Gastkommentar

Nur wer eine Heimat hat, kann auch Weltbürger sein: Vom Nutzen und Nachteil eines menschlichen Grundbedürfnisses

Allenthalben will man den Leuten die Heimatverbundenheit ausreden. Warum eigentlich?

Hans Widmer
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Unter Hors-sol-Intellektuellen bildet sich leicht die Meinung, auf das Heimatbedürfnis könne gänzlich verzichtet werden

Unter Hors-sol-Intellektuellen bildet sich leicht die Meinung, auf das Heimatbedürfnis könne gänzlich verzichtet werden

Alexandra Wey / Keystone

Den Mitgliedern einer Sippe in der Savanne ist Heimat in keiner Weise bewusst. Sie ist so unreflektiert vorhanden wie der Fluss der Zeit. Innerhalb der Sippe kennt jeder jeden genau. Auch hat jeder die Pflichten, die seinen Fähigkeiten angemessen sind. Man verlässt sich aufeinander und würde im Falle einer Erkrankung oder Verletzung umsorgt. Die soziale Kontrolle ist vollkommen. Jedes Mitglied unterzieht sich den uralten Ritualen und gibt sie weiter, wenn es selber in die Ränge kommt.

Aus den Prägungen der Psyche in den Hunderttausenden von Jahren solchen Zusammenlebens leiten sich auch die fundamentalen emotionalen Bedürfnisse in der zivilisierten Gegenwart ab. Heimat empfindet das moderne Individuum dort, wo es sich auskennt, sich sicher fühlt, erkannt wird, willkommen ist. In jeder Zivilisation wird das Kind zum funktionsfähigen Mitglied erzogen, und was es lernt, ist das, was es dort zum Leben braucht. Was der Beduine lernt, brächte ihn unter Inuit nicht weit.

In jeder Zivilisation gleich ist nur das Bedürfnis nach Heimat. Auf einer Bedürfnispyramide rangieren über den Grundbedürfnissen gerade jene nach Zugehörigkeit und Anerkennung – die essenziellen Komponenten von Heimat. Zivilisationen transformieren dieses Bedürfnis bloss, sie löschen es nicht aus – wie das Publikum an Fussball-Länderspielen bezeugt.

Warum jubelt man frenetisch einem Sportler zu, mit dem einen nur die Nationalität verbindet, die oft erst noch auf Einbürgerung beruht? So wie alles Leben von den ersten biologischen Molekülen an auf Expansion und Durchsetzung aus ist, so will man einer erfolgreichen Gesellschaft angehören. Niemand will von Verlierern regiert werden. Die Kraftmeier, die gegenwärtig als Staatschefs fungieren, widerspiegeln so gesehen keine grundlegende Pathologie, sondern oftmals nur das Ablegen von kognitiven Dissonanzen angesichts zunehmend widriger Umstände.

Vom Verlust der Heimat

Völker und Volksgruppen hingegen, die der Heimat beraubt wurden, erholen sich in Jahrhunderten nicht, wie die Eingeborenen oder die Schwarzen in den USA. Wo der Verlust der Heimat nur hundert Jahre zurückliegt, wie bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion oder des Osmanischen Reiches, bei Kurden, Tibetern oder Rohingya, kämpfen diese mit grossen Opfern beharrlich und unablässig für deren Wiederherstellung.

Es gibt auch unmerklichen Heimatverlust: Trafen drei Leute der Generation meines Vaters zusammen, so sangen sie im Handumdrehen, auf einander achtend und zweistimmig Volkslieder. Wenn wir Europäer bei McKinsey jedoch mit Japanern und Amerikanern zusammenkamen, so brachten wir nicht einmal die erste Strophe von «My Bonnie is over the ocean» zustande – sondern brachen unter verschämtem Kichern ab.

Für sesshafte Familien gehören Kirche, Schule, Fussballklub, die Fabrik, wo der Vater arbeitet, zur Heimat. Geht die Fabrik in Konkurs, weil ihre Produkte in Vietnam günstiger eingekauft werden können, bricht ein Stück Heimat weg. Eine ganze Branche kann Heimat bedeuten – und verloren gehen: 1964 beschäftigte Paillard mit ihren weltberühmten Marken Hermes, Bolex, Thorens und Hauptsitz in Yverdon 8000 Mitarbeiter in der Präzisionsmechanik. Doch aufkommende Elektronik verursachte bis 1989 ihren Untergang.

