Interview

«Ungeziefer, Hunger und Zählappelle zermürbten einen» – Ladislaus Löb erinnert sich an seine Flucht vor dem Holocaust in die Schweiz. Und dass er sein Leben einem Pakt mit dem SS-Schergen Eichmann verdankt

Mit einem riskanten Handel können sich 1944 rund 1700 ungarische Juden vor dem Holocaust in die Schweiz retten. Ladislaus Löb ist einer der letzten Zeitzeugen, die vor 75 Jahren von den Nazis freigekauft wurden.

Marc Tribelhorn, Simon Hehli
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«Kasztner hätte Besseres verdient gehabt»: Holocaust-Überlebender Ladislaus Löb, fotografiert an seinem Wohnort in Zürich.

«Kasztner hätte Besseres verdient gehabt»: Holocaust-Überlebender Ladislaus Löb, fotografiert an seinem Wohnort in Zürich.

Simon Tanner / NZZ

In der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1944 kommt Ladislaus Löb von der Dunkelheit ins Licht – und zwar buchstäblich. Nazideutschland ist pechschwarz verdunkelt, die Schweiz hell erleuchtet, als der Zug voller jüdischer Flüchtlinge um 1 Uhr 25 über die Grenze nach St. Margrethen rattert. Es ist das Resultat eines makabren Handels, das Ende einer mehrmonatigen Odyssee des Schreckens, die Rettung vor dem Holocaust.

«Die Schweizer hatten die Lichter natürlich nicht für unseren Empfang angezündet, sondern um die Alliierten vom Abwerfen von Bomben über dem neutralen Land abzuhalten. Aber es kam uns vor wie die Verheissung eines neuen Lebens», erinnert sich Ladislaus Löb. Der emeritierte Germanistikprofessor, der lange in England lehrte, lebt inzwischen wieder in der Schweiz und empfängt uns in seiner hellen Wohnung im Zürcher Kreis 6, wo noch immer britische Zügelkartons herumstehen. Der Körper des 86-Jährigen ist gebrechlich, aber seine Augen sind wach, die Gedanken klar und durchzogen von feinem Humor. «Ich hatte unglaublich viel Glück in meinem Leben, aber dass ich überhaupt älter als zwölf Jahre wurde, verdanke ich vor allem einem Mann, Rezsö Kasztner.»

Ladislaus Löb im Alter von elf Jahren nach der Ankunft in der Schweiz.

Ladislaus Löb im Alter von elf Jahren nach der Ankunft in der Schweiz.

Löb ist einer der letzten Zeitzeugen eines nur wenig bekannten Kapitels des Zweiten Weltkriegs. Es ist die Geschichte des ungarischen Juden Rezsö Kasztner, der gegen Kriegsende mit SS-Schergen wie Adolf Eichmann über die Freilassung anderer ungarischer Juden – unter ihnen Ladislaus Löb – verhandelte und dem es mit Mut, Bluff und Geld gelang, rund 1700 ausgewählte Menschen vor der Vernichtung in der Mordfabrik Auschwitz zu bewahren und in die sichere Schweiz zu bringen. Es ist aber auch die Geschichte eines kolossalen moralischen Dilemmas: Kann man einige hundert aus über einer halben Million retten, ohne an all den anderen Unrecht zu begehen?

Eichmanns Sonderkommando

Ladislaus Löb kommt am 8. Mai 1933 zur Welt, wenige Monate nach der «Machtergreifung» Hitlers. Niemand ahnt, welche Folgen die Entwicklungen in Berlin eines Tages auch für die Juden in Siebenbürgen haben würden. Die Löbs leben mit ihrem Sohn in einer kleinen ungarischsprachigen Stadt nahe Klausenburg (rumänisch Cluj) im Nordwesten Rumäniens. Der Vater, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, macht, was «ein Jude in einem kleinen Ort zu jener Zeit eben macht» (Ladislaus Löb): Er handelt mit Waren, besonders mit Salz, ist aber nicht streng religiös. Das Familienleben wird bald überschattet von der Tuberkulose-Erkrankung der Mutter, die jahrelang dahinsiecht und 1942 stirbt. Ladislaus ist ein guter Schüler, leidet aber unter antisemitischen Anfeindungen: «Juden stinken», rufen ihm andere Kinder hinterher. 1940 wird Siebenbürgen Teil von Ungarn. Dort sind Juden lange vergleichsweise sicher, obwohl das Regime von «Reichsverweser» Miklós Horthy im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis paktiert und antisemitische Gesetze erlässt. Das ändert sich indes schlagartig, als am 19. März 1944 die Wehrmacht einmarschiert, weil die Deutschen einen Seitenwechsel der Ungarn im Krieg befürchten.

