Huawei baut rund um den Globus die Mobilfunknetze der Zukunft. Der Aufstieg des Technologiekonzerns treibt die Welt um. Doch wer ist Huawei?

Huawei baut rund um den Globus die Mobilfunknetze der Zukunft. Der Aufstieg des Technologiekonzerns treibt die Welt um. Doch wer ist Huawei?

Ein Besuch am Hauptsitz in China.

Stefan Häberli
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Die Flugbegleiterin verweigert dem jungen Mann den Zutritt zur Boeing 737. Doch Xia Zun lässt nicht locker. Mehrmals muss der Huawei-Manager ihr versichern, dass er weiss, was er tut. Schliesslich treten nur er und zwei weitere Passagiere den KLM-Flug von Amsterdam nach Tripolis an. Es ist Sonntag, der 20. Februar 2011. Drei Tage zuvor haben in Libyen Rebellen zum «Tag des Zorns» aufgerufen. Es ist der Anfang eines Blutvergiessens, das mit dem Tod des Diktators Muammar al-Ghadhafi nicht enden wird.

In der Huawei-Zentrale im chinesischen Shenzhen ahnt man bereits, dass die Situation in Libyen explosiv ist. Wenige Tage vorher sind in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten die Langzeitherrscher aus ihren Palästen verjagt worden. Und so hat Xia, der wegen einer Messe in Europa weilte, denn auch den Auftrag erhalten, zurück nach Tripolis zu fliegen. Der Libyen-Länderchef soll unverzüglich sein Team in Sicherheit bringen.

Kaum setzt die Boeing auf der staubigen Landebahn in Tripolis auf, beruft er eine Krisensitzung ein. Die lokale Geschäftsleitung, inklusive Xia fünf Manager, leitet sogleich die Evakuierung in die Wege. Huawei ist jedoch nicht allein mit dieser Idee; die meisten Expats versuchen das Land fluchtartig zu verlassen. Auf dem Flughafen rund 30 Kilometer südlich der Hauptstadt herrscht Chaos. Zehntausende campieren am Terminal, um einen Sitz in einem Flugzeug zu ergattern.

Getroffen, aber nicht abgeschossen

Gleichwohl gelingt es Huawei mit Charterflügen und Ausgaben in Millionenhöhe, den Grossteil des Personals zu evakuieren. Doch während bereits Regierungsgebäude in Flammen stehen und sich Ghadhafi-treue Truppen mit Aufständischen Feuergefechte liefern, stecken noch Mitarbeiter in Tripolis fest. Weil ein längeres Zuwarten zu riskant erscheint, verlassen diese das Land wie Migranten über die Mittelmeerroute: Sie setzen per Boot nach Malta über. An Bord befinden sich auch Xia und die vier Kollegen aus der Geschäftsleitung.

Das neue Ressort Technologie nimmt seine Arbeit auf

C. H. – Mit diesem Beitrag geht das neu geschaffene Ressort Technologie an den Start. Ein Team von vier Redaktoren und Redaktorinnen wird technologische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft beleuchten. Zusammen mit den anderen Ressorts wird das Team Fragen rund um die Digitalisierung – etwa im Bereich Ethik, Arbeitsmarkt oder Cybersicherheit – nachgehen. In den kommenden Monaten wird das Ressort um zwei Korrespondenten in den Technologiezentren Silicon Valley und dem südchinesischen Shenzhen ergänzt. In der Zeitung werden die Beiträge in den herkömmlichen Ressorts der NZZ abgedruckt werden. Der Schwerpunkt liegt aber auf digitalem Journalismus auf NZZ.CH oder im Politik-Podcast, den die NZZ im Frühjahr lancieren wird.

Spätestens nach der erfolgreichen Evakuierung wäre für Manager westlicher Konzerne das Kapitel Libyen abgeschlossen gewesen. Nicht so für Xia. Rund drei Wochen später wird er zurück ins Kriegsgebiet beordert. Er soll dafür sorgen, dass die Huawei-Flagge in Tripolis hochgehalten wird. Die lokalen Mitarbeiter und vor allem die Kunden der von Huawei betreuten Kommunikationsnetze sollen nicht im Stich gelassen werden.

Frisch eingestellte Studienabgänger posieren vor dem Nachbau des Heidelberger Schlosses in Dongguan für ein Selfie.

Frisch eingestellte Studienabgänger posieren vor dem Nachbau des Heidelberger Schlosses in Dongguan für ein Selfie.