In jeder Gesellschaft schleift sich über die Jahrhunderte der Umgang der Mitglieder miteinander ein. Bestimmende Grössen sind das gegenseitige Vertrauen, das Verhalten von privilegierten Schichten, die Bereitschaft zum Einsatz für das Allgemeinwohl. Wenn das Gewohnte abbröckelt, entsteht ein Unbehagen. Wenn gar der Staat zusammenbricht, in den man eingebunden war mit seinen Jugendorganisationen, seiner Wirtschaftsstruktur, seiner verschworenen Opposition mit Jazz- und Poesieveranstaltungen, wie im Osten nach 1989, dann bleibt von der Heimat nur noch die Sehnsucht danach übrig. Das Neue, also Demokratie, Marktwirtschaft, Bewegungs- und Pressefreiheit, ist gut und recht, aber noch keine Heimat.

Von der Pathologie der Heimat

Mit dem Heimatbedürfnis geht ein Bedürfnis nach Homogenität von Gesellschaften einher, rund um den Globus. Manifest ist es in der unterschwelligen Ablehnung von allem Fremden. Es kann zur Besessenheit verkommen, wie in kleinerem Massstab Fanverhalten und im grösseren Massstab unaufhörliche Kriege zwischen Schiiten und Sunniten, Protestanten und Katholiken, Buddhisten und Muslimen, Hutu und Tutsi. Vom Judenhass ganz zu schweigen.

Wenn es auch Epochen friedlicher Koexistenz gibt: Parallelgesellschaften werden früher oder später oftmals vom dominierenden Bevölkerungsteil attackiert, vor allem in Zeiten existenzieller Bedrohung wie zum Beispiel durch die Pest. In Zofingen hiess ein Ort noch lange «Judenacker», wo 1348 der Brunnenvergiftung angeklagte Juden gefoltert, gerädert und verbrannt worden waren. Der Drang zu Homogenität ist die pathologische Seite des Heimatbedürfnisses. Aber das Bedürfnis selbst als pathologisch abzutun, greift zu kurz. Und vor allem schützt eine solche Pathologisierung nicht vor Gewaltausbrüchen, wenn das Grundbehagen einer Gesellschaft erschüttert wird, wie jenes der Deutschen durch Niederlage und Reparationen im Ersten Weltkrieg.

Unter Hors-sol-Intellektuellen bildet sich leicht die Meinung, das Heimatbedürfnis könne den Bürgern ausgeredet werden. Auch verhält sich traditionelle Staatsphilosophie so, als ob davon abstrahiert werden könne. Die Bürger werden als rationale Wesen behandelt, denen man an einem Samstagnachmittag die Vorteile von Markt- oder Planwirtschaft erklärt, von Zusammenschluss oder Austritt, und das fortan ihre Überzeugung ist. Das ist so verkehrt wie die Sicht von Teilen der Ökonomie, das Subjekt werde bloss durch materielle Bedürfnisse motiviert und der Staat sei bloss Wirtschaftsstandort.

Vom Heimatgetöse

Toleranz und Weltoffenheit sind schöne Haltungen, doch muss man dafür erst eine Basis, ein Zuhause und einen Selbstwert haben. Wo Heimat als Erfahrung von Zugehörigkeit und Anerkennung ausbleibt, gelangt Toleranz nicht über Lippenbekenntnisse hinaus. Umgekehrt benützt der selbsternannte Weltbürger von anderen aufgebaute Einrichtungen und Kulturen wie ein wohlfeiles Hotel, trägt nichts bei, ist nirgendwo Bürger, dafür überall Trittbrettfahrer.

Heimatliebe wird durch die Politik missbraucht – wie das spirituelle Bedürfnis durch Religionen. Heidegger erkannte zu seinem Nachteil nicht, dass die gute Idee der Verwurzelung und Zusammengehörigkeit von den Nationalsozialisten in furchtbare Kanäle geleitet würde. Der Missbrauch hat denn auch die Heimat derart in Verruf gebracht, dass der Begriff in Deutschland bis heute gemieden wird.

