Kommentar

Die Regierungen haben zu spät den Notstand ausgerufen, trotzdem kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Nun ist es umso wichtiger, die richtigen Schlüsse zu ziehen

Europa hat bei der Bekämpfung des Coronavirus wertvolle Zeit verstreichen lassen. Doch niemand war auf diese Pandemie vorbereitet.

Eric Gujer
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Der Bundesrat hat auf die Krise reagiert, wenn auch etwas spät. Im Bild Ärzte im Kantonsspital La Carita in Locarno.

Der Bundesrat hat auf die Krise reagiert, wenn auch etwas spät. Im Bild Ärzte im Kantonsspital La Carita in Locarno.

Alessandro Crinari / Keystone

Das Coronavirus löst eine Lungenkrankheit aus. Seine Bekämpfung ist aber nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische Herausforderung. Die europäischen Regierungen haben auf die Wucht der Infektionswelle zu spät und unentschlossen reagiert. Betrachtet man den zeitlichen Verlauf, werden die Versäumnisse offensichtlich. Deutschland und Taiwan registrierten am gleichen Tag den ersten Krankheitsfall. In der Bundesrepublik wie in der Schweiz breitet sich das Virus noch immer rasant aus, Taiwan hingegen verzeichnet relativ wenige Fälle. Was der Inselstaat besser machte, lässt sich klar benennen.

Wenn im Mittelalter eine Seuche die Menschheit heimsuchte, dann wussten alle, woran es lag: Sie war die göttliche Strafe für irdische Sünden. Man tat Busse, was natürlich nicht half. Der moderne Mensch hingegen besitzt das epidemiologische Wissen, um die Ausbreitung von Viren und Bakterien einzudämmen. Doch auch das scheint, siehe die europäische Saumseligkeit, nicht zu helfen.

Drakonische Massnahmen verlangen nach einer Abwägung

Abstraktes Wissen alleine genügt nicht, es braucht konkrete Erfahrung. Der Mensch ist eben nur sehr bedingt ein rationales Wesen, daher müssen Gesellschaften existenzielle Nöte selbst erlebt haben, um angemessen auf sie zu reagieren. Dieses Phänomen erklärt auch den Erfolg Taiwans. Das Land sammelte im Jahr 2003 die notwendigen Erfahrungen, als das Sars-Virus von Festlandchina auf die Insel übersprang.

Die Regierung gründete daraufhin neue Behörden mit weitgehenden Befugnissen. Man begriff, dass eine schnelle und entschiedene Reaktion der Schlüssel zur Seuchenbekämpfung ist. Als China die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 31. Dezember 2019 über den Ausbruch von Corona informierte, aktivierte Taipeh daher sofort einen schrittweisen Notfallplan: Gesundheits-Checks an den Grenzen, Labortests und Isolation. Was in Europa allenfalls zur Terrorabwehr erlaubt ist, kam in Taiwan zur Abwehr des Virus zum Einsatz. Die Mobiltelefone der Personen in Quarantäne werden überwacht, um sie jederzeit lokalisieren zu können.

Die drakonischen Massnahmen verlangen nach einer Güterabwägung, wie wir sie von der Terrorbekämpfung kennen. Wie weit soll die individuelle Freiheit eingeschränkt werden, um die Sicherheit zu gewährleisten? Die Europäer, mit der Dynamik der asiatischen Erreger noch nicht vertraut, hielten in den Winterwochen die Freiheit hoch und griffen nur zögerlich ein. Alles andere hätten die Gesellschaften auch nicht verstanden.

Ein Rest an Misstrauen bleibt

Eine Abschottung schon im Januar nach dem Vorbild Taiwans hätte einen Proteststurm ausgelöst. Auch jetzt glauben rechte wie linke Verschwörungstheoretiker noch, die temporären Einschränkungen dienten der Etablierung dauerhafter Repression. In Demokratien ist der Notstand befristet. Die Exekutive verdient das Vertrauen, dass sie ihre Vollmachten nicht missbraucht. Aber natürlich, ein Rest an Misstrauen bleibt.

Den Regierungen ist daher kein Vorwurf zu machen wegen der im Rückblick unzulänglichen Reaktionen – und wenn, dann trifft der Vorwurf die gesamte Gesellschaft. Uns allen fehlte die konkrete Erfahrung, die es erlaubt hätte, das abstrakte medizinische Wissen sofort praktisch anzuwenden. Selbstverantwortung steht gerade für Liberale an oberster Stelle. Dafür benötigen Individuen allerdings das nötige Vorwissen, um die Tragweite ihrer Taten und Unterlassungen einschätzen zu können. Daran mangelte es.

