«Überall liegen Leichen herum»: Mehr als 100 Tage belagerte die Rote Armee im Winter vor 75 Jahren Budapest

Es war eine der längsten und erbittertsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Ungarn stand bis fast zum bitteren Ende treu an Hitlers Seite – und sieht sich heute als reines Opfer.

Ivo Mijnssen, Budapest
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Strassenszene in Budapest während der Schlacht um die ungarische Hauptstadt vor 75 Jahren.

Strassenszene in Budapest während der Schlacht um die ungarische Hauptstadt vor 75 Jahren.

Tass / Getty

«Sziklakorhaz», Felsenspital, steht über dem unscheinbaren Eingang am Fusse des Budapester Burghügels. Als «schreckliche Lagerstätte voller Qualen» beschreibt die Augenzeugin Klara Ney den Ort während der Belagerung im Zweiten Weltkrieg. «Dunkle, in alle Richtungen sich verzweigende Gänge. Menschen überall, Rücken an Rücken, in unbeschreiblichem Dreck und Elend.» Doch heute, 75 Jahre nach der Eroberung Budapests durch die Rote Armee, ist das Felsenspital eine Touristenattraktion.

Das Elend tritt nur noch in sterilisierter Form auf. Die Gänge sind hell und sauber, die Lazarett-Szenen mit Wachsfiguren in Soldaten- und Ärzteuniformen nachgestellt. Sie tragen blutdurchtränkte Bandagen und blicken besorgt auf die Spritze, die der Doktor vorbereitet, während die Krankenschwester daneben schmunzelt; sogar Humor hat Platz. Nur der Geruch muffigen Verbandmaterials sorgt einen Moment lang für Irritation.

Im Felsenspital wird das Elend von damals in steriler Form dargestellt.

Im Felsenspital wird das Elend von damals in steriler Form dargestellt.

Zsolt Szigetvary / EPA

Kostspielige Verteidigung

Der seltsame Erinnerungsort ist bezeichnend für das Verhältnis der heute in herrschaftlichem Glanz erstrahlenden ungarischen Hauptstadt zu ihrer blutigen Vergangenheit. Ihre Belagerung dauerte über hundert Tage. Damit harrte Budapest länger aus als jede andere von den Deutschen verteidigte Stadt. Das zusammenbrechende nationalsozialistische Regime vermochte damit vorübergehend die Ostfront gegen die unaufhaltsam vorrückenden sowjetischen Truppen zu stabilisieren.

Doch der Preis war hoch: Die Wehrmacht und die SS verloren im Kessel von Budapest vier Divisionen. Die genauen Zahlen sind umstritten, doch der ungarische Historiker Krisztian Ungvary schätzt in seinem Standardwerk «Die Schlacht um Budapest», dass die deutschen und ungarischen Armeen zwischen dem 3. November 1944 und dem 11. Februar 1945 125 000 Tote, Verwundete und Gefangene verzeichneten. Die Verluste der Roten Armee waren mehr als doppelt so hoch. Auch 38 000 Zivilistinnen und Zivilisten kamen bei den Kämpfen ums Leben.

Ungvary vergleicht das Ausmass der Gefechte mit den grössten Schlachten des Krieges: «Wegen der Hoffnungslosigkeit der Situation und wegen der unvorstellbaren Entbehrungen ist die Belagerung Budapests als ‹zweites Stalingrad› im Bewusstsein der deutschen Verteidiger verankert.» Die Gegenüberstellung ist nicht unproblematisch, doch sie überzeugt insofern, als sich an beiden Orten über eine Million Mann in anhaltenden Gefechten um jede Strasse, jedes Haus gegenüberstehen – in einem Kampf, den Adolf Hitler und Josef Stalin zur Entscheidungsschlacht hochstilisiert haben.

