Eine junge Architektin verzaubert ein vielteiliges Wohnhaus im Innern in einen fliessenden Raum. Es ist das Erstlingswerk von Angela Deuber, die unterdessen international erfolgreich ist.
Die Zeit scheint in Stuls, hoch oben im Albulatal, stehengeblieben. Unwesentlich nur hat der Weiler auf einer Terrasse sich seit dem Spätmittelalter verändert. Neue Ferienhäuser gibt es nicht. Viele der alten Bauten an der schmalen Dorfstrasse zeigen ausgeprägte Engadiner Einflüsse, einige zieren originale Sgraffito-Dekorationen. Wie in der Region einst üblich, wurden die Häuser kontinuierlich erweitert und ausgebaut.
So auch der Bau, der dem Erstlingswerk der unterdessen international erfolgreichen Architektin Angela Deuber zugrunde liegt. Aussen kaum ablesbar, verbergen sich in einem Holzbau über dem Dorf Bergün nach Deubers Intervention geometrisch raffinierte und vielschichtig untereinander verbundene Räume. Der älteste Wohnbau in Stuls, ein Doppelhaus aus dem 15. Jahrhundert, bestehend aus der Chesa Fontana und der Chesa Gabriel, wurde schon in den ersten hundert Jahren nach seiner Fertigstellung mehrfach umgebaut. 1527 errichtete man rückwärtig einen Stall. Die Bewohner passten die Kammern über die Jahrhunderte stetig an, fügten neue Unterteilungen hinzu und entfernten ältere. Die letzte grosse Änderung am Volumen datiert von 1902, als die rechte Haushälfte aufgestockt wurde.
Zuweilen gelten markante Eingriffe und der Schutz historischer Bausubstanz als schwer vereinbar. Doch der Umbau dieses denkmalgeschützten Hauses beweist, dass radikale Massnahmen altehrwürdige Bauten sogar stärken können.
Von aussen wirkt der Bau wie eine Bricolage. Nichts lässt erahnen, dass sich drinnen ein Bijou zeitgenössischer Architektur entfaltet. Im Zuge eines Umbaus wurde zwischen 2009 und 2012 das Innere mit historischen Strickwänden, Täfern, Naturputzoberflächen und Gewölben liebevoll restauriert. Die sensible Gestaltung, aus der grosses Flair für regionale Bautradition spricht, hat Angela Deuber gemeinsam mit dem Büro Rudolf Fontana & Partner verwirklicht.
Wer das Werk der Churer Architektin verfolgt, mag über diese denkmalpflegerische Arbeit erstaunt sein. Dreissigjährig gründete sie ein eigenes Büro und wurde schon bald mit einer radikalen, zuweilen autonomen Architektur international bekannt. Man erinnere sich nur an die Bauten, die sie dann 2018 an der 16. Architekturbiennale von Venedig mittels palimpsestartiger Zeichnungen präsentierte – an ihr vieldiskutiertes Schulhaus in Thal von 2013 etwa, wo die Betonskulptur von der Tragstruktur geprägt ist. Ihre Geometrie ist kraftvoll und die Gestaltungsidee konsequent umgesetzt. Sie stiftet Identität, ohne sich jedoch auf den Bestand rundherum zu beziehen.
Sieht man genauer hin, erkennt man auch beim Umbau in Stuls denselben unbedingten Willen zur kompromisslosen Umsetzung der Konzeption der damals 33-Jährigen, die über ihren Umbau sagt: «Die Räume, die ich vorgefunden habe, waren labyrinthisch. Das hat mich inspiriert: Es ging mir darum, die Direktheit und Qualität dieser einfachen historischen Vier-Raum-Struktur mit aller Konsequenz durch einen präzisen Eingriff zu einer unendlichen Einheit zu stärken.»
