Bei der Zergliederung von Österreich-Ungarn standen die Einzelwünsche der Sieger im Zentrum

Vor rund hundert Jahren regelten zwei Verträge die Neuordnung der ehemaligen Donaumonarchie. Der Wiener Historiker Arnold Suppan analysiert die Abkommen von Saint-Germain und Trianon und zeigt an ihrem Beispiel, dass Stabilität nicht ohne Gerechtigkeit geschaffen werden kann.

Andreas Oplatka
Drucken
Grenzstein aus dem Jahr 1922 an der ungarisch-rumänischen Grenze.

Grenzstein aus dem Jahr 1922 an der ungarisch-rumänischen Grenze.

Kelenbp

Zahlreiche Fragen als Folge der Pariser Friedenskonferenz von 1919/20 stehen selbst ein Jahrhundert später immer noch auf der Tagesordnung der internationalen Politik, Probleme, die infolge der Auflösung der Habsburgermonarchie, des zaristischen Russland und des Osmanischen Reichs entstanden sind. Der emeritierte Wiener Professor Arnold Suppan, einer der bestbekannten Kenner Ostmitteleuropas, widmet sich der Geschichte und der Nachwirkung von zwei Friedensschlüssen: den Verträgen von Saint-Germain und Trianon.

Der erste enthielt die Österreich, der zweite die Ungarn diktierten Bedingungen. Als Nachfolger des Habsburgerreichs wurden die beiden Länder von den Siegern zu den Urhebern des Weltkriegs gezählt und besonders hart bestraft.

Die Alliierten bestanden gegenüber allen Unterlegenen auf einer Formel, die den Feinden von gestern einseitig die Schuld am Weltkrieg zuwies. Die historisch unhaltbare Behauptung schuf in alliierter Sicht die moralische Grundlage für die Wiedergutmachungsforderungen. Dem Bestreben lag ein oft zu wenig beachtetes Faktum zugrunde: Die Siegermächte, vor allem Frankreich und Grossbritannien, waren infolge der Kriegskosten bei den Vereinigten Staaten und teilweise auch untereinander stark verschuldet.

Allerdings traf die Zerschlagung des gemeinsamen Wirtschaftsraums, den die Donaumonarchie gebildet hatte, alle Nachfolgestaaten schwer. Die industrielle Produktion stockte, die Ernten von 1918 bis 1921 fielen schlecht aus, es herrschte Mangel an Lebensmitteln und Kohle, wozu noch Seuchen, Tuberkulose und die Spanische Grippe kamen. Viel an Reparationszahlungen war von den besiegten Staaten unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Suppan belegt beides, die komplizierte Verschuldungslage und die wirtschaftliche und soziale Not, ausführlich mit Zahlen.

Die Sieger unter sich

Die Vertreter der Westmächte handelten in Paris in der Überzeugung, ihr Ziel müsse eine dauerhafte europäische Friedensordnung sein. Als Vorbild mochte ihnen der Wiener Kongress von 1814/15 gedient haben. Freilich hatte man gut hundert Jahre zuvor Frankreich, den grossen Unterlegenen, am Kongress in Wien teilnehmen lassen und seine Stellung als bedeutende Macht respektiert. Nichts von alldem traf auf die Konferenz in Paris zu, wo die Sieger unter sich berieten und die Verlierer ausgeschlossen blieben.

Bei der Verteilung der Territorien der Donaumonarchie bedeutete das so viel, dass nur die Delegationen der Italiener, Tschechen, Südslawen und Rumänen zu Wort kamen. Ihre Angaben darüber, zu welcher Nation die Bevölkerung der von ihnen beanspruchten Regionen zu zählen sei, waren zwar mächtig übertrieben, aber auf Widerspruch stiessen sie selten. Die Verlierer kamen erst zu Wort, als die Beschlüsse schon längst feststanden.

Am 4. Juni 1920, wenige Minuten nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon, verlassen Ágost Benárd, Delegationsleiter (Mitte links mit einem Zylinder in der Hand) und Alfred Drasche-Lázár, ausserordentlicher Gesandter und Staatssekretär (mit unbedecktem Kopf), das Schloss Trianon in Versailles.

Am 4. Juni 1920, wenige Minuten nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon, verlassen Ágost Benárd, Delegationsleiter (Mitte links mit einem Zylinder in der Hand) und Alfred Drasche-Lázár, ausserordentlicher Gesandter und Staatssekretär (mit unbedecktem Kopf), das Schloss Trianon in Versailles.

Agence Rol

Alle beriefen sich auf das namentlich vom amerikanischen Präsidenten Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, bloss bestand, wie Suppan schreibt, jeder auf diesem Recht für sich selbst, sprach es aber dem Nachbarn ab. «Le reste, c’est l’Autriche», erklärte der französische Premierminister Clemenceau nach der grosszügigen Aufteilung des Kaiserreichs, und da dieses Österreich sich damals wirtschaftlich nicht für lebensfähig hielt, suchte es den Anschluss an Deutschland.