Jason Lee / Reuters
Mitarbeiter des Technologiekonzerns vertreiben sich die Zeit mit ihren Smartphones, während sie in Shenzhen auf einen Shuttlebus warten.

Mitarbeiter des Technologiekonzerns vertreiben sich die Zeit mit ihren Smartphones, während sie in Shenzhen auf einen Shuttlebus warten.

Qilai Shen / Bloomberg

Die Libyen-Episode, die vom Wirtschaftsprofessor Tian Tao in einem Buch über den Aufstieg erzählt wird, zeigt, was Huawei ausmacht. Anders als Google und andere Tech-Firmen aus dem Silicon Valley behauptet das Unternehmen nicht, von einer Mission beseelt zu sein. Das oberste Ziel ist nicht die «Rettung der Menschheit», sondern das Überleben auf dem Markt. Der Firmengründer und CEO Ren Zhengfei hat eine klare Vorstellung davon, was es dazu braucht: «Der einzige Grund, warum Huawei existiert, sind die Kunden.» Und dafür führen Huawei und seine Mitarbeiter eine Art Krieg – Tag für Tag, unermüdlich.

Dieses Selbstbild vermittelt der Technologiekonzern auch Besuchern in seinem Hauptsitz. Während es im Campus angenehm kühl ist, brennt draussen die Sonne auch im Spätherbst unerbittlich – Shenzhen liegt etwa gleich nahe am Äquator wie Kuba. Neben Büchern mit gesammelten Weisheiten von Ren Zhengfei liegen im Eingangsbereich Kartonkarten auf. Deren Aufschrift: «Heroes are forged, not born.» («Helden werden geschmiedet, nicht geboren.») Darüber ist ein mit Einschusslöchern durchsiebtes Propellerflugzeug zu sehen, eine legendäre «Sturmowik» der sowjetischen Luftwaffe. Wegen ihrer Robustheit wurde sie von deutschen Kampfpiloten im Zweiten Weltkrieg auch «Betonflugzeug» genannt. Die Botschaft ist klar: Wir sind nicht einfach zu knacken. Die Sanktionen der Regierung Trump haben uns zwar empfindlich getroffen, aber wir fliegen noch.

Das sowjetische «Betonflugzeug» als Symbol.

Das sowjetische «Betonflugzeug» als Symbol.

Huawei

Huawei als Rorschachtest

Wenn Huawei in westlichen Medien für Schlagzeilen sorgt, dann meist in der Rolle des Bösewichts oder des Opfers. Es gibt zwei Lager: Das eine wirft dem Konzern allerhand dunkle Machenschaften vor, die von Spionage im Dienste der kommunistischen Regierung über den Bruch der Sanktionen gegen Iran bis zum Diebstahl von geistigem Eigentum reichen. Angeführt wird dieses Lager von der amerikanischen Regierung, die ihre Alliierten davor warnt, beim Aufbau ihrer 5G-Infrastruktur auch auf die Chinesen zu setzen. In ihrem Schlepptau befinden sich vor allem «China-Falken» jeglicher politischer Couleur, die vor dem zunehmenden Einfluss Pekings warnen.

Eine «smoking gun» ist diese Seite bisher schuldig geblieben. Zwar wurde die Finanzchefin Huaweis und Tochter des Firmengründers auf Ersuchen der Amerikaner in Vancouver festgenommen; sie soll dabei geholfen haben, illegale Geschäfte des Konzerns in Iran zu verschleiern. Die kanadische Justiz hat allerdings noch nicht einmal entschieden, ob sie überhaupt an die USA ausgeliefert wird. Ähnlich dünn ist die Faktenlage beim Vorwurf der Spionage. Obwohl Huawei seit Jahren unter schärfster Beobachtung steht, ist kein Fall bekannt, in dem das Unternehmen Kunden ausgespäht hat. Trotzdem geben die Chinesen dem britischen Geheimdienst sowie deutschen Behörden Einblick in den Quellcode ihrer Software.

Das andere Lager sieht in Huawei vor allem ein Opfer amerikanischer Machtpolitik. Die Vorwürfe der Regierung Trump hält es für vorgeschoben; Washington sei die geopolitische Renaissance Chinas ein Dorn im Auge. Und weil Huawei bei der neuen Mobilfunktechnologie 5G technologisch führend sei, versuchten die USA das Unternehmen mit schwarzen Listen und anderen Instrumenten zu drangsalieren.