Umso wichtiger ist es, jetzt die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wenn aufgrund der Globalisierung Epidemien zum Regelfall werden, dann müssen pluralistische Gesellschaften einen Konsens finden, welche Einschränkungen sie akzeptieren. Wann soll man Grenzen schliessen? Wie weit darf die Stilllegung des öffentlichen Lebens gehen? Bedeutet der aseptische Fachbegriff der Triage, dass man bei einer Knappheit von Spitalbetten Patienten ihrem Schicksal überlässt?

Inzwischen sollten alle den Ernst der Situation verstanden haben. Der Schweizer Bundesrat erklärt die «ausserordentliche Notlage» unter Einsatz der Armee zu Recht. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Unbequemlichkeiten im Alltag sind ein kleines Opfer im Vergleich zu der Gefahr, dass Spitäler unter dem Ansturm zusammenbrechen – womit sich die ultimative Frage nach Leben und Tod stellt.

Immer wieder heisst es, autoritäre Regime seien in Notlagen überlegen, weil sie ohne lästige Diskussionen Fakten schaffen könnten. Demokratien brauchen zu Beginn gewiss mehr Zeit, um in einer neuen Situation die nötige Einigkeit zu erreichen. Ist diese aber erst einmal vorhanden, können in der Folge auch pluralistische Gesellschaften schnell und konsequent handeln. Ihre Reaktionen sind zudem breit abgestützt und damit nachhaltiger als reine Zwangsmassnahmen. Zudem musste auch die chinesische Parteidiktatur erst den konsequenten Umgang mit Seuchen lernen.

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Demokratien in der gegenwärtigen Bewährungsprobe nicht die notwendige Geschlossenheit aufbringen. Das ist nach den aufgeregten Debatten um Polarisierung und Populismus, um Faschismus und Fake-News eine tröstliche Erkenntnis – und vielleicht auch ein Gegengift für die Zukunft.

Trump geht den falschen Weg

Lernprozesse sind mühsam und langwierig. Bis wir zur Sicherheit neuer Routinen gefunden haben, neigen wir dazu, uns am Bewährten festzuhalten und in atavistische Muster zu verfallen. Der Mensch ist entwicklungsgeschichtlich ein Rudeltier, und so entschied in der Krise jedes Rudel für sich allein: das italienische, das schweizerische, das deutsche, das österreichische.

Die einen schlossen die Schulen, die anderen zunächst nicht; manche haben das öffentliche Leben schneller heruntergefahren, andere zögerten. Nur die Briten fühlen sich in ihrer «splendid isolation» über alle Ängste erhaben. Dieser Flickenteppich dürfte ein Grund sein, weshalb Europa heute ausserhalb von Asien am stärksten von Corona betroffen ist.

Ein Rückzug aufs Nationale in der Seuchenbekämpfung, wie ihn Präsident Trump propagiert, ist jedoch genau das Falsche. Europa stünde besser da, wenn es koordiniert gehandelt hätte. Das wäre keine Solidarität mit den zuerst betroffenen Italienern gewesen, kein Altruismus, sondern wohlverstandenes Eigeninteresse. Was Italien durchmacht, rollt nun auch auf das Tessin zu, das nun einmal zur Grossregion Mailand gehört. Weil jeder Staat alleine handelte, drohen nun alle dieselbe Überwältigung zu erleben – nur zeitlich versetzt.

Man kann den Regierungen keinen Vorwurf machen, dass sie in dieser Krise zu zögerlich auftraten. Sollten sie daraus nicht die richtigen Lehren ziehen, wären indes alle Vorhaltungen berechtigt. Die Abwehr von Pandemien erfordert nicht weniger Europa, sondern mehr: mehr Abstimmung, vergleichbare Epidemiengesetze und Notfallpläne. Vor allem aber die Einsicht, dass Viren nicht an Schlagbäumen haltmachen. Diejenigen, die noch nicht betroffen sind, müssen prophylaktisch handeln.

Jede Zeit hat ihre Seuchen

Nach Sars, Mers oder Corona ist es angebracht, sich auf ein neues Zeitalter der Seuchen einzustellen. Jede Zeit hat ihre Krankheiten. Das bedeutet keine Panikmache. Wir können darauf vertrauen, auch mit dieser Herausforderung fertigzuwerden, gerade weil wir um die Ambivalenz der Moderne wissen. Der menschliche Geist lässt Grossartiges entstehen, aber damit untrennbar verbunden auch Schreckliches. Die Technisierung unseres Lebens brachte Massenwohlstand, aber zugleich Umweltzerstörung. Die beschleunigte Globalisierung befreite Millionen aus der Armut, sie trägt einen Erreger jedoch auch in Windeseile von einem Markt in Wuhan in die Lombardei.

Jede Lösung schafft neue Probleme. Dieser Dialektik entkommt nichts und niemand, aber sie gilt auch umgekehrt: Die moderne Medizin und die Lernfähigkeit des Homo sapiens werden die Krankheit zwar nicht besiegen, aber so weit eindämmen, dass wieder Gleichstand herrscht zwischen Mensch und Virus – bis zum nächsten Ausbruch.