«Alles ist relativ» – im Jahr 1920 wurde Albert Einstein zur prägenden Figur

Nach dem Ersten Weltkrieg haderten viele Zeitgenossen mit der neuen Unordnung, alles schien aus den Fugen und jede Gewissheit verloren zu sein. Wie reagierten Künstler und Denker auf diesen Zustand?

Florian Keisinger
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Zu Albert Einsteins Vorträgen strömte die Bevölkerung Anfang der 1920er Jahre in Massen – seine wissenschaftlichen Referate waren fast so beliebt wie Boxkämpfe.

Zu Albert Einsteins Vorträgen strömte die Bevölkerung Anfang der 1920er Jahre in Massen – seine wissenschaftlichen Referate waren fast so beliebt wie Boxkämpfe.

Ap, AP

«Erkennen wir etwas von der Zeit, wenn wir uns in ihrer Gegenwart befinden?» Mit dieser Frage beschäftigte sich Kurt Tucholsky in seinem Essay «Dämmerung», erschienen im März 1920 in der Wochenzeitschrift «Die Weltbühne». Seine Antwort fiel skeptisch aus. Für ihn war der «Sehepunkt» des Zeitgenossen vergleichbar mit dem Blickwinkel des Wanderers vor einer roten Felswand – «viel zu nah, um ihre Struktur, geschweige denn ihre Schönheit zu sehen!».

Da hat es der Literaturwissenschafter Wolfgang Martynkewicz leichter. Er blickt zurück auf die Welt von vor 100 Jahren. Wobei die titelgebende Jahreszahl 1920 eher als Referenzpunkt denn als fixer Rahmen zu verstehen ist. Martynkewicz nimmt Ereignisse und intellektuelle Strömungen, die sich 1920 zutrugen und Aufmerksamkeit erregten, zum Anlass für seine Ausführungen. Doch reicht sein Horizont – glücklicherweise – deutlich über 1920 hinaus, sowohl mit Blick auf den weiteren Verlauf der Roaring Twenties als auch zurück in die Zeit, die mit Recht als eine zentrale Bruchlinie des 20. Jahrhunderts gesehen werden kann, die Jahre des Ersten Weltkrieges.

Ein Kennzeichen der damaligen Zeit war für Martynkewicz die Unverständlichkeit der neuen Ordnung oder, in den Augen vieler Zeitgenossen treffender: Unordnung! Die populäre Metapher dafür lieferte Albert Einstein, dessen allgemeine Relativitätstheorie bereits 1916 erschienen war, in den frühen 1920ern enorme Verbreitung erfuhr und Einstein – durchaus von ihm selbst forciert – zu einer omnipräsenten Figur nicht nur des wissenschaftlichen, sondern auch des gesellschaftlichen Diskurses machte.

Zu seinen Vorträgen strömten die Massen wie sonst nur zu den seit dem Krieg beliebten Boxkämpfen, denen Martynkewicz ebenfalls ein Kapitel widmet. «Alles ist relativ» wurde zu einer geflügelten Wendung – und zu einem Kampfbegriff all jener, die in den Entwicklungen seit Kriegsende Anzeichen eines tiefgreifenden politischen und kulturellen Verfalls erblickten.

Eine Phase des Übergangs

Einer der exponiertesten Kritiker Einsteins war der Schriftsteller Alfred Döblin. In Zeitungsartikeln warnte er vor der «abscheulichen Relativitätstheorie», der er das Potenzial zusprach, das Denken der Menschen sowie das dünne Fundament der Nachkriegsgesellschaft zu zersetzen. Döblin und andere rückten Einstein in die Nähe von Verschwörern und geheimbündlerischen Umtrieben. Sie trugen damit, gewollt oder ungewollt, zu jener Atmosphäre aus Irrationalität und Untergangsfurcht bei, die eine der ersten Grundsatzreden Adolf Hitlers beflügelte: Am 20. August 1920 liessen sich 2000 Zuhörer im Münchner Hofbräuhaus zu Begeisterungsstürmen hinreissen, als Hitler zu der Frage referierte: «Warum sind wir Antisemiten?»

Doch nicht nur Döblin haderte mit den Umständen des Jahres 1920, die Martynkewicz als eine Art Mini-Sattelzeit beschreibt, eine Phase des Übergangs vom Krieg zum Frieden, von der monarchischen Stände- zur demokratischen Massengesellschaft.

Auch Ernst Jünger und Walter Serner suchten 1920 nach Grundierung; und einem Ausweg aus der von dem Philosophen George Lukács diagnostizierten «transzendentalen Obdachlosigkeit» des intellektuellen Lebens. Während jedoch Jünger dem Krieg nachträglich einen Sinn verleihen wollte und von einer «Ethik des Frontsoldatentums» als Fundament der neuen Zeit träumte, hatte der Schriftsteller und Dadaist Serner jeglichen Glauben an Fortschritt und menschliche Vernunft aufgegeben. Er sah sich am «Nullpunkt des Sinns» angekommen. Die Welt sei zu einem Spiel verkommen, alles Handeln sei Täuschung und Verstellung; entsprechend lautete sein Ratschlag: komplette Sinnverweigerung!

Auch Freud reagiert auf die Zeit

Von Sinnverweigerung als Programm konnte bei Sigmund Freud keine Rede sein. Doch kämpfte auch er, mittlerweile 63-jährig, mit der Zäsur des Ersten Weltkrieges, der «Weltkatastrophe», die zu einer «Entwertung [. . .] alles Bestehenden» geführt habe – das eigene Werk eingeschlossen. Seine Reaktion formulierte er 1920 in «Jenseits des Lustprinzips», wo er den Hang zu Aggression und (Selbst-)Zerstörung dem Prinzip narzisstischer Lusterfüllung als Triebkraft menschlichen Handelns gleichwertig zur Seite stellte.

Die Beispiele, die Martynkewicz anführt, sind zahlreich. Was die Protagonisten seines Buches verband, war die Überzeugung, am Beginn von etwas gänzlich Neuem zu stehen. Der Krieg hatte nicht nur die bisherige Ordnung beseitigt, sondern auch das eigene Denken massiv infrage gestellt. Auch in dieser Hinsicht war 1920, wie Martynkewicz schreibt, «ein Jahr zwischen den Zeiten» – und mit offenem Ausgang. Die Richtungen, in die gedacht wurde, waren vielfältig.

Martynkewicz begeht nicht den Fehler, den Blickwinkel des in der Rückschau Allwissenden einzunehmen und den heute bekannten Verlauf der Geschichte zu antizipieren. Wer von seinem Buch eine Geschichte des Jahres 1920 erwartet, dürfte enttäuscht werden – was man bekommt, ist eine intellektuelle Fundgrube, ein gut geschriebenes literatur- und kulturgeschichtliches Panoptikum der frühen 1920er Jahre.

Wolfgang Martynkewicz: 1920. Am Nullpunkt des Sinns. Aufbau-Verlag, Berlin 2019. 383 S., Fr. 37.90.