Indem die Konferenz diesen Wunsch abschlug, machte sie klar, dass das Recht auf Selbstbestimmung nur je nach politischer Opportunität galt. Hervor ging dies auch daraus, dass von Österreich ans Mutterland angrenzende deutschsprachige Gebiete (in Südtirol sowie am Südrand von Böhmen und Mähren) ebenso abgetrennt wurden wie rein magyarische Regionen von Ungarn (unter anderem die Grosse Schüttinsel nördlich der Donau und der Ostrand der Tiefebene).

Gewalt half nach

Dabei spielte es bei der Behandlung der zwei Staaten keine Rolle, dass die österreichische Regierung zwar Gerechtigkeit verlangte, doch Bereitschaft bekundete, die Tschechoslowakei und Jugoslawien anzuerkennen, während Ungarn an der Bewahrung seines gesamten Staatsgebiets festhielt. Bei der Zuteilung von Territorien wurde die Ethnizität als Kriterium bald durch wirtschaftliche, militärische und verkehrstechnische Gesichtspunkte abgelöst.

Historische Argumente kamen hinzu, Prags Anspruch etwa auf die einstigen Grenzen der böhmischen Krone. Das schloss Gebiete ein, in denen über drei Millionen Menschen deutscher Sprache lebten. Gewalt sollte den Forderungen nachhelfen, ob es sich in der nordböhmischen Stadt Teplitz (Teplice) um tödliche Schüsse des Militärs gegen Demonstranten handelte oder gar um den Versuch der Nachbarländer, Teile Österreichs und nahezu ganz Ungarn zu besetzen, um mit vollendeten Tatsachen der Friedenskonferenz zuvorzukommen.

Ausführlich nachlesen lässt sich im Buch die Entstehungsgeschichte der österreichisch-jugoslawischen Grenze, und an diesem Beispiel wird klar, wie wenig sich das ethnisch verschachtelte Siedlungsgebiet der Donaumonarchie zur Schaffung homogener Nachfolgestaaten eignete. So fiel die überwiegend deutschsprachige Stadt Marburg an der Drau, das heutige Maribor, an Slowenien, in einer Volksabstimmung in Südkärnten hingegen sprach sich die Mehrheit der in dieser Region wohnhaften Slowenen für den Verbleib bei Österreich aus.

Der Urnengang darf als eine Ausnahme gelten, denn die Alliierten gaben weder dem österreichischen Wunsch nach Plebisziten in den umstrittenen Zonen von Böhmen und Mähren noch dem Antrag Ungarns statt, die Einwohner Siebenbürgens und der Slowakei zu befragen. Dass grenznahe Regionen für Ungarn gestimmt hätten, hält der Verfasser für wahrscheinlich.

Fakten und Urteile

Sachlichkeit mit einem eindeutigen Urteil zu vereinen, fällt bei diesem Thema nicht immer leicht, doch Suppan zeigt, dass dies möglich ist. Zurückhaltend schildert er die Fakten, spricht aber Klartext, wenn es gilt, die Leistung der in Paris versammelten Staatsmänner zu bewerten. Sie betrachteten, so hält er ihnen vor, als Hauptelement nicht die internationale Stabilität, die auf Gerechtigkeit beruhen muss, sondern die Einzelwünsche der Sieger.

Ihr Bestreben, in Deutschlands Rücken und im Vorfeld Russlands eine trennende Zone zu schaffen und dort Verbündete zu gewinnen, zeugt von der Überschätzung der Stärke so junger Staaten wie der Tschechoslowakei und Rumänien sowie des neu entstandenen Polen. Die geschwächten und gedemütigten Unterlegenen überliess man ihrem Schicksal, ohne zu bedenken, dass solche Behandlung nach Revanche ruft.

Führte die Pariser Konferenz unausweichlich zum Zweiten Weltkrieg? Die These, sagt Suppan mit der ihm eigenen Sorgfalt und Genauigkeit, kann nicht bewiesen werden. Fest steht für ihn allerdings, dass Mussolini und Hitler ihre Agitation gegen die Friedensschlüsse von 1919 schon früh begannen und dass Hitler sich bei seinem Griff nach Österreich, dem Sudetenland und Danzig ebenso auf das Selbstbestimmungsrecht berief wie Stalin, der beim Überfall auf Polen vorgab, Ukrainer und Weissrussen im Namen des gleichen Prinzips zu befreien.

Arnold Suppan: The Imperialist Peace Order in Central Europe. Saint-Germain and Trianon 1919–1920. Austrian Academy of Sciences Press, Wien 2019. 250 S., Fr. 37.90.