Venedig in Zeiten der Ansteckung

Noch heute weigere ich mich, die Lagunenstadt schön zu finden. Aber ihr Untergang würde mir das Herz brechen.

Christina Viragh
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Als wär's ein Wink des Schicksals, kommt in Venedig ausgerechnet mitten im Carnevale das Leben zum Stillstand. Blick hinüber auf die Insel Giudecca.

Als wär's ein Wink des Schicksals, kommt in Venedig ausgerechnet mitten im Carnevale das Leben zum Stillstand. Blick hinüber auf die Insel Giudecca.

Francisco Seco / AP

Auf dem Vaporetto, das uns 1965 vom Bahnhof zum Markusplatz bringt, weint meine Mutter. Kriegsgeprüfte Ungarin, vor fünf Jahren in die Schweiz emigriert, jetzt zum ersten Mal wieder in Venedig, es wäre fast seltsam, wenn sie angesichts der Palastfassaden des Canal Grande nicht weinte. Fast. Mein Vater weint nicht, ich glaube, er ist so betreten wie ich, die auch nicht weint. Abwehr regt sich in mir, gegen die Tränen meiner Mutter und auch gegen Venedig. Niemand soll mir vorweinen, wie ich diese im Wasser stehenden Häuser zu finden habe.

Noch heute ist das so. Noch heute weigere ich mich, Venedig schön zu finden, und überhaupt, denke ich, als ich an einem Februartag hier eintreffe, lebe ich schon zu lange in Italien, als dass ich von alter Bausubstanz umgeworfen würde, selbst wenn sie im Wasser steht.

Wie war das doch im Sommer in Otranto, beim Schwimmen im glasklaren Meer unter der Stadtmauer, mit Blick in Richtung der Kathedrale, deren Boden aus einem riesigen Mosaik besteht, mit dem auf Elefanten stehenden Lebensbaum, der Sintflut, dem zwischen zwei Greifen schwebenden Alexander dem Grossen, dem auf einem Ziegenbock reitenden König Artus, den Tugenden und Lastern und vier Löwen mit einem einzigen Kopf und einer zweischwänzigen Meerjungfrau mit Hängebrüsten und allen Tierkreiszeichen und noch vielem mehr, 12. Jahrhundert. Bin also mit allen Wassern gewaschen.

Denke ich. Aber sagen wir es gleich, als ich Ende dieses Februars mit dem Vaporetto auf dem Canal Grande zum Bahnhof fahre, kämpfe ich mit Tränen. Nebel hängt um die Spitzen der Campanili, und Vaporetto Nummer 5.2 fährt diese ungewöhnliche Strecke, eigentlich würde es durch den Canale della Giudecca fahren, aber der ist gesperrt. Wohl nicht wegen des Nebels, so dicht ist er nicht, zwei als Edelleute Kostümierte, es ist Karneval, sitzen auf einer kleinen Terrasse über dem Wasser beim Frühstück, man sieht auch vom Vaporetto aus ihre Proseccogläser, gemietete Noblesse oblige.

Die Stadt des Untergangs

Die Umleitung mag also eine behördliche Massnahme in irgendeinem Zusammenhang mit der Ansteckungsgefahr sein, wir sind in den Zeiten des Coronavirus, und wenn es das nicht ist – aber warum sollte es das sein, warum wäre der breitere, weniger frequentierte Canale della Giudecca stärker gefährdet? –, so passt es doch ins Bild.

Bald wird ja der Carnevale abgebrochen, werden Schulen und Universitäten geschlossen werden, und die Frau, der ich am nächsten Tag zu Hause in Rom beim Hundespaziergang begegnen werde, wird einen Schritt rückwärts machen, als ich ihr sage, ich sei gerade aus Venedig zurückgekehrt. Denn, wir wissen es, Ansteckendes, Pest, Cholera, Tod passen zu Venedig wie selten irgendwohin, unabhängig von der tatsächlichen, vielleicht nicht so katastrophalen Lage.

Noch vor dem vorzeitigen Ende des Karnevals ziehen schwarze Teufel, eine Totenklage spielend, durch die Gassen, und nicht wenige Touristen sind mit der Schnabelmaske des «dottore della peste» angetan, spasseshalber, gewiss, aber wohl doch mit einem Gefühl für den Genius loci. «Untore» nennt mich jemand am Abend desselben Tages, lachend zwar, aber eben doch mit dem Wort, das die Schmierer bezeichnete, die mit ihren Salben absichtlich die Pest verbreiteten. Venedig muss es sein.

Hier ist der Untergang plausibel, weil ja die Stadt selbst untergeht, die Fundamente sacken in den Schlamm, die Kirchtürme stehen schief, Fotos von der Acqua alta hängen in den am 12. November 2019 überfluteten Geschäften, «è una città morta», sagt ein venezianischer Bekannter und meint, dass obendrein die Stadt zum Museum wird, nur Touristen, kaum Einwohner.

Aber, meine ich, das ist es nicht wirklich. Venedig suggeriert seinen eigenen und dann auch unser aller Untergang, weil es nicht wirklich zu fassen ist, allen Bemühungen zum Trotz oder, noch eher, alle die zahllosen Bemühungen motivierend, in jeglicher Sparte der Kunst. Tinte zum Beispiel ist schon so viel geflossen, dass sie die Kanäle füllen könnte, Abhandlungen, Geschichten, Phantasien, Sehnsüchte tauchen wie die Ca’ d’Oro, die Ca’ Rezzonico, die Ca’ Foscari oder die verhexte Ca’ Dario aus tintendunklen Wogen auf. Oder ähnlich.

