Kommentar

Warum das Ende der Geschichte nun definitiv zu Ende ist

Die westlichen Gesellschaften haben lange in einem dogmatischen Schlummer der Rundumabsicherung gelebt. Die Pandemie trifft sie an ihrem wundesten Punkt und offenbart die Fragilität der Institutionen. Wie kann, wie muss eine resiliente Welt nach Corona aussehen?

René Scheu 41 Kommentare
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Jedes Individuum hat eine Rundumabsicherung verdient: Szene aus der New Yorker U-Bahn (20. April 2020).

Jedes Individuum hat eine Rundumabsicherung verdient: Szene aus der New Yorker U-Bahn (20. April 2020).

Andrew Kelly / Reuters

Um es in Schwarz-Weiss zu sagen: Sars-CoV-2 ist kein schwarzer Schwan, also kein unvorhersehbares extremes Ereignis mit enormen Auswirkungen. Die Pandemie ist auch kein grauer Schwan, sprich: kein folgenschweres und seltenes, aber letztlich vorhersehbares Ereignis. Nein, das Coronavirus ist vielmehr ein gewöhnlicher weisser Schwan – ein Ereignis, das, so hat es der Philosoph und Trader Nassim Taleb beschrieben, mit Gewissheit irgendwann eintrifft.

Alle, die es wissen mussten, haben es gewusst, wissenschaftliche Institute, Epidemiologen, Behörden und natürlich: Regierungen. In der Tat wurden in den letzten Jahren unzählige Studien, Risikoanalysen, Notfallpläne zu möglichen Pandemien erarbeitet, ja es wurden sogar einschlägige Hollywood-Blockbuster-Filme und -Serien sonder Zahl gedreht.

Die Ignoranz der Regierungen

Taleb selbst, der in seinem 2007 erschienenen Bestseller «Der Schwarze Schwan» die kurz darauf folgende Finanzkrise vorwegnahm, vermerkte in seinem Postscriptum aus demselben Jahr: «Ich sehe die Gefahr, dass sich ein bisher völlig unbekanntes Virus auf der ganzen Erde ausbreitet.» Er beschrieb schon damals das Risiko eines systemischen Ruins. Als sich Anfang 2020 aufgrund der Ausbreitung des Virus in China die Gefahr einer Pandemie abzuzeichnen begann, veröffentlichte Taleb am 29. Januar 2020 zusammen mit zwei Kollegen ein Papier, in dem er ganz konkret vor einer «Masseninfektion» durch Sars-CoV-2 warnt.

Die Regierungen in Europa und den USA reagierten im März viel zu spät, dafür mit umso grösserer Heftigkeit. Die liberalen Demokratien kopierten das autoritäre chinesische Modell des Shut- bzw. Lockdowns, indem sie kurzerhand den Ausnahmezustand ausriefen und das Kommando übernahmen. Dieses Krisenmanagement durch die Politik wird in den kommenden Jahren selbst ein politisches Nachspiel haben – unabhängig von der tatsächlichen Gefährlichkeit des Virus, über dessen Entstehung und Wesen sowie dessen Wirkmechanismen man weiterhin sehr wenig weiss.

Aber selbst wenn sich die drastischen Massnahmen rückblickend als gerechtfertigt erweisen sollten, bleibt ein noch grösseres Erstaunen darüber, wie die Reaktion der Bürger auf die Massnahmen der Politik ausfiel. Wochenlang herrschte einvernehmliches Gehorchen, intellektuell wie praktisch – kaum einer wagte es, auch nur die Verhältnismässigkeit der Notmassnahmen infrage zu stellen. Dieselben Regierungen, die auf die Pandemie nicht vorbereitet waren und sie nach Kräften ignorierten, genossen (und geniessen) in der Bevölkerung grosses Vertrauen.

Der Denker der Posthistoire: Alexandre Kojève

Woher kommt dieser Gehorsam, diese Passivität, dieses Akzeptieren der politischen Ausnahmesituation als gleichsam naturgegebenes Schicksal? Wohl aus einer mentalen Prägung, die zu einer Zeit gehört, die gerade zu Ende geht: Wir erleben das Ende vom Ende der Geschichte. Dieses Ende wurde zwar schon einige Male verkündet, aber mit der gegenwärtigen Pandemie findet es nun wirklich statt. Denn anders als 9/11 oder die Krise der EU führt uns der Umgang mit dem Virus vor Augen, wie fragil alle unsere modernen Institutionen tatsächlich sind. Zuvor aber haben wir lange so getan, als seien sie uns wie ein zweiter Naturzustand einfach und dauerhaft gegeben.