Wenige Tage später trifft auch SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der Architekt der «Endlösung», mit einem rund 200-köpfigen Sonderkommando in Budapest ein. Er ist fest entschlossen, das letzte Kapitel des Holocausts – die Ermordung der etwa 800 000 Juden in Ungarn – schnell und konsequent zu vollenden. Im ganzen Land werden die Juden zusammengetrieben. Vater und Sohn Löb müssen ins Ghetto von Klausenburg umsiedeln; 18 000 Juden auf dem Areal einer stillgelegten Ziegelfabrik. Bald fahren die ersten Züge nach Auschwitz. Ladislaus’ Vater ahnt, dass dies Unheil bedeutet. Er besticht einen Polizisten und flieht mit seinem Sohn aus dem Ghetto – nach Budapest, wo die Deportationen noch nicht begonnen haben.

In der Hauptstadt sind derweil bereits heikle Verhandlungen am Laufen. Das kleine jüdische Rettungskomitee Wa’ada, das bisher vor allem nach Ungarn geflohene ausländische Juden unterstützt hat, muss plötzlich auch die ungarischen Juden retten. Der Jurist, Journalist und Zionist Rezsö Kasztner amtet als einer der Leiter der Organisation. Er ist eine ambivalente Persönlichkeit: ehrgeizig, mutig und schlau, aber auch arrogant, selbstherrlich und verschlagen. Er kann bluffen und besitzt Chuzpe, was ihm nun zugutekommt. Nachdem er gehört hat, dass die Nazis gegen hohe Geldsummen über die Freilassung von Juden diskutierten, sucht Kasztner den Kontakt zu Eichmann und anderen hohen SS-Offizieren. Bald erhält er ein Angebot: Wenn aus westlichen Ländern 10 000 Lastwagen und weitere kriegswichtige Güter für die Ostfront beschafft werden, sei Eichmann bereit, das Leben von einer Million Juden zu schonen – «Blut für Ware».

Mutig und schlau, aber auch arrogant und selbstherrlich: Rezsö Kasztner 1948 im Zeugenstand an den Nürnberger Prozessen.

Mutig und schlau, aber auch arrogant und selbstherrlich: Rezsö Kasztner 1948 im Zeugenstand an den Nürnberger Prozessen.

Bpk

Für dieses sonderbare Angebot gibt es mindestens zwei Erklärungen: Die involvierten SS-Männer, die in Absprache mit dem Reichsführer SS Himmler handeln, wollen sich angesichts der hoffnungslosen militärischen Situation für die Nachkriegszeit ein Alibi als Judenfreunde beschaffen. Oder, was wahrscheinlicher ist, der Deal soll ihnen Kontakte zu hohen westlichen Stellen ermöglichen, die sie für Verhandlungen über einen antisowjetischen Separatfrieden nutzen könnten. Die Westalliierten haben indes kein Interesse an einem solchen Geschäft mit den Nazis. Das weiss auch der kluge Kasztner, der sich grossspurig als Vertreter des internationalen Judentums gibt – geschickt antisemitische Hirngespinste ausnutzend – und unverfroren behauptet, der Deal mache Fortschritte. Die Verzweiflung treibt ihn an, denn die Zeit drängt: Allein zwischen Ende April und Anfang Juli 1944 werden 437 000 ungarische Juden umgebracht. Eichmann droht auch Kasztner: «Ich schicke Sie nach Theresienstadt, damit Sie sich erholen. Oder ziehen Sie Auschwitz vor?» Es gelingt Kasztner schliesslich, zumindest 1684 Juden freizubekommen. Der Preis: 1000 Dollar pro Kopf.

Herr Löb, wie erfuhr Ihr Vater von Kasztners Absichten?

Wir osteuropäische Juden tauschten uns dauernd über allerlei Neuigkeiten und Gerüchte aus, traditionellerweise in der Synagoge. Dort erfuhr mein Vater, als wir in Budapest waren, von dem geheimnisvollen Kasztner-Transport, der in die Freiheit nach Palästina führen sollte.

Wie gelang es Ihrem Vater, dass Sie in diese privilegierte Gruppe aufgenommen wurden?

