Die Pandemie bedeutet einen Wendepunkt. Die Corona-Krise wird das Leben von uns allen verändern. Umso wichtiger ist es, jetzt Fragen zu stellen. Ist es wirklich richtig, das öffentliche Leben einzufrieren?
Die Pandemie ist noch nicht vorbei, sie hat in Europa wohl noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht, und doch ist es an der Zeit, sich Gedanken über die Welt nach Covid-19 zu machen. Es ist die bis jetzt schlimmste Krise des noch jungen 21. Jahrhunderts. Danach wird vieles nicht mehr so sein, wie es einmal war. Diese Prognose ist nicht verwegen, denn grosse Krisen greifen immer in den Lauf der Geschichte ein.
Die Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 ebnete Hitler den Weg in die Reichskanzlei und trug damit mittelbar zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bei. Die Finanzkrise 2008 stellte die Zinspolitik auf den Kopf; die Welt wird seither mit billigem Geld geflutet. In der Euro-Krise zerstob das Selbstbewusstsein der Europäer, von einer «immer engeren Union» redet heute niemand mehr. Über die EU hat sich der Mehltau der Stagnation gelegt.
Wie Covid-19 die Zeitläufe formen und gestalten wird, lässt sich gegenwärtig noch nicht abschätzen. Wohl aber kann man Bereiche benennen, in denen sich diese Frage entscheiden wird.
Noch gehen alle westlichen Regierungen davon aus, dass die Seuche in Europa und den USA einen ähnlichen Verlauf wie in China nimmt, dass also auf den rasanten Anstieg ein relativ schnelles Abflachen der Kurve betreffend Neuinfektionen folgt. Wenn sich aber die Epidemie länger hinzieht als erwartet, dann wird die seltene Eintracht von Regierenden und Regierten, von Politikern und Medien schnell der bitteren Kritik weichen.
Man wird sich in diesem Fall daran erinnern, dass der Erreger zunächst eher schleppend bekämpft wurde. Obwohl in Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern präzise Simulationen zur Verbreitungsgeschwindigkeit eines Virus vom Sars-Typ existierten, verlangsamte sich das öffentliche Leben nur zögerlich. Grenzen blieben lange offen, Schulen und Restaurants auch.
Was jetzt noch als besonnene Reaktion gilt, wird dann als Sorglosigkeit gebrandmarkt werden. Steigen die Fallzahlen weiter, kann die Stimmung kippen und sich der Rückhalt in der Gesellschaft für das Krisenmanagement in Wut verwandeln.
Noch frohlocken viele Kommentatoren, in der Krise schlage die Stunde der Exekutive, weshalb die Populisten das Nachsehen hätten. Das Gegenteil könnte der Fall sein. Versagen die Regierungen im Angesicht der Pandemie, erhalten die Anti-Establishment-Parteien Zulauf. Die politische Landschaft in Europa wird dann umgepflügt.
Je nachdem, wie der Staat die Bewährungsprobe meistert, geht er als Loser oder als Leviathan daraus hervor. Nimmt die Zahl der Neuinfektionen rasch ab, greifen die Programme zur Unterstützung der Wirtschaft, dann wird die Macht des Staates gefährlich wachsen. Die Erwartungshaltung, der Staat möge alle Lebensrisiken abfedern, erhält dann neue Nahrung.
Ob in Washington, Bern oder Berlin: Überall versprechen Präsidenten, Kanzler und Minister, es werde genügend Geld vorhanden sein, damit kein Unternehmen Konkurs geht und kein Arbeitnehmer seine Stelle verliert. Was aber, wenn die Gesellschaft die absolute Ausnahme als neuen Regelfall interpretiert?
Schon heute verlangen linke Politiker, die grosszügigen Regeln müssten nach dem Ende der Corona-Krise bestehen bleiben. Eigeninitiative und wirtschaftliche Freiheit werden dann noch seltener in Gesellschaften, die bereits heute dazu neigen, so viel Verantwortung wie möglich an eine gütige Obrigkeit zu delegieren.
Es ist angesichts der ungewissen Zukunftsaussichten verständlich, wenn nicht nur Coiffeure und Restaurantbetreiber, sondern auch starke Branchen, die früher jede Intervention ablehnten, nach dem Staat rufen. Aber ist es auch klug? Es stehen genügend politische Kräfte bereit, die nichts lieber tun, als solche Rufe zu erhören und als Freibrief für einen Super-Etatismus zu verstehen.
So können die Sozialdemokraten ihre Befriedigung kaum verhehlen, dass die ungeliebte Schuldenbremse vorerst Geschichte ist. Das hat in der jetzigen Situation seine Berechtigung. Wenn aber aus dem der Not geschuldeten Sonderfall ein Dauerzustand wird, wäre das fatal. Auch Donald Trump setzte mit Wonne den freien Reiseverkehr aus, weil dies sein Mantra zu bestätigen scheint, wonach Grenzzäune der beste Schutz gegen Viren und die Mächte der Globalisierung sind.