Niemand beschrieb diese vergangene Zeit – und diese Prägung – so früh, so treffend und so knapp wie Alexandre Kojève. Der russische Emigrant hielt in den 1930er Jahren Hegel-Vorlesungen an der Ecole pratique des hautes études. Vor einem illustren Publikum – Raymond Aron zählte ebenso dazu wie Hannah Arendt, Maurice Merleau-Ponty und André Breton – verkündete er hier noch etwas vage seine These vom Ende der Geschichte, die er dann erst vor rund fünfzig Jahren mit der in Japan und Amerika gewonnenen Anschauung in einer seitenlangen Fussnote ausformulierte.

Der Grundgedanke ist folgender: Das Ende der Geschichte geht mit einem Ende des geschichtlichen, also des sich wandelnden und entwickelnden Menschen einher. Kojève spricht unter Rückgriff auf Hegel und die nachnapoleonische Welt von einem «universellen und homogenen Staat», zu dem die ganze politische Ordnung der Welt hinstrebe. Darin ist die Herr-Knecht-Dialektik aufgehoben, die Menschen anerkennen sich wechselseitig und leben als gleichberechtigte Citoyens und zufriedene Konsumenten ein anständiges Leben.

Diese neue Ordnung der Zukunft sieht Kojève im Westen der Nachkriegszeit bereits teilweise verwirklicht. Er spricht von den Menschen als den «posthistorischen Tieren der Spezies Homo sapiens», «die im Überfluss und in voller Sicherheit leben werden», und zwar in einer «ewigen Gegenwart». Die Vergangenheit kommt nur noch als eine Art Requisitensammlung für eigene Lebensentwürfe in den Blick, während die Zukunft sich als eine noch bessere Fortschreibung der Gegenwart darstellt. Das frühere Andere und das künftige Neue sind undenkbar geworden.

Dabei beschreibt Kojève zwei Modelle der posthistorischen Existenz, die in einem Konkurrenzverhältnis stehen: das formvollendete japanische Modell, das auf eine Ästhetisierung der eigenen Existenz setzt, und den American Way of Life, der eher zu einer konsumgetriebenen Animalisierung des gesellschaftlichen Lebens tendiert. Beiden gemeinsam ist die Gewissheit, dass die bestehende, sozial abgesicherte, rational organisierte und bürokratische Gesellschaft sich verstetigt.

Verpeilter Fokus: Pseudodebatten

Wer das Gefühl der «ewigen Gegenwart» verinnerlicht hat, lebt im Schlummer der Geschichtslosigkeit und entwickelt eigene mentale Charakteristiken. Ich möchte hier einige aufzählen, ohne dabei Vollständigkeit zu beanspruchen – sie werfen ein Schlaglicht auf die vergangenen Jahrzehnte und erlauben zugleich, die kommende Zeit in Konturen fassbar zu machen.

Das «posthistorische Tier» hält sich an ein Axiom, das sich auf alle Lebensbereiche erstreckt: Was man hat, das hat man auf sicher. Es denkt in Kategorien von Recht und Anspruch und fürchtet Risiken aller Art, die es im Übrigen durch Versicherungen aus der Welt schaffen zu können glaubt. Den komfortablen, abgesicherten Status quo misst das «posthistorische Tier» stets an einem vorgestellten Idealzustand – was gesellschaftlich zu jenen Paradoxen führt, die uns allen bis zum Überdruss bekannt sind: je egalitärer die Gesellschaft, desto grösser ist die Ungleichheitsobsession; je grösser der objektive Wohlstand, desto geringer das subjektive Wohlbefinden. Zahlreiche gesellschaftliche Pseudodebatten fanden vor diesem Hintergrund statt.

1. In der Wirtschaft hat der Glaube an eine «ewige Gegenwart» Optimierungs- und Effizienzdelirien begünstigt. Wertschöpfungsketten wurden immer länger, Subunternehmer wurden involviert, Lagerbestände und Rücklagen abgebaut. Dadurch sanken die Herstellungskosten, doch wurden Unternehmen – und ganze Branchen – zugleich immer fragiler. Denn eine kleine Verzögerung in der Produktion einer Komponente kann den ganzen Prozess zum Erliegen bringen.

2. In der Ordnung des Politischen hat die posthistorische Welt einen Staat entstehen lassen, der sich als Moral- und Gerechtigkeitsinstanz gebärdet. Er hat sich immer stärker in das Wirtschaftsgeschehen der Unternehmen und das Privatleben seiner Bürger eingemischt, während er sich um seine Kernaufgabe – Schutz von Freiheit, Leben und Eigentum – zunehmend foutierte. Als höhere moralische Instanz hat sich der Staat stark in Szene gesetzt, als Beschützer der Infrastruktur ist er trotz historisch beispielloser Finanzierung nachhaltig geschwächt.

