Interview

Wirtschaftsweiser Wieland: «Wir brauchen eine Ausstiegsstrategie»

Laut einem Sondergutachten der deutschen Wirtschaftsweisen dürfte die Corona-Krise zu einer V-förmigen Rezession führen. Wichtig sei die Planung und Kommunikation einer Ausstiegsstrategie, betont Volker Wieland, einer der Weisen, im Interview.

René Höltschi
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 Laut dem deutschen Wirtschaftsweisen Volker Wieland dürfte die Corona-Krise in Deutschland eine schwere Rezession, aber keine Schuldenkrise auslösen. Aufnahme vom 6. November 2019, Berlin.

Laut dem deutschen Wirtschaftsweisen Volker Wieland dürfte die Corona-Krise in Deutschland eine schwere Rezession, aber keine Schuldenkrise auslösen. Aufnahme vom 6. November 2019, Berlin.

Reiner Zensen / Imago

Herr Wieland, wie schätzt der Sachverständigenrat (SVR) die Auswirkungen der Corona-Krise auf die deutsche Wirtschaft ein?

Wir erwarten eine schwere Rezession. Das erste Quartal 2020 sah bis vor kurzem noch sehr gut aus. Wir hatten eigentlich die Einschätzung, dass wir aus der von der Industrierezession verursachten Delle herauskommen würden. Seit März ist nun damit zu rechnen, dass es nach unten geht. Es gibt aber noch kaum Daten dafür. Wir haben Hochrechnungen gemacht und angesichts der unsicheren Datenlage drei Szenarien entwickelt.

Wie sieht Ihr Basisszenario aus?

Unser Basisszenario basiert auf der Annahme eines Shutdown von fünf Wochen, es folgen drei Wochen Exit und Erholung. Dann ist eine V-förmige Entwicklung mit einem starken Einbruch der Wirtschaftsleistung hauptsächlich im zweiten Quartal zu erwarten, ähnlich wie während der Finanzkrise im ersten Quartal 2009. Im Gegensatz zur Finanzkrise wäre aber danach keine grosse Umstrukturierung nötig, sondern Produktion und Konsum würden rasch wieder aufgenommen. Im ganzen laufenden Jahr käme es zu einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) um 2,8%. Der Jahreswert fiele damit weniger negativ aus als bei der grossen Rezession 2009, weil es damals bereits im vierten Quartal 2008 stark nach unten gegangen war. Das ist das positive Szenario, dem wir auch grössere Wahrscheinlichkeit zumessen.

Die drei Szenarien der Wirtschaftsweisen

Reales Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) in %
2020
2021

Und wenn es schlimmer kommt?

Unser zweites Szenario geht von einem Shutdown von sieben Wochen aus, mit einer anschliessenden Erholungsphase von fünf Wochen. Auch in diesem Fall bleibt es bei einer V-förmigen Entwicklung, aber der Einbruch im zweiten Quartal wäre nicht nur schärfer als im ersten Szenario, sondern auch deutlich schärfer als im ersten Quartal 2009, dem Tiefpunkt der Finanzkrisenrezession. Ausserdem ist die Erholung in diesem Szenario etwas verzögert. Im Ergebnis würde der Einbruch des BIP im Jahresdurchschnitt 2020 mit 5,4% deutlich tiefer als im Basisszenario ausfallen. Der Jahreswert wäre dann ähnlich wie 2009 in der Finanzkrise, als er –5,7% betrug.

Ist auch eine U-förmige Entwicklung denkbar?

Als drittes Szenario haben wir uns überlegt, was passiert, wenn die gesundheitspolitischen Massnahmen über den Sommer hinaus andauern und die Wirtschaft auch danach nicht so einfach wieder auf die Beine kommt. Dann würden die Kapazitäten während mehrerer Quartale nicht ausgelastet bleiben, und Unternehmen würden eingehen. Es wäre ähnlich wie in der Finanzkrise eher eine U-förmige Entwicklung zu erwarten. Das BIP würde 2020 im Jahresdurchschnitt um 4,5% sinken, und 2021 wäre die Erholung mit einem Plus von 1% deutlich schwächer als im Basisszenario mit +3,7% und im mittleren Szenario mit +4,9%. Dieses U-Szenario schätzen wir aber als wenig wahrscheinlich ein.

Wie beurteilt der SVR das deutsche Hilfspaket für die Wirtschaft?

Der Schwerpunkt liegt jetzt auf der Liquidität und der Überbrückung des Shutdown. Als Überbrückungsmassnahme für die V-förmigen Entwicklungen sind die jetzigen Programme, also Kurzarbeit, Bürgschaften, Kreditprogramme, direkte Zahlungen oder auch Steuerstundungen, sinnvoll. Es ist eine ganze Bandbreite von Massnahmen, die alle Sektoren und Unternehmen jeder Grösse erreichen sollen und die temporär sind. Es wäre nicht sinnvoll, jetzt Unternehmen in die Insolvenz zu schicken oder Mitarbeiter zu entlassen, weil man sie vermutlich bald wieder brauchen wird.