Es gibt keine zwingende Antwort auf die Frage, welches Lager richtig liegt. Deshalb funktioniert Huawei wie ein Rorschachtest. Was im Unternehmen gesehen wird, sagt oft mehr über den Betrachter aus als über das Objekt; es wird ein intellektueller Stellvertreterkrieg ausgefochten. Dessen eigentliche Gretchenfrage lautet, wie liberale Demokratien mit dem Wiederaufstieg Chinas umgehen sollen. Doch so bedeutsam diese Frage auch ist: Die Diskussion, ob Huawei über den Weg getraut werden kann, ist keine Fussnote davon. Sauber trennen lassen sich die Fragen zwar nicht. Selbst wenn Huawei auf die Gunst der allmächtigen Partei angewiesen ist, heisst dies aber nicht, dass das Privatunternehmen deren Wurmfortsatz ist. Die Frage muss separat beantwortet werden: Wofür steht Huawei?

Meng Wanzhou muss eine elektronische Fussfessel tragen. Ein Gericht in Vancouver befasst sich derzeit mit der Frage, ob die Finanzchefin und Tochter des Firmengründers an die USA ausgeliefert werden soll.

Meng Wanzhou muss eine elektronische Fussfessel tragen. Ein Gericht in Vancouver befasst sich derzeit mit der Frage, ob die Finanzchefin und Tochter des Firmengründers an die USA ausgeliefert werden soll.

Jennifer Gauthier / Reuters
Im angeblichen Reich des Bösen, dem Hauptsitz von Huawei in Shenzhen, sieht es wie bei anderen globalen Konzernen aus.

Im angeblichen Reich des Bösen, dem Hauptsitz von Huawei in Shenzhen, sieht es wie bei anderen globalen Konzernen aus.

PD

K¨ünstliche Intelligenz im Spital

Abgesehen von der «Sturmowik» macht der Hauptsitz einen fast schon biederen Eindruck. Es ist ein repräsentatives Gebäude, typisch für globale Konzerne: viel Glas, Sonnenlicht und moderne Architektur, die mit regionalen Materialien spielt – alles etwas unterkühlt. Auch die Mitarbeiter könnten genauso gut bei ABB oder Novartis arbeiten. Auffallend ist einzig, dass es sich bei den meisten von ihnen um junge Männer handelt. Da das Durchschnittsalter in Shenzhen bei rund dreissig Jahren liegt, verwundert auch dies nicht.

In Showrooms präsentieren Guides den Besuchern die technischen Errungenschaften des Konzerns. Darunter befinden sich zwei Angebote für das Gesundheitswesen, die beide auf Kameraüberwachung und künstlicher Intelligenz basieren. Das erste soll die Arbeit in der Notaufnahme erleichtern. Noch bevor Menschen ein Spital betreten, werden ihr Gang, ihr Verhalten und ihre Körperhaltung auf den Videobildern analysiert. Die Algorithmen geben anschliessend eine Ersteinschätzung zum Gesundheitszustand der Patienten ab. Damit greifen sie dem Spitalpersonal bei der Triage von Bagatell- und echten Notfällen unter die Arme.

Ähnlich funktioniert die zweite Anwendung, die für den Einsatz in psychiatrischen Kliniken vorgesehen ist. Eine Software versucht, wiederum mittels Kamerabildern, den Gemütszustand der Therapierten zu erkennen. Darauf basierend wird aus Erfahrungswerten die Wahrscheinlichkeit errechnet, dass ein Patient einen Suizidversuch unternehmen könnte. Überschreitet der Wert eine bestimmte Schwelle, wird das medizinische Personal alarmiert.

Zwar wird aus der Demonstration nicht ganz klar, wie weit entfernt von der Marktreife die Lösungen sind. Doch beeindruckend sind bereits die Ansätze. Dass Huawei jährlich 10 bis 15 Prozent des Umsatzes in die Forschung und Entwicklung investiert, trägt Früchte. Die Zeiten, in denen das Reich der Mitte als Werkbank der Welt mindere Qualität zu Tiefstpreisen herstellte, sind passé. Huawei ist wohl das Unternehmen, das diesen Wandel am besten illustriert.

In Schanghai betreibt der umstrittene Technologiekonzern ein Forschungszentrum.

In Schanghai betreibt der umstrittene Technologiekonzern ein Forschungszentrum.

