Der Weltuntergang von Wuhan – im Epizentrum der Pandemie hat Fang Fang bloggend die traumatische Wahrheit der kleinen Leute festgehalten

Vor Covid-19 war Wuhan kaum jemandem ein Begriff. Nach dem jähen Lockdown spielten sich dramatische Szenen ab, vieles blieb im Dunkeln. Ein Tagebuch berichtet über die gespenstische Zeit und wagt laute, aber diffuse Kritik.

Andreas Breitenstein
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Aufrichtig und mitfühlend: Fang Fangs Wuhaner Notate zeigen das wahrhaft «grosse» China.

Aufrichtig und mitfühlend: Fang Fangs Wuhaner Notate zeigen das wahrhaft «grosse» China.

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Nichts Genaues weiss man, immer noch nicht. Und eben dies scheint der KP Chinas unter Staatspräsident Xi Jinping auch ganz recht zu sein, gilt es nach der Stunde grösstmöglichen Versagens doch mehr denn je, den Mantel des Schweigens über die Dysfunktionalität eines Systems zu halten, das Wohlstand für viele, aber Freiheit für wenige generiert. Freiheit des Gedankens und des Gewissens aber wäre die Bedingung dafür gewesen, das Desaster der Covid-19-Pandemie zu verhindern. Der offene Fluss von Information freilich unterspült die Fundamente der Diktatur und ist daher zu unterbinden. Wie immer im Oktober 2019 das Virus von Wuhan genau entstand und sich ausbreitete, fest steht: Hätte Peking schnell und entschieden reagiert und sich an die eigenen Pläne für den Epidemie-Notfall gehalten, hätte der Corona-Brand, der die ganze Welt erfasst hat, im Keim erstickt werden können.

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Soll sich das Desaster nicht wiederholen, ist es unabdingbar, zu wissen, was genau schieflief. Wer Patient null ist, bleibt Geheimsache, auch ist damit zu rechnen, dass kompromittierende Spuren beseitigt wurden. Wie tapfer sich in Wuhan Spitalärzte gegen Vertuschung und Zensur wehrten, als sie die Anomalie der Erkrankungen erkannten und das Ausmass der Gefahr begriffen, ist dagegen gut dokumentiert. Um die Öffentlichkeit zu warnen, setzten Doktoren wie Ai Fen und Li Wenliang ihre Karriere aufs Spiel – sie wurden unter Drohungen mundtot gemacht. Wie traumatisch für die Bevölkerung der Ausbruch der Epidemie, die Absperrung der 11-Millionen-Metropole (für 76 Tage), das Siechtum und der Tod unzähliger Erkrankter und das quälend lange Ausharren waren, ist bleibend festgehalten in einem Tagebuch, das sich der Geistesgegenwart einer Schriftstellerin verdankt, die begriff, wie wichtig es war, in der Stunde der Not Zeugnis abzulegen.

Klar und aufrichtig

Fang Fang heisst sie, wurde 1955 geboren, wohnt mit ihrem Hund in einer Überbauung in Wuhan (wo auch Familienangehörige leben) und hat fast hundert Romane verfasst, von denen bisher wohl nicht zufällig keiner übersetzt wurde. Die Literarizität des Tagebuchs bleibt überschaubar, und sein lokalpatriotischer Überschuss ist beträchtlich – wobei zu berücksichtigen gilt, dass die Notate zunehmend auch zur Hebung der Moral der Mitbürger verfasst wurden.

Fang Fang besitzt kein Parteibuch. In ihrer Jugend war sie Kanonenfutter der Kulturrevolution, auf die sie heute mit Abscheu zurückblickt. Sie ist weit davon entfernt, eine Dissidentin zu sein. Als Leitfigur nennt sie Deng Xiaoping, dessen diskrete kapitalistische Reformen China vom mörderischen Albtraum des Maoismus befreiten und die Grundlage für das Wirtschaftswunder legten, das die Welt bis heute in Atem hält.

Fang Fangs Tagebuch beginnt nach dem Lockdown vom 23. Januar als sogleich weitum beachtetes Blog auf diversen Social-Media-Plattformen zu erscheinen – und wird von der Internetzensur in der Regel sogleich gelöscht, was jedoch nicht verhindert, dass millionenfach private Kopien zirkulieren. Überzeugend sind die Klarheit der Beobachtung und die Aufrichtigkeit der Haltung. Um die Leere der Zeit zu füllen, beginnt Fang Fang im Hausarrest aufzuschreiben, was sie hört, sieht und erlebt. Erst der Schock über die Ereignisse und das Staunen über die Vorgänge bringen sie auf den Geschmack der Wahrheit jenseits dessen, was Behörden und Medien statuieren.

