Achtung, Hühnerdiebe!

In Italien hat es der «furbo», italienisch für Schlaumeier, schon immer weit gebracht. Für seine List wird er bewundert, aber auch verachtet. Gerade unter Politikern ist dieser Typus gut vertreten.

Marc Zollinger
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Im Stossverkehr fällt er besonders auf. Er fährt auf dem Pannenstreifen vor, um nicht in der Kolonne stehen zu müssen. Er blockiert die Kreuzung, weil er die Ampel noch schnell vor dem Wechsel zu Rot passieren will. Aber natürlich ist er überall anzutreffen: In der Bar übersieht er die Schlange vor der Kasse. In der Post hat er vom Automaten, der die Zugänge zu den Schaltern regelt, gleich fünf Zettelchen ausdrucken lassen: eines für jede der möglichen Transaktionen. Besitzt er ein Geschäft, dann verdoppelt er die Preise seiner Produkte, um sie im Ausverkauf stark vergünstigt anzubieten.

Schlaumeier, Spitzbube, Schlitzohr, Schlawiner, Fuchs. Im Deutschen gibt es viele Begriffe, die man für diesen Typus Mensch verwenden könnte. Doch alle klingen irgendwie veraltet. Im Italienischen genügt ein Wort: «furbo». Und es ist zeitlos. Die Etymologen rätseln noch immer, woher es stammt. In den meisten Lexika steht, dass «furbo» vermutlich aus dem Französischen entlehnt sei. Und zwar von «fourbe», Dieb.

«Das machen doch alle so»

Es sind keine schweren Verbrecher, sie sind höchstens so dreist wie Hühnerdiebe. Sie wissen eine alltägliche Situation auszunutzen, um einen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Und sie erweisen sich dabei als listig, überraschen durch eine gewisse Unverfrorenheit. Werden sie in flagranti erwischt, entschuldigen sie sich sofort. Es war nicht absichtlich gemeint, ein Versehen. Oder sie spielen die Sache herunter. «Va be, dai»: Komm, lass gut sein. Das machen doch alle so!

Als ich vor fünfzehn Jahren nach Italien zog, war ich ein beliebtes Opfer der Furbi: der sicher geglaubte Parkplatz weggeschnappt; zu wenig Rückgeld erhalten oder sonst wie über den Tisch gezogen. Aufgewachsen in einer Familie, in einem Land, wo man zu Ehrlichkeit und Transparenz erzogen wird, war ich eben nicht darauf vorbereitet. Ziemlich naiv und wenig schlau ging ich davon aus, dass die anderen sich verhalten wie ich. Nämlich korrekt.

Ich hatte erst noch Rom als neue Heimat ausgesucht, wo die Furbi traditionell stark vertreten sind. Die Furbizia, die Schlitzohrigkeit, ist hier tatsächlich nicht ungern gesehen. Im Gegenteil: Mit einer gewissen Bewunderung werden jeweils die Geschichten von besonders dreisten Fällen weitergegeben. Wie etwa kürzlich jene eines römischen Restaurantbesitzers, der zwei Japanerinnen eine Rechnung über 430 Euro ausgestellt hat, und zwar für ein Menu mit Pasta, Fisch und Wasser. Darin enthalten waren auch 80 Euro Trinkgeld.

Mit weissem Tuch ins Stadion

Wer sich übertölpeln lässt, kann mit wenig Mitleid rechnen. «Du musst eben besser aufpassen», hielt mir meine Frau – eine gebürtige Römerin – jeweils vor, wenn ich gerade wieder den Kürzeren gezogen hatte. Sie ist mit einem natürlichen Misstrauen in die menschliche Natur aufgewachsen. Kinder lernen hier schon früh, wie sie sich in der moralischen Wildnis zu bewegen haben. «Fatti furbo!», lautet ein geläufiger Ratschlag, der am Esstisch weitergegeben wird, wenn die Kleinen von Problemen in der Schule berichten. «Mach dich schlau», wörtlich übersetzt. Anders gesagt: Du musst mogeln lernen, wenn du im Dschungel überleben willst.

Einer, der die alltägliche Schlitzohrigkeit verkörperte wie kein Zweiter, war der römische Schauspieler Alberto Sordi (1920–2003). In seinen Filmen gab er den sympathischen Furbo, dem man nichts übelnehmen kann. Ja, man bewundert ihn für seine Pfiffigkeit, freut sich über seine Dreistigkeit. Typisch dafür ist eine Szene aus einem Schwarz-Weiss-Film, der in der goldenen Nachkriegszeit spielt. Sordi stellte darin einen Kleinbürger dar, der sich keck durchs Leben mogelt. In einer Szene ist er mit seinem Wagen auf dem Weg zum Fussballstadion, aber er bleibt im römischen Verkehr stecken. Um den Spielbeginn nicht zu verpassen, weist er seinen Sohn an, ein weisses Taschentuch aus dem Fenster zu halten. In jenen Zeiten war das ein Zeichen für einen ärztlichen Notfall. Der Junge zögert zunächst, führt dann aber lachend den Befehl aus.