PD
Mittagspause im Park auf dem neuen Campus in Dongguan – umgeben von Nashornskulpturen.

Mittagspause im Park auf dem neuen Campus in Dongguan – umgeben von Nashornskulpturen.

Jason Lee / Reuters

Kulturelle Gräben

Verblüffend ist die Nonchalance, mit der dies alles den Gästen präsentiert wird. Den chinesischen Huawei-Mitarbeitern, die durch die Showrooms führen, scheint nicht bewusst zu sein, auf welch heiklem Terrain sie sich aus europäischer Optik bewegen. Sie lächeln stolz, während ein Kameramann alles filmt, was mit Gesichtserkennung und Videoüberwachung zu tun hat.

Auf die bei westlichen Tech-Firmen gängigen Floskeln, dass die Technologie nicht zweckentfremdet und die Privatsphäre selbstverständlich respektiert werde, wartet man vergebens. Huawei sieht vor allem die Segnungen sowie das Ertragspotenzial neuer Technologien. In Europa dominiert hingegen die Angst vor dem Missbrauch und unvorhergesehenen Folgen. Irritationen sind da programmiert.

Das Unternehmen ist aber durchaus auf sein Image im Westen bedacht; politisch heikle Fragen beantwortet ein Australier, der eigens für die Betreuung der Journalisten aus dem benachbarten Hongkong angereist ist. Auch den Einblick in die Unternehmensgeschichte gibt kein Chinese, sondern ein Amerikaner. Offenbar sollen kulturelle Missverständnisse umschifft werden.

Wissen der Australier und der Amerikaner überhaupt, wie ihr Arbeitgeber tickt? Oder sagen sie einfach, was bei Europäern mutmasslich gut ankommt? Letzteres, meint ein ehemaliger Mitarbeiter von Huawei Schweiz. Er schildert, dass innerhalb des Unternehmens eine Arbeitsteilung herrsche. Nichtchinesische Kadermitarbeiter in europäischen Niederlassungen seien vor allem für repräsentative Aufgaben zuständig.

Domestiziertes Wolfsrudel

Das Sagen hätten fast ausnahmslos Chinesen. Die Arbeitssprache ist offiziell zwar Englisch, aber in der Praxis erfolge ein Grossteil der Kommunikation mit der Zentrale auf Chinesisch. Wichtige Entscheide würden bestenfalls auf Englisch übersetzt, aber auch das sei nicht immer der Fall. So bleibe das Unternehmen auch für langjährige Mitarbeiter eine Blackbox.

Dabei hat Huawei viel unternommen, um «globaler» – sprich: westlicher – zu werden. Jahrelang schwirrten auf dem Campus in Shenzhen Dutzende IBM-Berater umher, die bis zu 600 US-Dollar pro Stunde kosteten – für chinesische Verhältnisse ein exorbitanter Stundensatz. Angeheuert wurden sie, um ein modernes Managementsystem einzuführen. Wie in China üblich, hatten auch bei Huawei Regeln lange eher empfehlenden Charakter. Es dominierten Pragmatismus, persönliche Seilschaften und der Stallgeruch. «Helden» aus der Gründungszeit standen unter Denkmalschutz.

Das Herz von Huawei schlägt in Shenzhen

Mit der Hilfe von IBM versuchte Ren, «die Abhängigkeit von einzelnen Helden innerhalb des Unternehmens abzuschütteln». Damit wurde ein Unternehmen, das einst wie ein hungriges Wolfsrudel funktioniert hatte, durch Organigramme, Prozesse und quantitative Ziele domestiziert. In einem Unternehmen mit fast 200 000 Mitarbeitern in 170 Ländern war eine solche Reform wohl unvermeidlich. Der Preis dafür ist eine wuchernde Bürokratie, deren Regeln zuweilen kreativ ausgelegt werden, damit die Bedürfnisse der Kunden befriedigt werden können.

Eine Depression als Orden

Die Reform war ein radikaler Bruch mit der eigenen Vergangenheit. Der Leitwolf, Hausphilosoph und Stratege Ren Zhengfei hatte das Unternehmen 1987 in einer persönlichen Notlage gegründet. Er war vier Jahre zuvor Opfer der militärischen Abrüstung geworden. Mit seiner Entlassung aus der Volksbefreiungsarmee hatte der Offizier und Ingenieur seine Existenzgrundlage verloren.