3. Auf intellektuellem Gebiet hat sich eine Kultur des Verbalradikalismus und der Hyperkritik entwickelt, frei nach dem Motto: Wer in der Komfortzone sitzt, ergötzt sich besonders daran, ausgeklügelte Todes- und Untergangsphantasien zu pflegen. Geradezu inflationär hat man das Ende des Kapitalismus, das Ende der Demokratie, den Untergang des Westens beschworen. Diese fröhlichen Endzeitphantasmen rechnen mit allem, nur mit einem nicht: dass das Ende der Geschichte vertagt wurde. Die Welt ist noch nicht an ihrem Ende angekommen, sondern dreht sich munter weiter – und wir uns mit ihr.

Mehr Robustheit, weniger Zentralismus

Doch wie könnte eine mentale Disposition aussehen, die wieder mit der Geschichte rechnet? Vielleicht so: Nicht alle Risiken lassen sich versichern – darum sorgt der Kluge immer auch selber vor, bildet Rückstellungen und diversifiziert. Wir sollten schätzen, was wir haben, denn wir können es jederzeit verlieren. Und wir sollten uns darüber freuen, dass die menschliche Moral in Krisenzeiten funktioniert, ohne dass sie jemals kodifiziert wurde – Gesetze ändern sich laufend, die Moral aber bleibt.

Für den Staat seinerseits ist es höchste Zeit, seine offenkundige Dysfunktionalität zu überwinden, indem er sich auf seine Kernaufgaben besinnt. Redundanz ist keine Idee von Hinterwäldlern, sondern ein bewährtes Prinzip der Natur, das Lebewesen robuster macht: Der Mensch hat zwei Lungen und zwei Nieren, nicht eine. Es ist nicht rational, nur das vernünftig zu finden, was der Mensch begreift – wir brauchen einen erweiterten Rationalitätsbegriff, in Talebs Worten: «Rational ist, was Überleben ermöglicht», auf individueller und kollektiver Ebene.

Im besten Fall wären wir so nicht nur auf den nächsten weissen Schwan vorbereitet, sondern auch auf den nächsten schwarzen Schwan. Denn der wird uns zweifellos härter treffen, ohne dass wir dann wissen können, woher er kommt.

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Josef Heide

Der Fisch stinkt vom Kopfe Indem der Staat den Bürgern immer mehr Risiken abnimmt und sozialisiert, nimmt er ihnen gleichzeitig auch die Mittel, selbst vorzusorgen. Denn das was dazu nötig ist, wird in Form von Steuern und anderen Abgaben eingezogen. Die Menschen sind teilweise zu arm, um selbst vorsorgen zu können.  Eine eigene Wohnung können  sich viele nicht mehr leisten. Der Staat versucht das dann auf seine Art mit Zwang (z.B. Mietpreisbremse) auf Kosten anderer zu entschärfen, kuriert aber nur an Symphomen.

Joachim Nettelbeck

Corona ist auch kein weißer Schwan. Es ist überhaupt kein Schwan, sondern allenfalls ein hässliches Entlein, das durch unsere Maßnahmen zu einer medizinischen und wirtschaftlichen Katastrophe aufgeblasen wird. Die Krankheit heißt nicht Corona, sondern Hysterie.  Mit dem Gehorsam ist es auch nicht so. Viele hocken in der Tat zitternd in einer Ecke - zumindest lässt sich das aus den Umfragen zum Wahlverhalten schließen. Aber inzwischen ist der Widerstand erwacht, wie man an den von Woche zu Woche exponentiell wachsenden (pun intended) Teilnehmerzahlen erkennen kann. In München ist eine Großdemo auf der Theresienwiese angekündigt, ähnlich der Demo auf dem Cannstatter Wasen (Stuttgart) letzte Woche. Und wenn man heute die regionalen Zeitungen liest, gewinnt man fast den Eindruck, als wolle die Polizei ein Exempel statuieren. Der Sinn dessen wäre mir zwar unverständlich, aber jedenfalls spricht das doch sehr dafür, dass die Nerven auf Regierungsseite blank liegen. Ein anderes Beispiel: Ich bin dieser Tage aus der CSU ausgetreten, weil ich nicht länger Mitglied einer Partei sein will, die das Land ruiniert. Die Routine-Bestätigung habe ich bereits erhalten. Heute nun trudelte ein Brief des Generalsekretärs ein, in dem er mitteilte, er wolle mein Austrittsschreiben auf die Seite legen, und ich möge doch noch mal drüber nachdenken, weil die bayerische Regierung doch so toll agiere. Würde er wohl für ein einzelnes abtrünniges Schäflein auch nicht tun. Also: Es gärt und brodelt!

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