Kolumne

Infame Instrumentalisierung

Sosehr Einigkeit darüber herrscht, dass der Missbrauch von Leiderfahrungen anderer für eigene Zwecke verwerflich ist, so sehr ist niemand dagegen gefeit, genau das immer wieder zu tun.

Konrad Paul Liessmann
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Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

An der Wirklichkeit kann sich jeder vergreifen. Kaum ein Ereignis, eine Tragödie, eine Epidemie, die nicht für politische, ideologische und weltanschauliche Interessen in Dienst genommen werden kann. Instrumentalisierung lautet das dafür zuständige Zauberwort, und sosehr Einigkeit darüber herrscht, dass der Missbrauch von Leiderfahrungen anderer für eigene Zwecke verwerflich ist, so sehr ist niemand dagegen gefeit, genau das immer wieder zu tun.

Über das komplexe Psychogramm des Mehrfach-Mörders von Hanau war noch kaum etwas bekannt, war schon klar, dass jetzt nicht nur gegen gewaltbereite Extremisten, sondern gegen rechte Politik und die dahinter vermuteten geistigen Brandstifter überhaupt mobilisiert werden müsse.

Umgekehrt sind die launigen Überlegungen, die auf einer Parteiveranstaltung von Die Linke, die immerhin in einem Bundesland wieder einen Ministerpräsidenten stellt, geäussert wurden – ob man nach der Revolution die Reichen besser erschiessen oder doch lieber arbeiten lassen soll –, für manche Beleg genug, dass endlich Schluss sein müsse mit dem blauäugigen Adorieren egalitärer Ideen.

Marc Gruber / Imago

Und erst das Coronavirus! Wer seit langem vor den Folgen der Globalisierung und einer unbeschränkten Mobilität warnt, wird sich bestätigt fühlen und Grenzschliessungen in jeder Hinsicht begrüssen; die Anhänger des Freihandels wiederum fürchten um eben jenen in Zeiten der Pandemie und sehen im weltweiten Austausch von Waren, Personen und Ideen den besten Schutz gegen Infektionen aller Art.

Wer, wie der amerikanische Aussenminister, aus der Krankheit geopolitisches Kapital schlagen will, wird süffisant vom «Wuhan-Virus» sprechen, wer sein Leben dem Kampf gegen den Rassismus gewidmet hat, wird in jeder Reisewarnung und jeder gruppenbezogenen Kontrolle der Körpertemperatur einen Ausdruck fremdenfeindlichen Ressentiments erblicken. Und wer seit geraumer Zeit die Verharmlosung unerwünschter sexueller Belästigungen beklagt, wird die neuen Abstandsregeln begrüssen und im Virus einen überraschenden Verbündeten für feministische Ansprüche finden.

Wer instrumentalisiert die Wirklichkeit in unzulässiger, wer in zulässiger Weise? Auf Anhieb ist dies nicht zu entscheiden, ist fraglich, ob diese Differenzierung überhaupt sinnvoll ist. Seit Immanuel Kant wissen wir, dass wir prinzipiell nicht in der Lage sind, zu erkennen, wie die Wirklichkeit an sich beschaffen ist. Diese tritt stets nur für uns in Erscheinung. Für uns: Das heisst, dass wir alles unter den Bedingungen unserer Einstellungen, Präferenzen, Anschauungen und Überzeugungen wahrnehmen und beurteilen.

Um Paul Watzlawick abzuwandeln: Es ist nicht möglich, die Wirklichkeit nicht zu instrumentalisieren. Manchmal mag dies tatsächlich so vordergründig und Betroffenen gegenüber so unverhohlen gemein geschehen, dass von einer infamen Instrumentalisierung gesprochen werden kann. Aber es ist auch infam, so zu tun, als stünde man selbst mit seinen Urteilen und Forderungen auf objektivem Boden und nur die anderen, vor allem die politischen Gegner, erfrechten sich wieder einmal, ein Ereignis für ihre sinistren Absichten zu missbrauchen.

Besser wäre es, sich bewusst zu sein, wie gross die Verlockung ist, die Welt im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit für die eigenen Anliegen und Absichten zu betrachten. Um dabei wenigstens etwas vorsichtiger zu verfahren, genügte es, sich vorzustellen, wie die Dinge sich aus der Perspektive von anderen Menschen ausnähmen, deren interessengeleitete Wahrnehmung nicht weniger legitim sein mag als die eigene. Die Wirklichkeit selbst ist vielfältig, offen und sehr tolerant. Sie bietet allen etwas.

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