Zunächst stellte die junge Firma keine eigene Ausrüstung her, sondern verkaufte aus Hongkong importierte Telefonanlagen. In der Anfangszeit galt Huawei als Synonym für niedrige Preise und schlechte Qualität. Die Kundschaft bestand aus Postämtern oder Bergwerken in abgelegenen Bezirken und Kleinstädten. In dieser Nische versuchte der Underdog der staatlichen und ausländischen Konkurrenz aus dem Weg zu gehen.

In den ersten Jahren des Unternehmens erhielt jeder neue Mitarbeiter eine Matratze. Wenn sie bis spät in die Nacht an den ersten Eigenentwicklungen arbeiteten, übernachteten viele Forscher im Büro auf ihren Matratzen. Manager der Firma kokettierten zuweilen damit, unter stressbedingten Depressionen zu leiden. Diese «Matratzenkultur» geriet 2008 in den chinesischen Medien in die Kritik, als sich Suizide von Huawei-Mitarbeitern zu häufen schienen.

«Matratzenkultur» à la Huawei: Ein Mitarbeiter ruht sich nach dem Mittagessen an seinem Arbeitsplatz aus und schaut dabei ein Video auf seinem Smartphone.

«Matratzenkultur» à la Huawei: Ein Mitarbeiter ruht sich nach dem Mittagessen an seinem Arbeitsplatz aus und schaut dabei ein Video auf seinem Smartphone.

Kevin Frayer / Getty
Der Huawei-Hauptsitz aus der Vogelperspektive. Die Sonderwirtschaftszone von Shenzhen diente ab 1980 als Labor für marktwirtschaftliche Experimente.

Der Huawei-Hauptsitz aus der Vogelperspektive. Die Sonderwirtschaftszone von Shenzhen diente ab 1980 als Labor für marktwirtschaftliche Experimente.

Qilai Shen / Bloomberg

Schwarze und weisse Katzen

Ren sah darin keinen Grund für einen Kurswechsel. Die Vierzigstundenwoche sei zwar eine gute Sache für normale Arbeiter. Für Musiker, Wissenschafter oder Ingenieure, die Aussergewöhnliches leisten wollten, sei sie jedoch ungeeignet. Ist diese Einstellung «typisch chinesisch»? Nicht unbedingt, glauben Huawei-Manager. Sie berichten anerkennend von ihren Bildungsreisen ins Silicon Valley. Auch dort leerten sich die Parkplätze vor den Büros erst spät in der Nacht.

Hinter dem Erfolg von Huawei steckt nicht nur harte Arbeit, sondern auch Glück. Ren war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nach dem Tod Maos führte Deng Xiaoping ab 1978 die Volksrepublik aus dem Steinzeitkommunismus. Sein Motto lautete: «Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiss ist, solange sie nur Mäuse fängt.» Damit öffnete er die Tür für marktwirtschaftliche Reformen. Waren Privatunternehmen wie Huawei zuvor des Teufels gewesen, galten sie nun als vereinbar mit dem Sozialismus.

Ren Zhengfei hat das Unternehmen 1987 gegründet.

Ren Zhengfei hat das Unternehmen 1987 gegründet.

Imago

In der damaligen Kleinstadt Shenzhen gründete der Partei- und Staatschef 1980 die erste Sonderwirtschaftszone. Das kapitalistische Experiment war derart erfolgreich, dass um die Stadt herum ein Stacheldrahtzaun gezogen wurde, um eine unkontrollierte Einwanderung in die prosperierende Zone zu verhindern.

Forschen im Disneyland

Eine Stunde dauert die Autofahrt vom Hauptsitz in Shenzhen zum neuen Campus Ox Horn in Dongguan. Dort sollen dereinst bis zu 25 000 Menschen in der Forschung und Entwicklung arbeiten. Der Clou am Campus: Auf 9 Quadratkilometern wurden europäische Städte und Regionen wie Verona, Granada oder das Burgund nachgebaut. Die Schweiz ist mit einem Mix aus Freiburg und Murten vertreten. Auf einem 8 Kilometer langen Schienennetz verkehren zudem Züge, die der Jungfraubahn nachempfunden sind.

