Die westliche Linke weigerte sich sehr lange, an die Existenz des sowjetischen Gulag zu glauben – heute ist es Putin, der davon möglichst wenig wissen will

1923 entstand auf den Solowezki-Inseln die Urzelle des Gulag. Bald schon drang die Nachricht von der Grausamkeit des sowjetischen Lagersystems in den Westen, doch wurde sie lange heftig negiert. In Russland wird die historische Aufarbeitung bis heute behindert.

Renate Lachmann
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Über dem Archipel der Kälte und des Todes lag lange ein organisiertes Schweigen. – Gulag, um 1930.

Über dem Archipel der Kälte und des Todes lag lange ein organisiertes Schweigen. – Gulag, um 1930.

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Über die Realität der Lager, die mit Beginn der Revolution konstitutiver Bestandteil des sowjetischen Experiments wurde, gab es früh schon verlässliche Berichte von Überlebenden. Ein erstes Zeugnis des Straflagers auf den im Weissmeer gelegenen Solowezki-Inseln (Solowki) stammt von Soserko Malsagow, einem nach Finnland entflohenen Häftling, dessen russischer Bericht «Solovki. Insel der Qualen und des Todes» 1925 in Riga erschien. Der Bericht dieses aus Inguschetien stammenden Mannes, der als Angehöriger der Weissen Armee verhaftet und deportiert worden war, blieb nicht unbeachtet und veranlasste Raymond Duguet, einen ehemaligen Angehörigen der französischen Armee, eines der ersten Bücher über die Solowki zu verfassen, das mit dem Titel «Un bagne en Russie rouge. Solovki, l’île de la faim, des supplices, de la mort» 1927 in Paris publiziert wurde. Die Lager- und Fluchterfahrungen von Juri Bessonow, eines ebenfalls von den Solowki geflüchteten Sträflings, erschienen 1928 unter dem Titel «Mes vingt-six prisons et mon évasion de Solovki» in Paris, wo sie von Romain Rolland als Verleumdung der Sowjetunion verworfen und von Rudyard Kipling als faktografischer Bericht ernst genommen wurden. Trotz diesen in Westeuropa zugänglichen Publikationen, die Einblick in Vorgänge der Entstehungsphase der Sowjetunion gaben, lösten die Nachrichten keine nachhaltige Erschütterung aus.

Das Straflager auf den Solowki gilt als Versuchsstation für das Zwangsarbeitssystem Gulag, das sich nach den Terrorjahren der stalinistischen Säuberungen netzartig über die gesamte Sowjetunion ausbreitete. In Frankreich lösten ab Mitte der vierziger Jahre Berichte über dessen Existenz publikumswirksames Interesse aus. Die französische Linke wies in ihrem Organ «Les Lettres françaises» Berichte dieser Art schlichtweg als Unwahrheit zurück, diffamierte Victor Krawtschenko, einen sowjetischen Deserteur, der in seiner Bekenntnisschrift «I chose Freedom» 1946 von Zwangsarbeitslagern geschrieben hatte, als Verfasser einer Schmähschrift und strengte 1949 einen Prozess wegen Verleumdung der Sowjetunion gegen ihn an. Krawtschenko gewann seinen Prozess dank dem Auftritt von Margarete Buber-Neumann, deren Zeugenbericht «Gefangene unter Stalin und Hitler» 1946 in Schweden und 1947 in Deutschland erschienen war und deren Aussage jeden Zweifel ausschloss.