Alberto Sordi

Alberto Sordi

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Es ist nur eine kleine, harmlose Szene, die niemandem weh tut. Sie ist mir im Gedächtnis geblieben, weil sie schön zeigt, wie solches Verhalten von Generation zu Generation weitergegeben wird: Der Junge auf dem Beifahrersitz lernt vom Vater, dass es in Ordnung ist, die Regeln zu übertreten. Es macht sogar Spass. Ich dagegen kann mich noch gut daran erinnern, wie ich einmal in der Schule beim Abschreiben erwischt wurde. Die Reaktion meines Vaters erstickte dann jeden weiteren Mogelversuch bereits im Keim. Er sagte: «Die Wahrheit kommt immer ans Licht!»

Die Schlauen und die Dummen

Einer der Ersten, die die Furbizia (und ihr Gegenstück) in Italien zum Thema gemacht haben, war der Journalist und Verleger Giuseppe Prezzolini. Sein «Codice della vita italiana» wurde vor hundert Jahren veröffentlicht, ist aber heute noch so aktuell und treffend, dass immer wieder daraus zitiert wird. In seinem «Kodex des italienischen Lebens» teilt der 1982 in Lugano verstorbene Prezzolini seine Landsleute in zwei Gruppen ein: die Furbi und die Fessi, die Schlauen und die Korrekten – je nach Übersetzung werden die Korrekten auch als «die Dummen» bezeichnet.

Es gebe keine Definition, was genau ein Fesso sei, schreibt Prezzolini. Doch folgende Handlungen seien Indikatoren: Wenn jemand im Zug den vollen Preis bezahle. Wenn jemand sein Einkommen versteuere. Wenn jemand sein Wort halte. Der Furbo dagegen, dies als Beispiel, hat seine Arbeitsstelle nicht etwa wegen seiner Fähigkeiten bekommen, sondern wegen der Fähigkeit, Fähigkeiten vorzutäuschen. Denn: Dumme haben Prinzipien, und Schlaue verfolgen Zwecke. Für Prezzolini war klar, dass in Italien gerade wegen der Furbi ein Wurm steckt: Sie verkörpern den mangelnden Gemeinschaftssinn.

Die Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung sehen es ähnlich. Als sie sich vor genau zehn Jahren formiert haben, war eines ihrer zentralen Anliegen, der Furbocrazia den Garaus zu machen. Die Gefolgsleute von Beppe Grillo, die Grillini, wollten Italien ehrlicher machen, die Günstlingswirtschaft bekämpfen, in der die Schlauen bevorzugt werden und die Korrekten den Kürzeren ziehen. Vor eineinhalb Jahren kamen sie sogar an die Macht. Doch schon nach kurzer Zeit als Hauptakteure in diesem politischen System haben sie viele ihrer Prinzipien über Bord geworfen, um im politischen Alltag überleben zu können. Und doch: Würden heute Wahlen stattfinden, hätten sie gegen den grössten Furbo des Landes keine Chance, den Lega-Chef Matteo Salvini.

Zwei Seelen in der Brust

Seit zwei Jahren wohne ich nun in der Nähe von Rieti. Im Provinzstädtchen in den Bergen nordöstlich von Rom lebt es sich in vieler Hinsicht wie in der Schweiz. Die Menschen hier sind eher zurückhaltend, korrekt und reagieren allergisch auf dreiste Verhaltensweisen, wie sie in der sogenannt Ewigen Stadt da und dort gepflegt werden. Meine Lehrzeit in der Kapitale war aber gleichwohl kostbar. Sie hat mir die Augen geöffnet, mich wach gemacht, den Blick geschärft für alle möglichen Hühnerdiebe. Und die, das ist ja klar, sprechen nicht nur Italienisch.

Ich habe dabei auch gesehen, was die Psychologie schon lange weiss: Es schlagen zwei Seelen in unserer Brust. Manchmal sind wir Doktor Jekyll. Und manchmal lassen wir den Mr. Hyde auf die Leute los. In diesem «wir» bin auch ich eingeschlossen. Ja, ich habe mich ertappt, wie ich selber begonnen habe, Dinge etwas «schlauer» anzugehen. Insbesondere im römischen Stossverkehr. Bekomme ich dann bei einem etwas gewagten Manöver einen strengen Blick zugeworfen, zucke ich mit der Schulter und sage: «Va be, dai!»