Der Campus wird im Ausland teilweise als Disneyland belächelt. Doch das ist irreführend. Die Szenerie ist zwar kitschig, aber nicht putzig. Der Kopie des Heidelberger Schlosses kann der Mangel an Authentizität nichts anhaben; sie ist auch so imposant. Auch Berufszyniker blicken nachdenklich über den See vor dem Schloss, den Arbeiter mit Strohhüten, auf Booten stehend, von Algen befreien. Vielleicht zerbrechen auch sie sich den Kopf darüber, was das Ganze soll. Ren warnt als Spiritus Rector die Huawei-Mitarbeiter unablässig vor Überheblichkeit und Dekadenz – eine verbreitete Todesursache für Grossunternehmen. Aber ist nicht gerade Ox Horn der Inbegriff von Grössenwahn?

Wie in China generell scheint man bei Huawei gelassener mit Widersprüchen umzugehen als im Westen. Ein kapitalistisches Land, das sein Wirtschaftssystem «Sozialismus chinesischer Prägung» nennt? Ein Unternehmen, das die Furcht vor dem Untergang kultiviert und zugleich 1,5 Milliarden Franken für eine Art Versailles ausgibt? Solange etwas in der Praxis funktioniert, scheint sich über solche Fragen niemand den Kopf zu zerbrechen.

Eine Kopie der Budapester Freiheitsbrücke verbindet die beiden Hälften des neuen Campus Ox Horn, die durch einen künstlichen See getrennt sind.

Eine Kopie der Budapester Freiheitsbrücke verbindet die beiden Hälften des neuen Campus Ox Horn, die durch einen künstlichen See getrennt sind.

Kevin Frayer / Getty
In der Produktion von Smartphones werden nur noch wenige Arbeitsschritte von Menschen ausgeführt. Huawei setzt auf moderne Roboter von Herstellern wie Kuka oder ABB.

In der Produktion von Smartphones werden nur noch wenige Arbeitsschritte von Menschen ausgeführt. Huawei setzt auf moderne Roboter von Herstellern wie Kuka oder ABB.

Qilai Shen / Bloomberg

Lernen vom «Grossen Steuermann»

Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Maoismus. Weil Rens gebildeter Vater im intellektuellenfeindlichen Klima der Mao-Ära im Verdacht stand, ein Bourgeois zu sein, wurde die Familie geächtet. Sie musste in einem bitterarmen Dorf im wahrsten Sinne des Wortes Gras fressen. Das hinderte Ren nicht daran, maoistische Versatzstücke in Huaweis Unternehmenskultur einzubauen.

Dazu gehören etwa Veranstaltungen, an denen sich die Manager Selbstkritik unterziehen müssen. Auch dass Autoritäten hinterfragt werden sollen, erinnert an den Geist der Kulturrevolution. Laut Ren verwenden Huawei-Mitarbeiter zu viel Zeit darauf, ihre Vorgesetzten zu beeindrucken – etwa mit ausgefallenen Powerpoint-Präsentationen. «Wenn sie sich dabei so viele Gedanken machen, wie viele bleiben dann noch für unsere Kunden übrig?», fragt der 75-Jährige. «Huawei sollte und wird jene Mitarbeiter befördern, die Augen für ihre Kunden haben und ihren Chefs den Rücken zuwenden.»

Aufträge sind wie Drogen

Was sich befremdlich anhört, scheint zu funktionieren. Die moderne Mao-Interpretation verhindert, dass Eigeninteressen zu sehr den Blick auf das gemeinsame Ziel vernebeln: den Kunden zu dienen. Das stiftet Sinn und motiviert die Mitarbeiter, in den Krieg zu ziehen – so wie Xia Zun, den Leiter der Huawei-Niederlassung in Libyen. Dieser verspürte bei seiner Rückkehr ins nordafrikanische Kriegsgebiet zunächst eine fast freudige Aufgeregtheit. Vom Dach des Firmengebäudes beobachtete er die Bombardements. Doch je länger der Krieg andauerte, umso mehr nahm die Angst von ihm Besitz. Acht Monate harrte Xia in Tripolis aus, kämpfte mit einer Depression.

Nach seiner Rückkehr belohnte ihn Huawei für seinen Durchhaltewillen mit einer Beförderung und einer Versetzung nach Schanghai. Aber das ist laut Xia nicht der Grund, weshalb er seinem Arbeitgeber rückblickend keine Vorwürfe macht: «Aus unserer Sicht dienen wir nur unseren Kunden, seien es Regierungstruppen oder Rebellen.» Ein Treffen mit einem libyschen Kunden sei unter diesen Umständen wertvoller gewesen als hundert in Friedenszeiten. Das sei es, worum es den Leuten bei Huawei gehe: «Business ist für uns wie Opium.»

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