Kommentar

Die CDU und die Krankheit zum Tode – Merkel sollte endlich den Weg für Neuwahlen frei machen

Eine tiefe Krise hat die CDU erfasst. Ihr Hauptschauplatz liegt in Berlin und nicht in Thüringen. Seit Kanzlerin Merkel ihren Rückzug für 2021 angekündigt hat, befindet sich die deutsche Politik in einem lähmenden Schwebezustand. Merkel sollte dem ein Ende bereiten.

Eric Gujer
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Epidemien breiten sich schleichend aus. In Wuhan behandelte ein Arzt einige Patienten mit einer heftigen Lungenentzündung. Weder die Behörden noch die Öffentlichkeit nahmen gross Notiz davon. Das war Anfang Dezember. Unterdessen ist der chinesische Arzt wie über 1400 weitere Personen dem Coronavirus erlegen. Weltweit sind über 64 000 Krankheitsfälle registriert, und ein Ende der Pandemie ist nicht absehbar.

Auch die CDU hat sich mit einer Krankheit infiziert. Sie nahm ihren Ausgang irgendwann, nachdem Angela Merkel Kanzlerin geworden war. Erst wurden die Reformpläne zur Fortsetzung der Agenda 2010 fallengelassen, dann kamen der Atomausstieg, das Ende der Wehrpflicht, der Mindestlohn, üppige Rentengeschenke und schliesslich die unbegrenzte Aufnahme von Migranten. Stück für Stück gab die CDU ihre Programmatik auf. Die Partei leidet am Virus der Beliebigkeit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die Fortune abhandengekommen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die Fortune abhandengekommen.

Clemens Bilan / EPA

Der unaufhaltsame Niedergang einer Politikerin

Das Ausmass der Seuche offenbarte sich in Thüringen, wo die CDU, eingekeilt zwischen zwei populistischen Parteien, nicht mehr ein und aus wusste. Inzwischen ist es eine politische Pandemie, und sie beschränkt sich längst nicht mehr auf die Christlichdemokraten.

Solange Merkel die Geschicke der Partei bestimmte, wusste sie die Symptome mit eiserner Hand und grosser Umsicht einzudämmen. Seitdem Annegret Kramp-Karrenbauer die CDU präsidiert, stoppt nichts mehr die Ausbreitung. Der Erreger ist unterdessen mutiert. Beliebigkeit in Verbindung mit Unprofessionalität, das ergibt ein Killervirus. Sein prominentestes Opfer ist nun die Parteichefin selbst.

Kramp-Karrenbauer stolperte seit ihrer Wahl von einer Kommunikationspanne zur nächsten, ihr Apparat agierte derart ungeschickt, dass sich die unvermeidlichen Pannen jedes Mal zur Kalamität auswuchsen. Das Debakel in Thüringen war der Kulminationspunkt eines Niedergangs für eine sympathische und kluge Politikerin, der es aber an Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit mangelt. So reiste Kramp-Karrenbauer nach Erfurt, wo sie die Parteifreunde zu Neuwahlen und damit zum politischen Selbstmord überreden wollte. Sie scheiterte erwartungsgemäss und machte sich zur Fussnote der Parteigeschichte.

Die CDU steht für alles und das Gegenteil

Merkel übernahm daraufhin wieder das Krisenmanagement, was das Malaise allerdings nur verschlimmerte. Die Kanzlerin zwang der thüringischen Landespartei ihren Kurs auf und demontierte ihren Ostdeutschland-Beauftragten, weil dieser den Kotau verweigert hatte. In Erfurt fragt man sich seither, was dieses Politikverständnis von der SED unterscheidet, deren Zentralkomitee den Bezirken Anweisungen erteilte.

Immerhin übernahm damit wieder die Frau die Verantwortung, die mit ihrer Politik den Identitätsverlust ausgelöst hatte. Die CDU steht für alles und für das Gegenteil. Das ging lange gut, in Thüringen ist der Bluff endgültig aufgeflogen.

Die Landespartei suchte die Macht, wollte aber weder mit der Linkspartei noch mit der AfD richtig koalieren. Als es schon zu spät war, kritisierte Merkel dieses christlichdemokratische Sowohl-als-auch. Dabei hielten ihr die Thüringer Parteifreunde bloss den Spiegel vor: Solche Vagheiten sind eigentlich ihr Stil, nur dass sie strategischer vorzugehen pflegt als die Amateure in Erfurt und der Berliner CDU-Zentrale.

Merkel hat das Glück verlassen

Doch auch Merkel ist die Fortune abhandengekommen. Sie hatte die unselige Idee, Kramp-Karrenbauer zu inthronisieren – eine Parteichefin also, die sich ihren Platz an der Spitze nicht aus eigenem Recht erkämpfte, sondern ihn der Protektion verdankte. «AKK» blieb eine Alibi-Vorsitzende mit geliehener Macht.