Gibt es Lücken in der Hilfe, Dinge, die noch fehlen?

Es gibt sicher noch die eine oder andere Lücke oder Verbesserungsmöglichkeit. Der Staat könnte zum Beispiel auch Steuervorauszahlungen bei der Einkommenssteuer zurückzahlen. Wichtig ist jetzt vor allem auch, dass die Unterstützung rasch erfolgt. Daran wird ja gearbeitet.

Zu den vorgesehenen Instrumenten zählen auch staatliche Beteiligungen an Unternehmen. Ist das aus ökonomischer Sicht sinnvoll?

Das muss man im Einzelfall beurteilen. Man sollte keine Unternehmen retten, die schon vor der Krise keine Zukunft mehr hatten. Deshalb muss man genau hinschauen, und die Unterstützungen müssen temporär sein. Aber in manchen Bereichen kann der entgangene Umsatz nicht nachgeholt werden. Den aufgeschobenen Kauf einer neuen Waschmaschine werde ich nachholen, die unterbliebenen Restaurantbesuche wohl kaum. Deshalb helfen Kredite, die zurückbezahlt werden müssen, nicht jedem Unternehmen. Es braucht auch die vorgesehenen Direktzahlungen bei Kleinstunternehmen, oder es kann von Fall zu Fall bei Grossunternehmen eine staatliche Beteiligung sinnvoll sein, zum Beispiel bei Airlines oder Flughäfen.

In welcher Form könnte sich der Staat beteiligen?

Eine Möglichkeit sind Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, damit der Staat nicht allzu stark in die unternehmerischen Entscheide eingreift, aber an den Gewinnen der Rettung beteiligt bleibt. Eine andere Möglichkeit wären unverzinste Genussscheine. Dann verbliebe ein grösserer Teil der Upside bei den Aktionären. Begründen könnte man dies damit, dass der Rückgang der Wirtschaftstätigkeit mit staatlichen Einschränkungen zu tun hat und nicht von den Unternehmen verschuldet ist. Der Staat würde aber noch etwas dabei verdienen, da er sich zu Negativzinsen verschuldet.

Wie kommen wir aus der jetzigen Lage wieder heraus?

Es ist wichtig, dass man auch eine Ausstiegsstrategie plant, natürlich in Absprache mit Epidemiologen und Virologen. Man kann die Wirtschaft und das Leben der Bürger nicht unbegrenzt auf Stopp setzen. Man muss Wege finden, damit die Menschen wieder zur Arbeit gehen können, wenn auch zunächst noch mit Restriktionen. Das ist vielleicht nicht im Hauruckverfahren möglich, aber man kann beobachten, wie das andere Länder machen und welche Strategien erfolgreich sind. Hat man die Ausstiegsstrategie, muss man sie auch kommunizieren, damit sich die Unternehmen darauf einstellen können. Sonst überlegen sie sich irgendwann, ob sie nicht doch lieber in die Insolvenz gehen sollen, statt immer mehr Kredite aufzunehmen.

Wie lange kann die Volkswirtschaft die jetzigen Einschränkungen durchhalten?

Es gibt jetzt schon massive Verluste, mit jeder Woche. Man sieht das an unseren Szenarien. Das Basisszenario und das mittlere Szenario unterscheiden sich bezüglich der gesundheitspolitischen Restriktionen nur um wenige Wochen, aber der Unterschied im Wachstumsverlust ist erheblich. Insofern denke ich, dass man das nicht sechs Monate lang machen kann. Schon drei Monate wären extrem. Eine Überbrückung durch Bürgschaften, Kredite und Kurzarbeit ist nicht unbegrenzt möglich. Wenn man sich Länder wie Südkorea anschaut, ging das ja recht zügig. Es ist besser, jetzt Geld zur besseren Ausstattung des Gesundheitswesens, zum Beispiel mit Beatmungsgeräten, Schutzausrüstungen und mehr Tests, auszugeben, statt einfach noch ein paar Monate länger zu Hause zu bleiben.

Braucht es nach dem Ende der Restriktionen ein staatliches Konjunkturprogramm, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen?

Das hängt davon ab, wie lange das dauert. Wenn es bei unserem Basisszenario, beim V, bleibt, kann es im Nachgang sehr positive Wachstumsraten geben. Was man bei dauerhaften Konsumgütern nachholen kann, kommt dann doppelt. Dann muss man nicht mit einem Konjunkturprogramm nachhelfen. Hingegen kann ein solches Paket Wirkung entfalten, wenn es zu einer U-förmigen Entwicklung kommt, zu einem längeren Einbruch mit einer Unterauslastung. Im Gutachten haben wir für diese dritte Phase nach Einbruch und Exit nur die möglichen Massnahmen aufgelistet, ohne eine bewertende Reihung vorzunehmen.

Die deutsche Bundesregierung plant wegen der Corona-Krise eine Neuverschuldung von 156 Mrd. € oder etwa 4,5% des BIP. Droht im Nachgang eine Schuldenkrise?

