Warum Afghanistan für die Amerikaner nicht Vietnam ist

Enthüllungen der «Washington Post» über Afghanistan belegen, dass die Berichte über angebliche Erfolge geschönt waren. Neu ist das nicht, aber es zeigt, wie wenig die Öffentlichkeit über den Krieg wissen will.

Peter Winkler, Washington
Drucken
Amerikanische Soldaten in Afghanistan im März 2014. Neue Berichte zeichnen ein ernüchterndes Bild des Afghanistan-Engagements der USA.

Amerikanische Soldaten in Afghanistan im März 2014. Neue Berichte zeichnen ein ernüchterndes Bild des Afghanistan-Engagements der USA.

Scott Olson / Getty

Wie soll man im Krieg mit unbequemen Wahrheiten umgehen? Soll man die Wahrheit ungeschminkt darstellen, auch wenn sie die Moral der eigenen Truppe untergräbt und jene des Feindes stärkt? Oder darf man hemmungslos lügen, um genau das zu verhindern? Die Frage stellt sich in den USA wieder einmal in aller Heftigkeit, seit die «Washington Post» die sogenannten Afghanistan Papers veröffentlichte, die ein schlechtes Licht auf den bisher längsten Krieg Amerikas werfen.

Zugang per Gerichtsentscheid

Die Zeitung hat über Gerichtsklagen den Zugang zu Hintergrundinformationen erstritten, die der spezielle Generalinspektor für den Wiederaufbau in Afghanistan (Sigar) seit 2008 in vierteljährlich erscheinende Berichte verarbeitet. Von besonderem Interesse waren dabei die sieben speziellen Berichte über «gelernte Lektionen», die John Sopko, seit 2012 im Amt des Sigar, seit Juni 2018 veröffentlichte, um der militärischen und zivilen Seite des amerikanischen Engagements am Hindukusch zu ermöglichen, Lehren aus Erfolg und Misserfolg zu ziehen.

Eine Vielzahl von Befragten zeichnet in diesen Hintergrundinformationen ein ernüchterndes Bild der amerikanischen und der internationalen Anstrengungen zur Befriedung und Entwicklung Afghanistans. Obwohl die USA laut einer Berechnung der «New York Times» mehr als zwei Billionen Dollar in das Afghanistan-Engagement investierten, sind die Resultate bestenfalls durchzogen.

Natürlich wurden sofort Parallelen gezogen zu den berühmten Pentagon Papers, mit denen der Militäranalytiker Daniel Ellsberg 1971 das systematische Belügen der amerikanischen Öffentlichkeit durch Regierung und Armeespitze im Vietnamkrieg blosslegte. Doch die Unterschiede zwischen den Afghanistan Papers und den Pentagon Papers sind gross; noch grösser ist nur die Differenz in der Stimmung, die damals im Vergleich zu heute herrschte.

Zum einen sind die pessimistischen Berichte zu Afghanistan keineswegs neu. Man braucht nicht einmal zu den Enthüllungen von Wikileaks aus dem Jahr 2010 Zuflucht zu nehmen, um zu beweisen, dass Hiobsbotschaften über die Lage am Hindukusch durchaus bekannt waren. Als «grellen Blitz des Offensichtlichen» nannte ein Journalist des Konkurrenzblatts «Washington Examiner» deshalb die Veröffentlichung in der «Post». Wie er zu Recht monierte, enthüllten die Afghanistan Papers eine Tatsache, die allen, die es wissen wollten, schon längst bekannt war.

Es hat sich nämlich in der Frage, wie viel Wahrheit eine effiziente Kriegsführung erlaubt, in den offenen Gesellschaften ein Kompromiss etabliert: Rückschläge und Scheitern werden nicht verkündet, aber auch nicht verschwiegen – vor allem nicht auf kundiges Nachfragen. Genau das ist im Fall von Afghanistan seit vielen Jahren praktiziert worden.

Nicht gewinnen, nur durchhalten

Dies trifft sogar auf das Endergebnis dieses Kriegs- und Hilfseinsatzes zu. Zwar konnte Präsident Donald Trump vor gut zwei Jahren im Situation Room des Weissen Hauses gegenüber seinen Militärführern noch schimpfen: «Wir gewinnen nicht in Afghanistan!» Doch er war mit Sicherheit der Einzige im Raum, der dies nicht schon wusste. Vor über einem Jahrzehnt hatte beispielsweise ein Nato-Botschafter in Brüssel vor einem der traditionellen Treffen des Bündnisses klargemacht: Es gehe nur noch darum, die Kriegsführung auf eine niedrige Intensität zurückzufahren, die nachhaltig verkraftbar sei.

Herbert McMaster, der nationale Sicherheitsberater Trumps von 2017 bis 2018, bestätigte dies in einem Interview mit der NZZ im vergangenen Juni. «Das Ausmass des gegenwärtigen Engagements in Afghanistan», sagte der frühere Heeresgeneral, «ist absolut nachhaltig. Man muss sich im Klaren sein: Für langfristige Probleme gibt es keine kurzfristigen Lösungen. Aber das ist machbar.»

Auch schlechte Nachrichten zu einzelnen Bereichen des Engagements wurden selten verheimlicht. John Sopko selbst, der Chef der Aufsichtsbehörde Sigar, sprach öffentlich darüber, beispielsweise in der Denkfabrik Brookings Institution im Mai letzten Jahres. Ein Kernsatz in seinem Vortrag war, dass das Programm zur Stabilisierung von unsicheren und umstrittenen Gebieten in Afghanistan zwischen 2002 und 2017 «mehrheitlich scheiterte».

Die Pentagon Papers versetzten 1971 der amerikanischen Kriegsführung in Vietnam den Todesstoss. Die Afghanistan Papers werden kaum einen vergleichbaren Effekt haben. Der wichtigste Grund ist, dass der Vietnamkrieg in den frühen siebziger Jahren die Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft erschütterte. Der 18 Jahre lange Afghanistan-Einsatz des amerikanischen Militärs dagegen interessiert vor allem das amerikanische Militär und die Familien der entsandten Soldatinnen und Soldaten.

«Thank you for your service»

Im Vietnamkrieg galt die allgemeine Dienstpflicht, die erst 1973 abgeschafft wurde. Seither sind die amerikanischen Streitkräfte eine Armee von Freiwilligen. Damals konnte es – abgesehen von Ausnahmebewilligungen, Ausreissern und Drückebergern – praktisch jede Familie treffen. Heute dient noch ein halbes Prozent der amerikanischen Bevölkerung in den Streitkräften. Zwar ist die Formulierung «Thank you for your service» im Umgang mit Uniformierten zu einem festen Teil des amerikanischen Alltags geworden. Doch darüber hinaus nimmt die überwiegende Mehrheit an der Kriegsanstrengung kaum wirklich Anteil. Entsprechend wenig will sie davon wissen.

Weitere Themen