Die innerparteilichen Gegner brauchten nur in der Kulisse zu warten, gelegentlich Giftpfeile auf Kramp-Karrenbauer abzuschiessen und zuzuschauen, bis die Kreatur der Kanzlerin stürzen und damit Merkel selbst Schaden nehmen würde. Nun endlich können drei Männer aus Nordrhein-Westfalen aus der Deckung treten: Ministerpräsident Armin Laschet, Gesundheitsminister Jens Spahn und Friedrich Merz.

Wer jetzt Parteichef wird, sichert sich die Kanzlerkandidatur. Nach diesem dramatischen Jahr, in dem sie viel an Ansehen eingebüsst haben, müssten die Christlichdemokraten verrückt sein, wenn sie dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder die Kandidatur überlassen würden. Das verschöbe die Machtbalance zwischen den Halbschwestern CDU und CSU drastisch.

Alle Parteien der Mitte leiden an derselben Krankheit

Der eigentliche Infektionsherd, das muss man sich immer wieder vor Augen halten, liegt in Berlin und nicht in Erfurt. Alle Parteien der Mitte leiden an Schwindsucht, einer Krankheit zum Tode, der die Sozialdemokraten schon fast erlegen sind. Doch auch die Union, die Liberalen und die grünen Aufsteiger laborieren daran.

Wie weit die inhaltliche Auszehrung inzwischen reicht, demonstriert die neue SPD-Führung. Sie forderte vor ihrer Wahl den Austritt aus der grossen Koalition, um sich angesichts der Vorgänge in Thüringen als Garant der Stabilität ebendieser Koalition anzupreisen. Ist das noch Schamlosigkeit oder schon Dilettantismus?

Die Beliebigkeit wird umso deutlicher, seit die AfD den übrigen Parteien eine Debatte darüber aufzwingt, wie diese es 30 Jahre nach dem Untergang der letzten deutschen Diktatur mit dem Extremismus halten. Die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten löste einen Empörungssturm aus, denn sie geschah mit den Stimmen der AfD unter ihrem Landesvorsitzenden Björn Höcke, dessen «Flügel» vom Verfassungsschutz beobachtet wird. «Faschisten» und «Nazis», ertönte es allenthalben. Die FDP, die unbedacht nach dem Amt des Regierungschefs gegriffen hatte, sah sich in der Rolle des moralischen Parias.

Dabei listet der Verfassungsschutzbericht gleich mehrere extremistische Vereinigungen innerhalb der Linkspartei auf, die alle mit dem Segen der Parteiführung operieren. Deutschland ist eine grundsolide Demokratie und gleitet nicht in Weimarer Verhältnisse ab. Wer aber solche Parallelen zieht, sollte konsequent sein und Bündnisse mit Extremisten jedweder Färbung ablehnen.

Weimar ging nicht nur wegen der Nazis unter, sondern auch wegen der Kommunisten – denen die «Kommunistische Plattform» in der Linkspartei nacheifert. Weder Sozialdemokraten noch Grüne dürften dann mit der Linken koalieren.

Die AfD ist nicht der Mittelpunkt der Politik

Klüger allerdings wäre es, nicht über jedes Stöckchen zu springen, das die Populisten von links und rechts hinhalten. Wer seine Politik nur noch in der Negation, in der Abgrenzung von den radikalen Kräften definieren kann, hat eigentlich seine Existenzberechtigung verloren.

Wofür stehen Union, SPD oder Grüne noch? Erschöpft sich ihre Phantasie wirklich darin, «Nazis raus» zu skandieren? Oder haben sie wenigstens eine Idee, wie Deutschland seine Zukunft gestalten soll abgesehen vom reflexhaften Ausbau des Sozialstaats? Die einen arbeiten freudlos den Koalitionsvertrag ab wie Beamte, die stoisch Seite um Seite mit einem Stempel versehen. Die anderen üben schon einmal die Regierungsfähigkeit. Die Grünen bringen zu diesem Zweck in einem Satz Antiamerikanismus und ein Bekenntnis zur Nato unter.

Seuchen bekämpft man mit drastischen Massnahmen wie Quarantäne. Angela Merkel ist dazu nicht mehr in der Lage. Die Übergangsphase bis zu dem von ihr anvisierten Abgang 2021 erweist sich als lang und lähmend. Sie sollte ihrem Land einen Gefallen tun und im Bundestag die Vertrauensfrage stellen.

Deutschland braucht den Neuanfang

Wenn die Sozialdemokraten Rückgrat haben, statt es nur von anderen zu fordern, verweigern sie der Kanzlerin die Gefolgschaft und machen den Weg für Neuwahlen frei. Stellt die Union danach noch immer die stärkste Fraktion, kann ein neuer Kanzler, der dann auch CDU-Vorsitzender ist, den Neuanfang wagen. Gelingt dieser, werden die Proportionen schnell zurechtgerückt.

Thüringen ist dann nur noch ein Nebenschauplatz, genauso wie nach der Wiedervereinigung Sachsen-Anhalt. Dort regierte damals die SPD mithilfe der Linkspartei, an deren Händen das Blut der Mauer-Toten kaum getrocknet war. Das war unappetitlich, trotzdem veränderte der Tabubruch in der Provinz die deutsche Politik nicht nachhaltig.