Eine andere Angriffsfläche bietet die Hinwendung zur Tradition bis hin zu deren Verklärung. Da vor hundert Jahren noch Landwirtschaft dominierte, wird dem Bewahrer leicht ein auf Hof und Acker beschränkter Horizont unterstellt. Mit der epidemischen Schweiz-Kritik der helvetischen Intelligenzia vor fünfzig Jahren – die Rede war von Enge und Rückwärtsgewandtheit – wurde oft bloss die eigene Unerheblichkeit dem Land in die Schuhe geschoben. Einer der Schriftsteller reklamierte gar ein vaterländisches Komplott, das ihn totschweigen wolle. Die negativen Umstände des Aufwachsens unter autoritären Eltern oder in unterprivilegierten Verhältnissen können auf das projiziert werden, was der bodenständige Nachbar nebenan als Heimat feiert.

Es ist nicht damit getan, «America first», AfD, Pegida, Erdogan, Orban, Le Pen zu verachten oder gar zu ächten. Sie als Populisten abzukanzeln und zu meinen, damit sei die Sache erledigt, ist selbst süffisanter Populismus. Ruhige Vernunft hingegen wird die Möglichkeit offenlassen, dass Politiker nicht nur als niedrig geschmähte Instinkte des Volkes anheizen, um ihre eigene Macht zu festigen, sondern auch objektive Defizite ansprechen.

Denn das Unbehagen ist zuerst und muss den Leuten nicht eingeredet werden – sonst könnte man ihnen auch Umweltschonung einreden –, selbstredend kann es aber mit Lügen und Übertreibungen ins Brandgefährliche gesteigert werden. Ein Teil des Unbehagens entspringt der Globalisierung, die Abhängigkeit von unüberblickbaren fremden, fernen Mächten schafft und Menschen Kompensation in Dialekten, Volksliedern, Bräuchen, einheimischen Produkten suchen lässt.

Vom Wert der Heimat

Kein Mensch kann ohne positive Identität leben. Ebenso wenig kann es eine Gesellschaft. Man vergegenwärtige sich die letzten hundert Jahre Russlands: Seit je von Zar und Adel ausgebeutet, dann von Stalin misshandelt, hatte das Volk im Zweiten Weltkrieg das ungeheure Opfer von 26 Millionen Toten zu ertragen – und wird bei Gedächtnisfeiern nahezu übergangen.

Das Heimatbedürfnis dominiert rationale Einsichten. Der Sowjetbürger sah wohl, dass er in einem dysfunktionalen Staatsgebilde lebte, doch war die Sowjetunion eine Weltmacht, während sich nun das übrig gebliebene Russland damit trösten muss, von einem willensstarken Oberhaupt geführt zu werden. Westliche Kritiker nehmen Valery Gergiev oder Anna Netrebko die Nähe zu Putin übel. Sie sollten bei allen guten Gründen doch einsehen, dass auch Weltstars konstante Demütigung ihrer Heimat nicht aushalten.

Die grandiose allgemeine Überschätzung des Verstandes und die spiegelbildliche Verkennung des Emotionalen stehen am Ursprung grosser politischer Fehleinschätzungen. Die erste Aufgabe des Verstandes ist die richtige Einschätzung des Emotionalen, denn das Emotionale behält immer die Oberhand – das eigene wie das kollektive. Und Heimat ist ein emotionales Urbedürfnis.

Hochkulturen von Ägypten über das alte Griechenland und Rom sind jeweils sang- und klanglos verschwunden – dabei existierten die Menschen doch weiter. Es hielt sie eben nichts mehr zusammen, keine Kultur, die aus einem blossen Landstrich eine Heimat macht.

Paradoxerweise ist es das Erlebnis von Heimat, das erst Toleranz, Weltoffenheit und schliesslich Friede ermöglicht. Gottfried Keller sagt das im «Fähnlein der sieben Aufrechten» selbstverständlich, sanft und poetisch – von der Genderdiskussion noch unbeleckt: «Achte eines jedes Mannes Vaterland, aber das deine liebe.»

Hans Widmer ist Unternehmer und freier Autor. Zuletzt ist von ihm «Das Modell des konsequenten Humanismus» (2013) erschienen.