Ein gewisser Nepotismus war wohl dabei, denn ein entfernter Cousin hatte eine wichtige Funktion im Hilfswerk Wa’ada. Meine Vermutung ist aber, dass mein Vater, der unglaublich starrköpfig sein konnte, die Kasztner-Leute so lange belästigt hat, bis sie sagten: Nun gut, dann nehmen wir euch eben mit! Wir hatten riesiges Glück. Mein Vater ging aber auch ein enormes Risiko ein: Wir tauschten eine prekäre Freiheit gegen eine zunächst sichere Gefangenschaft der Nazis. Es blieb einzig die Hoffnung.

Nach dem Krieg wurde Kasztner beschuldigt, er habe vor allem eigene Verwandte und Freunde sowie reiche Juden gerettet.

Das ist Blödsinn. Er brauchte ein paar Reiche, damit diese das Lösegeld bezahlen konnten – für uns alle, die arm waren. Natürlich waren auch einige Verwandte und Freunde Kasztners sowie Prominente dabei. Doch es gab Quoten für Witwen von Zwangsarbeitern oder für polnische Flüchtlingskinder. Es war ein Querschnitt durch die damalige jüdische Bevölkerung Ungarns, und die Listen wurden nicht willkürlich von Kasztner selbst zusammengestellt, sondern von kleinen Komitees, die sich an gewisse Richtlinien hielten, was die Auswahl aus einer halben Million Menschen nicht einfacher machte. Kasztner sprach von einer «Arche Noah». Er konnte nicht alle Juden Ungarns retten. Aber besser einige hundert als nichts tun!

Am 30. Juni 1944 steigt die Kasznter-Gruppe an einem Budapester Güterbahnhof in Viehwaggons. Im Gegensatz zu den Zügen, die nach Auschwitz fahren, werden nicht 100 Personen in einen Wagen gepfercht, sondern «nur» 60. Auch sind die Wagen nicht plombiert. Aber als der Zug länger als eine Woche unterwegs ist, befürchten die Passagiere, dass ihre Enddestination doch eine Gaskammer sein könnte. Am 9. Juli trifft der Kasztner-Transport schliesslich im KZ Bergen-Belsen ein, 60 Kilometer nordöstlich von Hannover. Es ist kein Vernichtungslager, aber trotzdem ein Schock: ausgemergelte, zerlumpte, entwürdigte Menschen hinter Stacheldraht. Für Monate werden sie dort als Geiseln gehalten, auch wenn der privilegierten Kasztner-Gruppe Zwangsarbeit und Misshandlungen erspart bleiben und die, die ihr angehören, «nur» einen Judenstern, aber keine Häftlingskleider tragen müssen. Das KZ Bergen-Belsen ist als «Aufenthaltslager» für etwa 5000 «Austauschjuden» konzipiert, die als menschliche Ware – laut Adolf Eichmann – «auf Eis gelegt» werden, bis sie gegen deutsche Gefangene, Geld oder Waren veräussert werden. Doch als die Alliierten immer weitere Gebiete erobern, bringen die Nazis immer mehr Menschen aus anderen Lagern, so dass in den letzten Kriegsmonaten in der gleichen Infrastruktur über 50 000 Menschen konzentriert werden. Zehntausende sterben an Hunger und Seuchen.

Pokern an der Schweizer Grenze

Als Geste des guten Willens haben die Nazis bereits im August 1944 ein erstes Kontingent von 318 Menschen der Kasztner-Gruppe in die Schweiz ausreisen lassen, nach Basel. Das gibt den Zurückgebliebenen Hoffnung, dass es nun vorwärtsgehe. Doch dann passiert wieder monatelang nichts. Die Verhandlungen zwischen Kasztner und Himmlers Handlanger Kurt Becher, der als Wirtschaftsbeauftragter der SS nach Ungarn geschickt worden ist, stocken. Mehrere Male treffen sie sich an der Schweizer Grenze, auf der Zollbrücke von St. Margrethen, zu Gesprächen mit Saly Mayer, dem Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds und Vertreter der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation Joint in Europa – scharf beobachtet von der St. Galler Polizei, die im Auftrag der Bundesanwaltschaft agiert. Mayer, der weder über Geld noch ein offizielles Mandat für Verhandlungen verfügt, pokert geschickt und verlangt ein Zeichen der Nazis. SS-Mann Becher merkt zwar, dass der Deal mit den 10 000 Lastwagen nie zustandekommen wird, gibt aber im Dezember 1944 trotzdem grünes Licht für die in Bergen-Belsen verbliebenen Kasztner-Juden. Es ist davon auszugehen, dass er sich damit für die Nachkriegszeit weisswaschen wollte.