Unsicherer Verbündeter

Für Stalin geht es primär darum, sich für die gleichzeitig stattfindende Konferenz von Jalta eine aussichtsreiche Verhandlungsposition zu erkämpfen, denn die Alliierten aus West und Ost wetteifern um die Kontrolle über Zentraleuropa. Ungarn ist eines der Länder, die im Grenzgebiet der Einflusssphären liegen. Hitler wiederum steht kurz davor, nach Italien und Rumänien seine letzten Verbündeten zu verlieren: Der ungarische Diktator und reaktionäre Antisemit Miklos Horthy weiss, dass der Krieg entschieden ist. Er will einen Waffenstillstand mit den Alliierten, weshalb die Wehrmacht im März 1944 Ungarn besetzt und Horthy am 15. Oktober durch einen Putsch absetzt.

An die Macht kommt nun eine nationalsozialistische Splittergruppe, die Pfeilkreuzler. Sie errichten in Budapest ein Schreckensregime, erschiessen Tausende von Juden am Donauufer und liefern Zehntausende an die Deutschen zur Deportation aus. Die meisten ungarischen Juden werden jedoch bereits vor ihrer Machtergreifung ermordet: Im Mai 1944 gibt Horthy nach langem Zögern dem Drängen der Deutschen nach und lässt unter teilweise enthusiastischer Beteiligung der ungarischen Sicherheitskräfte 424 000 Juden deportieren. Die meisten werden in Auschwitz vergast.

Der Pfeilkreuzler-Terror richtet sich auch gegen die ungarische Armee, die wiederum von den Deutschen herablassend behandelt wird. Die Spannungen schwächen die wenig koordinierte Verteidigung der von Hitler zur «Festung» erklärten Stadt. Den sowjetischen Truppen der 2. und 3. Ukrainischen Front gelingt es so am 27. Dezember, Budapest vollständig einzukesseln. Im Januar scheitern mehrere Versuche der deutschen Armee, den Ring zu durchbrechen.

Rettendes Pferdefleisch

Die Lage in der eingeschlossenen Stadt verschlechtert sich rapide. Innerhalb weniger Tage um den Jahreswechsel herum brechen die Gas-, die Wasser- und die Stromversorgung zusammen. Die Verteidiger haben kaum Vorräte angelegt, und die Versorgung auf dem Luftweg funktioniert nur teilweise. Die Zivilbevölkerung hat dabei keine Priorität – Pfeilkreuzler und Wehrmacht sehen sie als potenziell rebellischen «Grossstadtmob».

Vor dem Hungertod bewahren die Menschen jene 30 000 Armeepferde, die nicht mehr gefüttert werden können. Der Zeitzeuge Ervin Kis schildert die Schlachtung in eindringlichen Bildern: «In der Mitte kauerten und knieten Menschen um einen Pferdekadaver herum. Mit Messern sezierten sie ihn und schnitten von ihm das Fleisch ab. Der abgeschnittene Kopf des Kiefers lag ein paar Meter weiter auf dem Boden. Aus dem geöffneten, verstümmelten Körper quollen die gallertartigen, kalt glänzenden gelben und blauen Eingeweide heraus.»

Als der Druck auf der Ostseite der Stadt, in Pest, zu gross wird, ziehen sich die Verteidiger nach Buda zurück. In den letzten Stunden spielen sich auf den Donaubrücken chaotische Szenen ab. «Derbe Flüche auf Ungarisch und auf Deutsch. Totale Kopflosigkeit», meldet ein ungarischer Oberstleutnant, «riesige Löcher auf der Brücke, durch die man das Wasser sieht. Überall liegen Leichen herum.» Als die Deutschen die Elisabeth- und die Kettenbrücke am Morgen des 18. Januar 1945 sprengen, stürzen Hunderte in die Tiefe.

Am 11. Februar stehen die letzten Stützpunkte auf und neben dem Budaer Burghügel vor dem Fall. Der deutsche Oberkommandierende organisiert einen verzweifelten Ausbruchsversuch. 34 000 Menschen, vor allem deutsche und ungarische Soldaten, versuchen, durch die sowjetischen Linien im Westen durchzubrechen. Sie seien wie Lemminge ins Verderben gelaufen, schreibt Ungvary, direkt ins Sperrfeuer, um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Die Hälfte von ihnen wird in den ersten fünf Tagen getötet, nur 700 erreichen die deutschen Linien. Rechtsextreme feiern diesen sinnlosen Akt bis heute an einem «Tag der Ehre».

