «die in der Geschichte der Himalaja-Erforschung und in der Weltgeschichte des Bergsteigersports zweifellos einen Ehrenplatz einzunehmen würdig ist». Bundespräsident Max Petitpierre richtet den Alpinisten eine Grussbotschaft aus. Die amerikanische Zeitschrift «Sports Illustrated» bringt die Reportage «Conquest of the Peak of Storms» als mehrseitige Titelgeschichte. Das Expeditionsbuch von Max Eiselin wird später auf Japanisch, Russisch und Farsi übersetzt. Und der «Yeti»? Das Wrack der weltberühmten PC-6 liegt noch immer in Nepal; Originalteile davon sind aber inzwischen im Verkehrshaus Luzern zu sehen.

 

Himalaja Stiftung

 

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