Spaltung der Intellektuellen

1949 kam es zu einem weiteren Fall, der heftige Kontroversen in der französischen Öffentlichkeit auslöste: David Rousset, ein KZ-Überlebender, hatte in «Le Figaro» einen Artikel über das sowjetische System der Konzentrationslager veröffentlicht und in seinem Buch «L’Univers concentrationnaire» nicht nur die NS-Konzentrationslager, sondern auch die sowjetischen Zwangseinrichtungen (seit 1918 als koncentracionnyj lager beziehungsweise konclager bezeichnet) dargestellt, wobei er vor allem den Systemcharakter hervorhob und folglich von einem Konzentrations-Universum sprach. «Les Lettres françaises» (mit Louis Aragon als Ankläger) nannte ihn einen trotzkistischen Fälscher, woraufhin er das Organ verklagte. Auch er gewann seinen Prozess, wobei die Aussage von Julius Margolin, dem Verfasser von «Eine Reise in das Land der Lager», ebenso eine Rolle spielte wie jene der Autorin von «Elf Jahre meines Lebens», Elinor Lipper, die 1948 dank Schweizer Vermittlung aus dem Gulag entlassen worden war.

Auch Margolins 1950 vor der Uno als Gulag-Zeuge gehaltene «Aufklärungsrede» blieb ohne Konsequenzen in der politischen Öffentlichkeit. Nach den erwähnten Prozessen kam es bei den französischen Intellektuellen zur Spaltung: Es gab die Parteinahme für die Authentizität der Berichte über die Geschehnisse in der Sowjetunion, wie sie für Albert Camus galt, einerseits, und es gab die Weigerung, das Faktische als solches anzuerkennen, wie sie Jean Paul Sartre vertrat, andererseits.

Reportagen westlicher Korrespondenten über die Schauprozesse und Hinrichtungen führender Mitglieder der KPdSU Ende der dreissiger Jahre wurden im Westen zwar nicht als Fälschungen bezeichnet, aber ihre Interpretation führte zu ideologischen Auseinandersetzungen. Arthur Koestlers einem Schauprozess gewidmeter Roman «Darkness at Noon» erschien 1940 in England, wo er sowohl auf literarisches als auch auf politisches Interesse stiess. In Frankreich indes sah er sich scharfen Attacken vonseiten der Linksintellektuellen ausgesetzt, zu denen namhafte Philosophen gehörten.

Chruschtschows schockierende Rede

Die 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU gehaltene Geheimrede Nikita Chruschtschows – die zur öffentlichen wurde – war das Eingeständnis der Partei, an den Verbrechen, den ungerechtfertigten «Repressionen» (repressii), beteiligt gewesen zu sein. Unter Berufung auf Dokumente spricht Chruschtschow unumwunden von willkürlichen Verhaftungen, fiktiven Anschuldigungen, unter Folter erzwungenen falschen Geständnissen, Verurteilungen und Hinrichtungen, die er als Folge einer alles erfassenden Strategie der Falsifikation (falsifikacija) darstellt.

Es war ein Schuldbekenntnis, das der zu dieser Zeit mächtigste Mann der Sowjetunion als Sprecher und Exponent der Parteimitglieder formulierte, in dem er sich zugleich vom Personenkult mit seiner religiösen Konnotation als einer Perversion des egalitären Prinzips distanzierte. Diese in der Verurteilung des Stalin-Kults und mit dem Eingeständnis der im Namen der Partei verübten Verbrechen einzigartige Rede hätte – wäre sie in ihrem umstürzlerischen Gehalt zur Kenntnis genommen worden –, der Verleugnungskampagne ein Ende bereiten können.

Die Tatsache, dass die Rede gehalten wurde, war nicht nur in der kommunistischen Welt eine Sensation, sie schien auch für die Weltöffentlichkeit eine Wende anzukündigen. In der Sowjetunion ermöglichte sie den Beginn der sogenannten Lagerliteratur, der jedoch noch nicht ihre Veröffentlichung bedeutete. Vielmehr nahm nunmehr der Samisdat, der Untergrund-Selbstverlag, seine inoffizielle Rolle als Vervielfältigungs- und Verbreitungsinstanz wahr und der Tamisdat, der Dort-Verlag, seine verlegerische Aufgabe im Ausland.