Herr Löb, wie erlebten Sie als Elfjähriger die monatelange Lagerzeit in Bergen-Belsen?

Ungeziefer, die überfüllten Baracken, die Angst vor Bombenangriffen, Hunger und Zählappelle zermürbten einen. Das Schlimmste aber war, dass wir nicht wussten, was mit unseren Familien passiert ist und was mit uns geschehen würde. Man konnte jederzeit deportiert und ermordet werden oder an Krankheiten sterben. Ich hatte Angst, aber es gelang mir, sie zu verdrängen. Wenn ich mit anderen Kindern einem aus Lumpen zusammengebastelten Ball nachjagte, konnte ich den bewaffneten SS-Mann auf dem Wachturm vergessen.

Am 4. Dezember 1944 kam endlich der Befehl zum Aufbruch. Waren Sie sich im Klaren, wohin es ging?

Wir wussten, dass es Verhandlungen mit der Schweiz gab. Kasztners Frau und sein Schwiegervater waren mit uns im KZ und konnten Informationen übermitteln. Doch es gab immer Gerüchte: Um 7 Uhr hiess es, wir fahren in die Schweiz, um 7 Uhr 15 hiess es wieder, wir kommen hier nie raus. Als wir dann wirklich losfuhren, dieses Mal in Personenwagen, war die Freude schon fast hysterisch.

Drei Tage fuhren Sie durch das zerstörte Deutschland. Hat sich niemand in der Gruppe Gedanken gemacht, wie widersinnig es war, dass antisemitische Massenmörder wie die Nazis Juden gehen liessen?

Das wären logische und vernünftige Überlegungen, wie man sie aus heutiger Perspektive macht. Doch wir konnten damals nicht denken. Wir hatten Hunger und Angst, es ging ums nackte Überleben.

Endlich auf sicherem Boden: Flüchtlinge der Kasztner-Gruppe nach dem Grenzübertritt in der Schweiz im Dezember 1944.

Endlich auf sicherem Boden: Flüchtlinge der Kasztner-Gruppe nach dem Grenzübertritt in der Schweiz im Dezember 1944.

Am 7. Dezember erreichen die restlichen rund 1350 Kasztner-Juden erschöpft und ausgezehrt den sicheren Schweizer Boden – ihre genaue Zahl lässt sich nicht mehr klären. In St. Margarethen steigen sie in einen Zug der Bundesbahnen um, der sie nach St. Gallen bringt. In der Kreuzbleiche kommen sie in ein Quarantänelager, erhalten Essen und Kleider, die Kinder Spielzeug. Nach einigen Tagen folgt die Weiterreise in die Westschweiz, wo sie in einem Hotel in Caux, oberhalb von Montreux, einquartiert werden. Es ist idyllisch gelegen, aber ungeheizt. Auch die Stimmung unter den Juden kippt: von der Freude über die eigene Befreiung zur Verzweiflung wegen des unbekannten Schicksals von Angehörigen bis hin zu Schuldgefühlen. Laut Löb kommt es zu zahlreichen Suiziden. Die Haltung der Behörden gegenüber den Flüchtlingen ist kühl: Der Bundesrat will die Kasztner-Juden so bald wie möglich in nordafrikanische oder süditalienische Lager abschieben. Erst durch die Interventionen von Presse und Hilfswerken sieht er davon ab. Nach Kriegsende kehren viele Flüchtlinge in ihre Heimat in Osteuropa zurück, reisen nach Palästina oder in die USA. Andere lassen sich in der Schweiz nieder – wie Ladislaus Löb.

Herr Löb, weshalb blieben Sie in der Schweiz?

Wir waren nicht sehr willkommen. Aber mein Vater wollte nicht zurück, obwohl er hier keine Arbeit fand und wir von Hilfswerken abhängig waren. Die Fremdenpolizei drängte, dass ich eine Lehre beginne, um Geld zu verdienen, oder ausreise. Mein Vater wehrte sich. So konnte ich die Kantonsschule besuchen, an der Universität Zürich studieren – und wurde schliesslich Professor für deutsche Sprache und Literatur im englischen Brighton.

