Die unfassbare Fassbarkeit eines Tischs

Jedes Ding besteht aus Atomen. Und trotzdem zeigen Alltagsgegenstände nicht das merkwürdige Verhalten, das man von Atomen und anderen Quantenobjekten kennt. Wo also verläuft die Grenze zwischen Quantenspuk und klassischer Welt?

Eduard Kaeser
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Aus Sicht der Quantentheorie sind Tisch und Stuhl ein Mysterium.

Aus Sicht der Quantentheorie sind Tisch und Stuhl ein Mysterium.

Karin Hofer

Arthur Stanley Eddington, eine Eminenz der Astrophysik im 20. Jahrhundert, dachte nicht nur über Sterne nach, sondern auch über Tische. Vor über neunzig Jahren stellte er sich eine ganz banale Frage. Der Tisch ist ein gewöhnliches Stück Materie, eine stabile, solide, permanente Unterlage der Schreibtätigkeit. Tisch Nummer eins, nennt ihn Eddington. Daneben gibt es einen Tisch Nummer zwei, einen Tisch aus Sicht der Quantentheorie: «(Er) besteht zum grössten Teil aus Leere. Spärlich eingestreut in diese Leere sind zahlreiche elektrische Ladungen, die mit grosser Geschwindigkeit hin und her sausen. (. . .) Nichtsdestoweniger erweist sich sein seltsamer Aufbau als völlig funktionsfähiger Tisch.» Wie bringen wir die beiden Sichten auf einen Nenner?

Zwei Welten

Diese Frage zwickt heute die Quantenphysiker. Der Tisch ist ein Riesensystem aus Quantenobjekten; wie lässt er sich als klassisches Ding verstehen? Mit dieser Frage rutscht man unausweichlich in die kaum auszulotende Tiefe eines fundamentalen Problems. Wenn die Quantentheorie die universelle Theorie der Materie ist, sollte sie für Tische wie Elektronen gelten. Aber eine Physik zu formulieren, welche beide umfasst, erweist sich als enervierend vertrackt. Was umso mehr erstaunt, als Quanteneffekte sich zusehends auch auf «klassischer» Stufe manifestieren. Der Unterschied zwischen Quanten- und klassischer Welt kann also nicht an der Grösse der Objekte liegen.

Woran dann? Kurz gesagt, an den zwei Kernkonzepten der Quantentheorie: der Zufälligkeit physikalischer Ereignisse und der Interferenz – der Wellenartigkeit – von physikalischen Zuständen. Betrachten wir eine Urszene des Zufalls, den Münzwurf. Es existieren zwei mögliche Zustände: Kopf oben (K) oder Zahl oben (Z). Angenommen, wir halten das Resultat nach dem Wurf verborgen. Wir beschreiben die Situation dann so: Die Münze befindet sich im Zustand K oder Z, nur wissen wir nicht, in welchem der beiden. Wir können höchstens sagen, die Wahrscheinlichkeit, sie im Zustand K beziehungsweise Z vorzufinden, betrage im Idealfall ½. Das ist eine statistische Aussage aus der Ungewissheit heraus. Gewissheit besteht aber darüber, dass sich die Münze «in Wirklichkeit» im Zustand K oder Z befindet, unabhängig von unserem Wissen.

Die Quantentheorie sieht das anders. Sie beschreibt ein Teilchen – Photon, Elektron, Atom oder Molekül – mit der sogenannten Zustandsfunktion, die den Informationsstand über das Teilchen und seine Eigenschaften repräsentiert. Wollten wir nun den Münzwurf quantenphysikalisch durchführen, benötigten wir so etwas wie Quantenmünzen. Tatsächlich gibt es sie, zum Beispiel in der Gestalt von Elektronen. Elektronen lassen sich anhand ihrer Eigendrehimpuls- oder Spinzustände unterscheiden, etwa «spin up» (U) und «spin down» (D). Statt zu würfeln, präparieren wir also mit einer geeigneten Vorrichtung den Elektronenspin nach dem Zufallsprinzip. Dem Münzenzustand K entspricht der Elektronenzustand U, dem Zustand Z der Zustand D.

Aber dieser Quantenzufall unterscheidet sich vom klassischen in einem mysteriösen Punkt. Nach dem Wurf befindet sich die Münze jeweils in einem eindeutigen Zustand K oder Z. Das Elektron dagegen befindet sich nach dem Wurf nicht in einem eindeutigen Zustand U oder D, vielmehr in einer Superposition seiner beiden möglichen Zustände. Es kann gleichzeitig einen Spin aufwärts und abwärts mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten aufweisen. Die beiden Zustände interferieren wie Wellen – eine unumgängliche Konsequenz der Theorie.