Rechtsextreme versammelten sich um den deutschen und ungarischen Soldaten, die bei dem Ausbruchsversuch gefallen sind, zu gedenken. (Budapest, 11. Februar 2020)

Rechtsextreme versammelten sich um den deutschen und ungarischen Soldaten, die bei dem Ausbruchsversuch gefallen sind, zu gedenken. (Budapest, 11. Februar 2020)

Tamas Kovacs / EPA
Demonstranten halten einen Anti-Nazi Banner hoch. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den zwei Gruppen vorauf die Polizei einschreiten musste. (Budapest, 11. Februar 2020)

Demonstranten halten einen Anti-Nazi Banner hoch. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den zwei Gruppen vorauf die Polizei einschreiten musste. (Budapest, 11. Februar 2020)

Bernadett Szabo / Reuters

Vergewaltiger statt Befreier

Die verbliebenen Verteidiger kapitulieren am 13. Februar. Für die Bevölkerung beginnt eine neue Leidensgeschichte: Die Soldaten der Roten Armee, als Befreier begrüsst, erweisen sich als Plünderer und Vergewaltiger. Sie sind brutalisiert durch die Kriegsjahre und voller Rachedurst aufgrund der unvorstellbaren Verbrechen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten in der Sowjetunion, die 27 Millionen Menschen das Leben kosteten. Marschall Malinowski gewährt seinen Männern drei Tage «freien Raub», um den Sieg zu feiern.

Die Zustände vergleicht ein ungarischer Bischof mit der Hölle auf Erden: «Frauen, von 12 Jahre alten Mädchen bis zu Müttern im 9. Monat der Schwangerschaft, wurden entehrt, der Grossteil der Männer verschleppt, sämtliche Wohnungen geplündert und wie die Kirchen der Stadt ruiniert.» Die Rechtlosigkeit hält teilweise über Monate an, bevor in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ein stalinistisches System entsteht.

Die Gewalt und die Einverleibung Ungarns in den sowjetischen Machtbereich bis 1989 haben Folgen bis heute. Für Ungvary ist klar, dass die sowjetische Gewalt eine Auseinandersetzung der Ungarn mit der eigenen Geschichte, Täterschaft und Kollaboration, verhindert hat. «Auch wir haben sehr viel gelitten», so fasst er die undifferenzierte Einstellung zusammen.

Einseitiges Geschichtsbild

Sie führt zu einem einseitigen Geschichtsbild, das sich auch im Museum des Felsenspitals manifestiert: Die Belagerung wird dort als eine Art Naturgewalt dargestellt, die über Budapest hereingebrochen sei, die Begriffe Hitler oder Nationalsozialismus werden kein einziges Mal erwähnt. Die sowjetische Unterdrückung wird hingegen ausführlich in den dunkelsten Farben ausgemalt.

Auch die Regierung stellt das Heldentum des Aufstands von 1956 in den Vordergrund – mit Recht. Problematisch wird es dort, wo dies zu Verharmlosungen führt: Sie zeigen sich wohl am klarsten in der kontroversen, 2014 aufgestellten Statue des Erzengels Gabriel auf dem Freiheitsplatz, die an die Besetzung durch Nazideutschland erinnern soll und Ungarn als unschuldiges Opfer Deutschlands darstellt. Gleichzeitig erfährt Miklos Horthy in der Öffentlichkeit eine teilweise Rehabilitation – die Exzesse des Holocaust werden oft einseitig den Pfeilkreuzlern zugeschrieben. Doch so schlimm das Leid war, das während der Belagerung Budapests über die Zivilbevölkerung hereinbrach: Für dessen Vorgeschichte tragen die Ungarn eine massgebliche Mitverantwortung.

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