Eine beunruhigende Unfassbarkeit

Wie gesagt, Worte fassen Venedig nicht, Goethes «wunderbare Inselstadt» und «Biberrepublik» sind nicht das Wahre, und auch der hingerissene Proust kann nicht anders, als von «bezaubernden Palästen» sprechen. Immerhin, er fühlt sich beim nächtlichen Umherstreifen wie eine Figur aus «Tausendundeiner Nacht» und sagt damit das Richtige, nämlich eben, dass Venedig anderswo ist. In einer Zone, die wir nicht nur nicht fassen können, sondern auch nicht fassen wollen, denn von dort kommen beunruhigende Signale.

Dahingehend, dass eigentlich alles anders ist, die Realität gesamthaft und Venedig im Speziellen. Dass es eine Stadt sei, in der sich gotische Fassaden in blauen Wasserstrassen spiegeln, meinen wir nur. Das könnte man auch in Las Vegas haben, Dogenpalast, Markusplatz, Campanile, Rialto-Brücke, alles ein bisschen zusammengepfercht, aber doch an einem blauen Kanal, auf dem echte Gondeln fahren. Klar, die Patina fehlt, aber nicht sie ist es, die das wahre Venedig zu dem Ort macht, der mit seiner Unfassbarkeit den Untergang nahelegt.

Ich wohne in einer noch patinierteren Stadt, zweihundert Meter von meinem Schreibtisch entfernt stehen die Ruinen der Diokletianthermen, aber auch wenn man einiges Aufheben um die verlotternden römischen Zustände macht, käme niemand auf die Idee, dass hier das Ende seinen Anfang nehmen könnte. Ewig ist die Stadt garantiert nicht, aber doch auf beruhigende Art geerdet in ihrer Lage zwischen Bergen und Meer.

Dort in der Lagune hingegen erinnert Venedig beunruhigend daran, dass alles dauernd in alle Richtungen schwappt, einiges kurz eine Form annimmt, als schmaler Kanal etwa, auf dem ein schwankendes Gemüseboot die letzten Ciochi, Artischocken im Veneto-Dialekt, feilhält, worauf sich bald alles verläuft, Wasser und Boot und man selbst in den ihrerseits nach unfassbaren Plänen angelegten Gassen. Obwohl man doch die Kirche San Francesco erreichen wollte, zwecks Besichtigung, gewiss, denn wenn auch «schön» in seiner starren Oberflächlichkeit keine Kategorie ist für Venedig, ist das alles natürlich doch schön.

Ja, auch das Wort, wie alles in Venedig, schwappt zwischen Sein und Nichtsein hin und her, einmal rasch und oberflächlich zu Tränen rührend, dann an unbeleuchteten Palazzi vorbei sich in einem dunklen Kanal verlierend. Für das, was man dort sieht, fehlen die Worte, schön, nicht schön, man weiss es nicht mehr, man spürt nur, dass es an etwas erinnert, an eine Realität, in der wir selbst auch nicht so sind, wie wir meinen.

Wo nur noch Wellen sind

Wenn das an sich schon beunruhigend ist, so ist noch beunruhigender die Tatsache, dass es nicht viel braucht, bis solchen Orten und Dingen, von denen es ja vorläufig noch etliche gibt, Bäume, Tempel in der Wüste, die Hochebene bei Castelluccio di Norcia, bis solchen beunruhigend jenseits von schön liegenden Dingen der Untergang gewünscht wird.

Venedig, das alle schönen Städte hinter sich lässt, ist nicht nur der Ausgang, sondern auch das Ziel von Untergangsphantasien. Auch das mag, nur eine laienhaft tiefenpsychologische Vermutung, hinter der unerklärlichen Nachlässigkeit stehen, mit der die Kulturgüter und die Bewohner der Stadt behandelt werden.

Meinerseits kann ich von Glück sagen, dass in den drei Wochen, während deren ich in Venedig war, keines der monströsen Kreuzfahrtschiffe in den Canal Grande einfuhr. Es hätte mich in der Vorstellung bestärkt, dass man Venedig zerstören will, und ich hätte dann, dem Beispiel meiner Mutter folgend, die Stadt en bloc beweint.

Pauschale Tränen hätten mich aber zu sehen gehindert, dass auch Venedig aus verschiedenen, meerorientierten oder nach Festland aussehenden Städten besteht. Und aus einem Archipel genauso unterschiedlicher Inseln. Da ist zum Beispiel die Insel San Servolo, bewohnt von zukunftsfrohen, wahrscheinlich an keinerlei Untergang denkenden Studenten.

Allerdings ist die Insel so klein, dass man das Schwappen des Wassers praktisch an jedem Punkt hört, und so gelegen, dass die Stadt da in der Lagune wie eine Erscheinung ist. Du siehst zwar die San-Zaccaria-Anlegestelle und die Spitzbögen des Dogenpalasts, hast aber das Gefühl, du müsstest dir sagen, dass da nur Wasser ist, nur die unruhige Bewegung der Wellen.

Dann, nach zehn Minuten mit dem Vaporetto, erreichst du tatsächlich San Zaccaria, wechselst in die Nummer 5.2 und würgst auf dem Weg zum Bahnhof an Tränen, weil du Venedig verlässt. Und vielleicht auch noch aus einem nicht ganz fassbaren Grund.

Die Schriftstellerin Christina Viragh lebt in Rom. 2018 ist ihr Roman «Eine dieser Nächte» im Dörlemann-Verlag erschienen.