Auch Alexander Solschenizyns Darstellung der Lagerrealität, «Der Archipel Gulag», wurde im Samisdat kopiert, vervielfältigt und in Umlauf gebracht. Das Werk, in dem die Schilderung des eigenen Lager-Erlebens mit Erfahrungsberichten von Opfern und Informationen aus geheimem Aktenmaterial verbunden war, erschien im Westen in Übersetzungen (auf Deutsch 1973–1976), es führte durch seinen Authentizitätseffekt dazu, dass die «dunkelste Seite der Sowjetunion» nunmehr mit Bestürzung zur Kenntnis genommen wurde. Heinrich Böll hat die Wege zu einer angemessenen, die literarischen Qualitäten einbeziehenden Rezeption gebahnt. Bereits 1967 war die ihre Lagererfahrung darstellende Autobiografie von Jewgenija Ginsburg erschienen, die 1980 durch einen zweiten Teil ergänzt wurde – auch diesen hat Heinrich Böll durch ein Vorwort in Deutschland publik gemacht. Allerdings war es Solschenizyns Werk, das in der westlichen Welt für längere Zeit die Funktion eines «Aufklärungstextes» übernehmen konnte. Aber just in dieser Funktion wurde es in der Sowjetunion unterdrückt: Die präzise Aufdeckung der Mechanismen des Zwangssystems und der Geschichte seiner Opfer sollte der Öffentlichkeit keineswegs zugänglich gemacht werden.

Die Gründung von Memorial

Erst Perestroika und Glasnost ermöglichten im Land des Geschehens eine auch öffentlich geduldete Beschäftigung mit dem Thema. Viele der bisher Schweigsamen haben das Wort ergriffen. In den neunziger Jahren sind Berichte von Lagerüberlebenden und historische Arbeiten über das Gulag-System in Russland erschienen, dennoch ist eine anhaltende öffentliche Beschäftigung mit dem Thema ausgeblieben.

Über dieses Ausbleiben einer Aufarbeitung der Gewaltgeschichte unüberhörbar Klage erhoben hat 2018 Masha Gessen in «Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor». Sie gilt insbesondere der Unterdrückung von Aktivitäten, die infolge der 1988 von Andrei Sacharow mitbegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial möglich geworden sind. Irina Scherbakowa, Mitglied dieser Organisation, schildert in ihrem Buch «Die Hände meines Vaters» (2017) die Phasen der Gründung dieser Vereinigung von Historikern und Kulturwissenschaftern, die von Michail Gorbatschow 1989 als Organisation «registriert», das heisst legalisiert wurde. Dies bedeutete den Beginn einer gewaltigen Forschungsarbeit, die dem Sammeln von Dokumenten, der Entdeckung von Lagerstandorten und Massengräbern, der Schaffung eines Archivs, dem Erarbeiten von Opferbiografien und nicht zuletzt der Errichtung von Gedenkstätten galt und weiterhin gilt.

Das Putin-Regime stellt eine zunehmende Bedrohung für diese Aktivitäten dar. Unlängst wurde in der Duma einstimmig ein Erlass verabschiedet, demgemäss Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, als «Agenten» zu betrachten seien. Das trifft für Memorial zu und bedeutet, dass die Menschenrechtsorganisation damit in ein politisches Gefahrengebiet geraten ist. Es gibt auch andere Gefährdungen: Sergei Kowaljow, ehemaliger Häftling im Lager Perm-36 und Kämpfer für dessen Erhalt, berichtet von der bedrohlichen Lage, in der sich diese Gulag-Gedenkstätte, die einzige am Ort eines Lagers, befindet. Dies, weil eine «patriotische Jugendorganisation», die die Meinung vieler Postsowjetbürger vertritt, eine solche Stätte für das Ansehen Russlands als schädlich erachtet und so etwas wie ein «Zurück in die UdSSR» im Sinne hat.

Dies und Ähnliches geschieht trotz der Aufklärungsarbeit, die Memorial bereits 1998 mit einem umfassenden Nachschlagewerk («Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR 1923–1960») angeboten hat. Dort wurde aufgrund historischer Recherchen und der Nutzung von Archivdaten der Versuch unternommen, eine genauere Kenntnis von Anzahl, Ort, Entstehung und Schliessung der Lager, der Arbeitsvorkommen und der Entwicklung der Häftlingszahlen zu vermitteln. Der Aufklärung dienen auch die im virtuellen Gulag-Museum (Virtualnyj Muzej Gulaga) gesammelten Opferbiografien und Bildmaterialien sowie die historischen Daten, die, in einem «Chronograf» nachlesbar, das Zwangslagergeschehen von seinen Anfängen bis nach Stalins Tod repräsentieren.