Konnten Sie als Kind das Leid der NS-Verfolgung besser verarbeiten?

Natürlich hatte auch ich Albträume. Aber als Kind wollte ich vor allem «normal» sein, so wie die Schweizer Kameraden. Entweder bin ich sehr gut im Verdrängen oder im Verarbeiten. Ich weiss es nicht.

Sprachen Sie mit Ihrem Vater über die Ereignisse von 1944?

Nie! Das ist ein bekanntes Phänomen unter Holocaust-Überlebenden. Wahrscheinlich, weil es zu viele qualvolle Erinnerungen zurückbringen würde. Mein Vater wurde leider nie mehr glücklich.

Hatten Sie Schuldgefühle, dass Sie den Holocaust überlebten, während sechs Millionen Juden ermordet wurden?

Es war reiner Zufall, dass ich überlebte. Ich habe also keinen Grund, mich deswegen schuldig zu fühlen. Ich empfinde aber Scham, wenn ich Überlebende treffe, die viel mehr leiden mussten als ich. Dass ich 2010 ein sehr persönliches Buch über den Kasztner-Transport schrieb («Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner»), hat mir geholfen. Ich konnte die Frage klären: Habe ich mein Leben einem Verbrecher zu verdanken? Ich denke nicht. Von einem moralischen Standpunkt her gesehen, darf man sich nicht mit dem Teufel einlassen. Doch wenn es um Menschenleben geht, muss man halt wie Kasztner Kompromisse eingehen.

Rezsö Kasztners Leben endet tragisch. Nach dem Krieg sagt er an den Nürnberger Prozessen zugunsten des mutmasslichen Kriegsverbrechers Kurt Becher aus, der deshalb straffrei davonkommt und sich fortan als Freund der Juden ausgibt. Becher steigt als Kaufmann in Bremen zu einem der reichsten Männer der Bundesrepublik auf, wobei ihm wohl das Vermögen half, das er während des Kriegs angehäuft hatte. Über Kasztners Motiv kann nur spekuliert werden: Hat er Becher im Krieg versprochen, ihn als Dank für die enge Zusammenarbeit zu entlasten? Hoffte er damit auf Bechers Hilfe in einem Prozess gegen Eichmann?

Judenretter am Pranger

Tatsache ist, dass die Aussage in Israel nicht gut ankommt, wo Kasztner nach dem Krieg für die sozialdemokratische Mapai-Partei politisiert. 1954 wird er von einem radikalen Zionisten der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt: Er habe seine Verwandten bevorteilt und sei mitschuldig am Tod von fast einer halben Million ungarischer Juden. Zudem habe er über Auschwitz Bescheid gewusst, aber geschwiegen. Der von Kasztner angestrengte Prozess wegen Verleumdung endet mit einem Verdikt gegen ihn selber: Er habe dem «Satan seine Seele verkauft». Das Oberste Gericht Israels spricht Kasztner später von den meisten Anschuldigungen frei. Das erlebt er aber nicht mehr: 1957 wird er von einem israelischen Rechtsextremen auf offener Strasse erschossen. Bis heute ist Rezsö Kasztner in Israel umstritten, obwohl etwa die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem seine Leistung anerkannt hat.

Herr Löb, wollten Sie mit dem Buch Ihren Retter Kasztner rehabilitieren?

Ich habe viele Quellen studiert und mit anderen Zeitzeugen gesprochen, also versucht, möglichst objektiv zu sein. Mein Fazit ist klar: Kasztner hätte Besseres verdient gehabt als einen Justizirrtum und eine Kugel.

Apropos Erinnerungskultur: Was passiert, wenn Ihre Generation von Holocaust-Überlebenden verschwunden ist?

Ich höre immer, man müsse sich erinnern! Man dürfe nicht vergessen! Das stimmt natürlich, aber man muss doch betonen, dass die Erinnerung einen praktischen Zweck haben soll. Sonst ist es eine Alibiübung.

Wie meinen Sie das?

Ich will etwas Aktives sehen. Dass aus der Vergangenheit Lehren gezogen werden für die Gegenwart. Dass man sich bewusst ist, welche Folgen zum Beispiel rassistische Politik haben kann.

Sie klingen pessimistisch.

Das bin ich. Nehmen wir den Antisemitismus in meiner alten Heimat Ungarn, der eine Schande ist. Wir erinnern uns, aber bleiben dann doch sitzen. Es braucht mehr Rückgrat, Mut und Idealismus.

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