Heute schöpft das Haus seine Kraft aus der gleichzeitigen Präsenz zweier Raumsysteme. Deuber entfernte einige Trennwände, um die Grundstruktur des Gebäudes voll zur Geltung zu bringen: Im Wesentlichen besteht es aus zwei Teilen mit je annähernd quadratischem Fussabdruck, die jeweils in allen Stockwerken durch immer zwei Wände in vier Räume unterteilt sind. Die Zimmer bilden Raumfolgen wie in einem barocken Schloss. Die Niveauunterschiede zwischen den Kammern wurden beibehalten. Sie resultieren aus der fortgesetzten Erweiterung des Strickbaus. Viele der alten Fenster und Türen blieben in Verwendung. Der nicht ortstypische Hocheingang wurde entfernt, um das Haus zu erden; man betritt es auf Strassenniveau.
Die meisten der dreizehn Treppen mussten weichen. An ihre Stelle trat eine weiss gestrichene Doppelwendeltreppe aus Beton, die einen Gegenpol zum Bestand bildet. Ihr Einbau war aufwendig, die Decken mussten vorübergehend rückgebaut werden. Die Stufen schrauben sich durch enge Röhren empor. Ihre Läufe sind schmal, die kleinere Treppe ist nur 65 Zentimeter breit, die grössere 90. Die fensterlosen Treppenräume scheinen aus keinem Material, fast ephemer, die von Deuber ausgewählten Leuchten verstärken diese Wirkung noch. Die dicken Betonwände schirmen sie gegen alle Geräusche ab.
Das Resultat ist eine völlig andere Atmosphäre als in den Zimmern, die von Holz- und Naturputzoberflächen geprägt sind und mit vielen Verzierungen beeindrucken. Im ersten Obergeschoss sind die Treppenschächte – und somit beide Gebäudeteile – über eine Tür verbunden. Durch diese Verknüpfung entsteht die Illusion, das Haus sei ein einziger Raum. Mitunter vermag man nicht mehr mit Gewissheit zu sagen, wie viele Zimmer man schon durchschritten hat. Das kleinteilige Gebäude wirkt weitläufig und gross. Der Aufenthalt ist ein inspirierendes, kontemplatives Erlebnis, das an M. C. Eschers berühmte Lithografie «Relativität» (1953) denken lässt, die ein unmögliches Arrangement unzähliger Treppen und Räume zeigt. Der Aussenwelt entrückt fühlt man sich im Haus, die Architektur zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.
Einen Twist erfährt die Gestaltung unterm Dach: Die Trennwände der vierteiligen Kammer wurden entfernt. Eine Stütze, die dezentral im Raum steht und die Lasten über zwei voluminöse Balken zugeleitet bekommt, organisiert das Dachgeschoss im Sinne des Vier-Raum-Systems in einer abstrakt wirkenden geometrischen Ordnung. Die Höhenunterschiede des Fussbodens tun ein Übriges, ebenso das Weiss der Bauteile.
Angela Deubers Umbau zeigt, dass in denkmalgeschützter Substanz radikale Eingriffe durchaus möglich sind, ohne dass die räumlichen Qualitäten verloren gehen. Ihr Projekt steht beispielhaft für die Arbeiten vieler junger Schweizer Architektinnen und Architekten aus den letzten rund zehn Jahren. Ein starker Gestaltungswille und ein wertschätzender, respektvoller Umgang mit der traditionellen Architektur finden in ihnen zusammen.
Der Begriff «radikale Behutsamkeit», den der deutsche Architekt Volker Staab geprägt hat, passt auch zu diesem Haus im Albulatal. Hier stehen verschiedene Zeitschichten gleichrangig nebeneinander und ergänzen sich. Brüche und Überlagerungen werden als Qualitäten herausgehoben und nicht als Zeichen von Inkonsequenz abgewertet. In Zeiten, in denen unter dem Zwang zur Nachverdichtung auch der Umgang mit dem historisch wertvollen Bestand unter Druck kommt, sind Strategien wie diese von Angela Deuber beim Um- und Weiterbauen zukunftsweisend. Ihre Lösung macht Mut.