Dieser Aufklärungsarbeit verschliesst sich nicht nur die rechtsgerichtete, nationalistische Organisation Pamjat (Gedächtnis) mit der These von der Nichtexistenz des Gulag, sondern auch ein Teil der Gesellschaft, der das Faktum keineswegs leugnet, das Geschehen aber als sinnvoll und notwendig legitimiert und damit dessen Status als Verbrechen negiert.

Staatlich organisiertes Vergessen

Aber nicht nur Verleugnung und Rechtfertigung, sondern auch die generelle Weigerung, sich konkretes historisches Wissen über den Stalinismus anzueignen, lassen das Ziel unerreichbar erscheinen, ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Geschehen zu schaffen und einen Gedächtnisraum für den die russische Geschichte so stark belastenden Abschnitt zu öffnen. Die Versuche, Entdeckungen von Massengräbern und Erschiessungsstätten publik zu machen und eine historische Erfassung des Lagergeschehens zu ermöglichen, werden von Memorial gleichwohl nicht aufgegeben, ebenso wenig wie die Tradition von Gedächtnisveranstaltungen. Letztere gewönnen an Gewicht, wenn den Terror- und Gulag-Opfern derselbe Status zuerkannt würde, den der offizielle Gedenkkult für die Opfer der Blockade Leningrads und die Gefallenen im vaterländischen Krieg gegen die Deutschen geniesst.

Dieses Ziel verfolgt Irina Flige, die derzeitige Vorsitzende von Memorial. Aber sie weiss, dass es dazu eines öffentlichen Diskurses bedarf, der nicht nur das Wissen von Terror, Verhaftung, Erschiessung, Lager und Deportation der umgekommenen Vorfahren vermitteln, sondern auch eine Sprache entwickeln würde, die mit präziser Terminologie bei der Benennung des Geschehens auch der «Unerklärtheit» seiner Entstehung gerecht würde. Flige geht es um Sinngebung (osmyslenie) sowie um den Versuch, das Wagnis einer Interpretation der Gewaltgeschichte einzugehen und zugespitzt die Frage zu stellen: Warum und wie hat das geschehen können? In einer Schrift stellt sie fest: «Das Thema des sowjetischen Staatsterrors befindet sich an der Peripherie des historischen Bewusstseins und fehlt gänzlich im grossen historischen Narrativ.»

Einen resignativen Ton schlägt auch Masha Gessen in «Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland» (2019) an. Nach dem Besuch im Lagermuseum Perm-36 konstatiert auch sie das Fehlen einer «Erzählung» über das Geschehen, ohne die es keine Geschichte im Sinne einer Aufarbeitung geben könne. Der Gulag erscheine wie etwas Unbestimmbares, er könne «alles und nichts» bedeuten. «Das ist das entscheidende Merkmal der Geschichtsschreibung über den Stalin-Terror in der Putin-Ära. Es sagt letztlich, dass das halt einfach passiert ist – aber egal.» Es wird hier deutlich, dass es in dieser Klage nicht nur um die politische und tatsächliche Behinderung der Enthüllungsarbeit geht, sondern auch und besonders um die Einsicht in die Erfolglosigkeit der Versuche, in der postsowjetischen Gesellschaft eine historische und intellektuelle Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung mit der Gulag-Geschichte (geschweige denn zu deren Aufarbeitung) zu entwickeln – es klingt wie das Ende der Aufklärungsutopie.

Renate Lachmann ist emeritierte Professorin für slawische Literaturen an der Universität Konstanz. 2019 erschien bei Konstanz University Press der Band: «Lager und Literatur. Zeugnisse des Gulag».