Gut, das ist Theorie, könnte man sagen, aber wie steht es mit der Realität eines solchen Spukzustands? Lässt er sich experimentell nachweisen? Das wirft eine andere Frage auf: Was heisst eigentlich experimenteller Nachweis? Man braucht dazu einen Messapparat. Klassisch gesehen registriert der Apparat einen Zustand des Elektrons. Aber man will ja nicht klassisch sprechen, also sagt man: Nach der Messung haben wir es nicht mehr mit zwei Objekten zu tun, sondern mit einem Objekt in einem einzigen Gesamtzustand, einer Superposition von Elektron und Apparat. Nun besteht der Apparat in der Regel aus einer Riesenzahl von Teilchen. Das Elektron interagiert unvermeidlich mit einer wachsenden Untermenge dieser Teilchen. Die Schrödinger-Gleichung beschreibt diese Dynamik. Und sie sagt voraus, dass der Spukzustand, der anfänglich noch das isolierte Elektron charakterisierte, sich mit der Zeit zunehmend auf die Umgebung verteilt. Und weil er sich verteilt, ist er nicht mehr lokalisierbar. Er verrauscht in der Apparateumgebung, oder wie man sagt: Er dekohäriert. Als Folge beobachtet man dann nicht eine Superposition, sondern entweder die Spineigenschaft U oder D, aber nicht beide gleichzeitig.

Objekte unter Quarantäne

Der deutsche Physiker Heinz-Dieter Zeh schlug diese Dekohärenz-Interpretation bereits in den 1970er Jahren vor, stiess damit allerdings auf Unverständnis und Ablehnung. Seit den 1980er Jahren gelingt es nun aber den Physikern dank einer zunehmend ausgeklügelteren Versuchstechnologie immer besser, Elektronen, Atome, Moleküle und sogar Makromoleküle wie Fullerene in Spukzuständen zu präparieren. Der Kniff dabei ist, dass man die Objekte unter Quarantäne halten muss, um den Quanteneffekt hervortreten zu lassen. Diverse Versuche – etwa im Wiener Team des Physikers Anton Zeilinger – wiesen nach, dass diese Effekte in dem Masse verschwinden, in dem man eine Interaktion mit der Umgebung zuliess. Der französische Physiker Serge Haroche erhielt für seine Experimente zur Dekohärenz 2012 den Nobelpreis.

Anderen Physikern – wie etwa Wojciech Zurek – genügt diese Interpretation freilich nicht. Denn die Quantentheorie sagt ja bloss, dass ein Elektron sich nach seiner Interaktion mit dem Messapparat in einer Superposition von vielen möglichen Elektron-plus-Apparat-Zuständen befindet. Am Ende einer Messung wollen wir aber sagen: Der Apparat misst den Zustand des Elektrons. Punkt. Zurek spricht vom Zeigerzustand (Pointer-Zustand). Und er definiert nun den Messvorgang als einen Selektionsprozess aller möglichen Quantenzustände, so, dass schliesslich nur noch ein privilegierter Zustand übrig bleibt. Im Zähler klickt es – ein Zeichen für das Auftreten eines Elektrons. Quantentheoretisch heisst das: Da dekohäriert die uneindeutige Quantensuperposition Elektron-plus-Zähler zu einem eindeutigen klassischen Zeigerzustand. Dekohärenz wirkt also wie eine Art von «quantendarwinistischer Auslese». Im Apparat überleben nur bestimmte «fitte», sprich: klassische Zustände. Zurek bezeichnet dies als «Einselection»: «environment-induced-super­selection» (umgebungsverursachte Superauswahl).

Ein Konzert von Interpretationen

Was bedeutet das für Eddingtons Tische? Heute, im Quantenzeitalter, müssen wir von drei Tischen sprechen. Tisch Nummer eins und zwei – und Quantentisch Nummer drei. Die klassische Physik fragt: Wie ist ein Tisch aus unzähligen individuellen Teilchen aufgebaut? Die Quantenphysik fragt umgekehrt: Welche und wie viele Beschreibungsmöglichkeiten gibt es für einen Tisch aus unzähligen individuellen Quantenobjekten? Sie spricht von Tisch Nummer drei als einem einzigen Gesamtzustand, einer monströsen Superposition aller möglichen Tische. Erst durch die Wechselwirkung mit der weiteren Umgebung dekohäriert Spuktisch Nummer drei zum wirklichen Tisch Nummer eins. Das reale Möbel, an dem ich dies hier und jetzt schreibe, ist also im Grunde das dekohärente Resultat der quantendarwinistischen Auslese einer riesigen theoretischen Möbelkollektion durch den Rest der Welt . . .

Alles klar? Geben wir eine vorsichtige Antwort: Die Physiker arbeiten sich erfolgreich zu einer einheitlichen Sicht vor, aber nach wie vor ist nicht klar, wo genau die Grenze zwischen Quanten- und klassischer Welt liegt. Dekohärenz und Quantendarwinismus liefern eine weitere Stimme im Konzert der Interpretationen der Quantenphysik. Jede Einzelstimme trägt eine mehr oder weniger plausible Melodie vor, aber gemeinsam ertönt eine dirigentenlose Kakofonie. Die Quantentheorie hat es mit einer koboldhaften Welt zu tun: In ihr verkehrt sich die Lösung eines Rätsels immer wieder zum Rätsel der Lösung. Und darin liegt eine tiefe Ironie des Tischs. Ich bin im Grunde nicht das, was du meinst, ich sei es, sagt er uns, aber für Spekulationen über Quantenspuk diene ich nach wie vor gerne als solide Schreibgrundlage.

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