Längst bevor wir alle begriffen, welche Gefahren auf chinesischen Märkten lauern, hatte es von links wie rechts geheissen, der Liberalismus habe sich überholt. Die Untergangspropheten behaupten seit längerem, die Ära der Deregulierung und des Freihandels seit den achtziger Jahren habe nur die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht und die westliche Demokratie in eine «moralische Krise» gestürzt. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben. Covid-19 wird als Vorwand dienen, um eine Renaissance staatlicher Bevormundung mit umso mehr Nachdruck zu fordern.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sagte Wilhelm II.: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.» Der Wagenburg-Reflex ist in der Krise verständlich, aber er darf das kritische Denken nicht unterbinden. Gerade weil die Corona-Pandemie eine solche Herausforderung ist, muss über den Weg zu ihrer Bewältigung offen diskutiert werden.
Ist es sinnvoll, wie jetzt im Tessin das öffentliche Leben in seiner Gänze einzufrieren? Wäre es angesichts der Kosten nicht vernünftiger, wenigstens die Wirtschaft weiterlaufen zu lassen und dafür die Risikogruppen umso strenger zu isolieren? Niemand kann von sich behaupten, er allein kenne die richtigen Antworten. Umso wichtiger ist es jetzt, Fragen zu stellen.
Die nationale Gemeinschaft feiert ein Comeback, nachdem sich in den letzten Jahrzehnten die Gesellschaft fragmentiert, individualisiert und polarisiert hat. Die Pandemie wird das Verhältnis zwischen Freiheit und Kontrolle, privater Autonomie und «Big Government», zwischen Individuum und Gemeinschaft neu definieren. Diejenigen, die auf der Seite von Freiheit und Selbstverantwortung stehen, dürfen nicht schweigen, nur weil die Abwehr der Seuche eine konzertierte Anstrengung erfordert und das Kollektiv den Ton angibt.
Das Virus wird auf allen Ebenen zu Veränderungen führen und Machtverhältnisse verschieben – innerhalb von Staat und Gesellschaft, aber auch international. So haben die EU-Mitglieder in den letzten Wochen alles andere als koordiniert reagiert. Jeder beschritt einen Sonderweg, und jeder Staat kann sich auf dieses Beispiel berufen, wenn er künftig sein Heil im Alleingang sucht. Die Stagnation der Europäischen Union wird sich voraussichtlich verschärfen, die politischen und wirtschaftlichen Gräben dürften sich vertiefen.
Der Erreger trifft diejenigen EU-Staaten am brutalsten, die nach der Euro-Krise nicht Vorsorge getroffen und Schulden abgebaut haben. Das gilt ausgerechnet für das besonders in Mitleidenschaft gezogene Italien, dessen finanzielle Lage sich dramatisch verschlechtert. Nicht nur die Maastricht-Kriterien sind obsolet. Gerät Rom in eine Abwärtsspirale wie ehedem Griechenland, steht der Euro zur Disposition.
In der Finanzkrise von 2008 retteten die USA mit einigen beherzten Entscheidungen das Bankensystem. Diesmal verharmloste Trump die Seuchengefahr noch länger als andere. Washington bemühte sich angesichts von Covid-19 nie um eine globale Antwort, wie sie nur eine globale Führungsmacht geben kann. Amerika besann sich nicht auf seine idealistischen Traditionen, sondern zeigte ein feindseliges und egoistisches Antlitz.
Wer wird von diesem Vakuum profitieren? Ausgerechnet China schickt nun, da es selbst das Schlimmste überstanden zu haben scheint, medizinisches Personal und Hilfsgüter nach Italien. Gleichzeitig intensiviert Peking die militärischen Drohgebärden gegenüber Taiwan, da dessen Schutzmacht Amerika mit der Corona-Pandemie ringt. Hier übt eine neue Grossmacht, wie man mit einer Mischung aus Propaganda und Kanonenbootpolitik globale Führung ausübt. Auch die Geopolitik steht im Bann der Epidemie.
In den letzten Jahren ging das Gefühl um, eine Epoche gehe zu Ende, die nach dem Fall der Berliner Mauer ihren Ausgang genommen hatte. Der Eindruck von «fin de siècle» akzentuiert sich mit der Corona-Krise. Die Welt ist eingestimmt auf Endzeitszenarien. Umso mehr kommt es darauf an, kühlen Kopf zu bewahren und dafür zu sorgen, dass der Ausnahmezustand nicht zum Regelfall wird.