Die Schuldenquote wird natürlich steigen, weil der Staat mehr ausgibt und weniger einnimmt und zugleich das BIP sinkt. Aber wir haben in Deutschland viel Spielraum. Eine Schuldenkrise droht hier nicht, das ist eher ein europäisches Thema. Es ist gut, dass sich Deutschland einen grossen fiskalischen Spielraum erarbeitet hat. Wir haben letztes Jahr über die Schuldenbremse diskutiert, und es wäre schön, wenn sich deren Kritiker nochmals Gedanken machen würden. Zum einen sieht man nun deutlich, dass die Schuldenbremse in der Krise Ausnahmen erlaubt und Hilfsprogramme zulässt. Zum andern ist es sehr sinnvoll, in guten Zeiten zu bremsen. Was wäre, wenn wir diesen Spielraum jetzt nicht hätten?

Und wie steht es mit den Unternehmen, die nun mit Krediten den Shutdown überbrücken müssen?

Auch die Unternehmen sind in Deutschland in der grossen Breite in keiner schlechten Situation. Wir hatten ja viele Jahre positive Entwicklungen, und viele Betriebe haben, auch aufgrund der Erfahrungen aus der Finanzkrise, Puffer auf- und Schulden abgebaut. Auch die Banken haben vorgesorgt, indem sie notleidende Kredite reduziert und Kapitalpuffer geschaffen haben. Aber natürlich ist die Lage nicht überall gleich. Es gibt auch Beispiele wie etwa Busunternehmen, die gerade in neue Fahrzeuge investiert haben und nun von einem Tag auf den andern ohne Existenzgrundlage sind. Da sieht man übrigens auch, was unternehmerisches Risiko bedeutet. Das wird in Deutschland zum Beispiel in der Debatte über eine Vermögenssteuer oft vergessen.

Hat sich der SVR auch mit der europäischen Ebene beschäftigt?

Ja. Dort ist aus unserer Sicht keine Zeit zu verlieren. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist in Vorleistung getreten mit ihrer Ankündigung, in grossem Stil Anleihen auch einzelner Staaten zu kaufen. Jetzt wäre es angebracht, dass ihr die Euro-Staaten Rückendeckung geben. Ich hätte erwartet, dass die Staats- und Regierungschefs am letzten Donnerstag den Auftrag zur Ausarbeitung einer Kreditlinie des Euro-Krisenfonds ESM geben würden. Wir haben uns im SVR darauf verständigt, dass unabhängig von der Frage, wie wir grundsätzlich zu Euro-Bonds oder einem europäischen Stabilisierungsbudget stehen, zum jetzigen Zeitpunkt die Nutzung des ESM sinnvoll wäre. Es muss schnell gehen, und den ESM und seine Instrumente gibt es schon. Zusammen mit den Instrumenten der EZB wäre er mehr als ausreichend, um eine Spekulation gegen einzelne Länder zu verhindern.

Hat der SVR das Sondergutachten einstimmig erstellt?

Ja. Es geht jetzt darum, was man akut machen kann. Und darüber sind wir uns einig.

Der eigentlich fünfköpfige SVR hat derzeit nur drei Mitglieder. Wann werden Sie wieder vollzählig sein?

Es sind zwei bestens ausgewiesene Kolleginnen (Veronika Grimm und Monika Schnitzer, Anm. der Red.) laut Zeitungsberichten bereits ausgewählt. Aber damit der Bundespräsident sie ernennen kann, braucht es einen Entscheid der Bundesregierung, der noch nicht gefallen ist.

Sondergutachten zur Corona-Krise

Ht. · Volker Wieland ist Stiftungsprofessor für monetäre Ökonomie und geschäftsführender Direktor des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) an der Goethe-Universität Frankfurt. Seit März 2013 ist er Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Dieses Gremium, im Volksmund bekannt als Wirtschaftsweise, dient der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung. Neben Wieland gehören ihm derzeit Achim Truger und – als Vorsitzender – Lars Feld an.

Am Montag hat der SVR ein Sondergutachten zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die wirtschaftliche Entwicklung und zu möglichen wirtschaftspolitischen Massnahmen veröffentlicht, das er letzte Woche der deutschen Regierung vorgelegt hat. Mit den drei oben beschriebenen Szenarien bleibt der SVR optimistischer als manche anderen deutschen Ökonomen. So hat das Münchner Ifo-Institut vor einer Woche insgesamt 18 Szenarien vorgerechnet. Im schlimmsten davon würde das diesjährige Wachstum um 20,6 Prozentpunkte zurückgehen. Der Unterschied zu den SVR-Szenarien ist im Wesentlichen auf pessimistischere Annahmen über Dauer und Tiefe der Produktionsunterbrüche zurückzuführen. Feld erklärte bei der Online-Präsentation des Gutachtens, natürlich könne man sich noch weitere, schlimmere Szenarien vorstellen. Aus Sicht des SVR sind diese derzeit aber wenig wahrscheinlich. 

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