Bald wachsen Ekel und Wut über den Unwillen und die Unfähigkeit der Regierung, die Dinge klar und offen zu benennen. Entscheidende Wochen gehen verloren. Fang Fangs Kritik erntet massive Zustimmung, aber auch eine (unzensierte) Flut wüster Beschimpfungen. «Linksextremistische» Kreise denunzieren sie als Verräterin und Handlangerin des Auslands. Selbstredend kann ihr 59 Einträge umfassendes Tagebuch heute lediglich im Westen erscheinen – und selbst hier bleibt der Vorwurf nicht aus, sie sei eine Krisengewinnlerin.

Experimentierfeld des Überlebens

Fang Fang erweist sich als eine Frau von wachem Verstand, robustem Gemüt und munterem Humor. Ideologie liegt ihr ebenso fern wie Eitelkeit, Angst und Sorge treiben sie um – über das eigene Schicksal, über eine Ansteckung in der Familie, der Freunde und Nachbarn. Die Stimmung kippt, als mit der totalen Absperrung Wuhans klarwird, dass keineswegs stimmt, was die Behörden wochenlang verkündeten: dass das mörderische Virus «nicht von Mensch zu Mensch übertragbar» sowie «kontrollierbar und eindämmbar» sei.

Es hebt die Jagd auf Schutzmasken und Lebensmittel an, wobei mit der Not auch der Gemeinsinn und die «Selbstorganisation» der Bürger erblühen. Eine nervöse und panische Anspannung liegt über der Stadt. Die Wohnung wird zum Experimentierfeld des Überlebens, in den Strassen herrscht gespenstische Leere, und die winterliche Eiseskälte und Düsternis tun das Ihre, die Stimmung auf den Nullpunkt zu senken. Eine seltsame Melange der Gefühle treibt Fang Fang um: Da ist die überwältigende Zuneigung und Grosszügigkeit der Freunde, und da ein Abgrund von Verzweiflung und Depression.

Das Virus verbreitet sich rasend, Wuhans Gesundheitssystem ist dem Ansturm der Infizierten nicht gewachsen. Auf dem Netz kursieren Videos: «Nun irrten unzählige Erkrankte in eisiger Kälte durch Sturm und Regen in der Stadt herum, auf der vergeblichen Suche nach medizinischer Behandlung.» Vor den Spitälern bilden sich lange Schlangen, das Personal arbeitet mangelhaft geschützt und nahe am Kollaps. Die wahre Zahl der Toten lässt sich nur erahnen. Bald kennt jeder einen, dem jemand an der Seuche gestorben ist. Indes beginnen die drastischen Massnahmen und massiven Hilfen des Staates zu wirken, und irgendwann ist der Peak erreicht. Zur «Selbstdisziplin und Geduld» der Bewohner gesellt sich endlich eine Tatkraft der Behörden, die Fang Fang zu rühmen weiss: Endlich verdiene die Regierung das Vertrauen, das man ihr vorher «allzu sehr» entgegengebracht habe.

Und doch lässt sie die Wut über die Ignoranz und den Zynismus der Mächtigen nicht mehr los – wobei sie die Verantwortung, brav dem von Peking gesteuerten Narrativ gehorchend, bei der Provinzregierung von Hubei festmacht. Was ihren Notaten abgeht, ist die tiefergehende Analyse eines totalitären Systems, das per se auf dem Prinzip Menschenverachtung beruht. «Wir müssen die Verantwortlichen ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen», schreibt sie immer wieder tapfer und verweist ernsthaft darauf, dass China «ein Rechtsstaat» sei. Welch eine Illusion und welch ein Sieg der Indoktrination! Es ist klar, dass alles ein frommer Wunsch bleiben wird.

Ein wahrhaft «grosses» China

Nicht nur, weil mit sprachlich wucherndem Überschwang das Frühlingserwachen von Pflanzen und Menschen in Wuhan beschworen wird, legt man das düstere Diarium mit einer Spur Optimismus beiseite. Die analytische Potenz von Fang Fangs Kritik am System mag bescheiden bleiben, und auch eine gewisse Banalität und Langfädigkeit seien hier nicht unterschlagen. Indes bietet sie als Person ein Anschauungsbeispiel dafür, dass es jenseits der zynischen Strategie der Selbsterhaltung absoluter Parteiherrschaft ein aufrichtiges und mitfühlendes und damit wahrhaft «grosses» China gibt.

Auch die wackeren Wuhaner haben es eigentlich nicht verdient, dass der Name ihrer Stadt fortan als Menetekel einer Menschheitskatastrophe gelten wird: «Wuhan ist in seiner Geschichte immer eine Stadt der Hafen- und Dockanlagen gewesen, Undiszipliniertheit und Aufsässigkeit waren an der Tagesordnung», schreibt Fang Fang. Und ist es nicht so, dass auch Freiheit zum Virus werden kann?

Fang Fang: Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 352 S., Fr. 37.90.