Dharavi – ein indischer Slum mit wirtschaftlicher Strahlkraft

In Asiens grösstem Slum finden Hunderttausende von Arbeitsmigranten ein finanzielles Auskommen. Ein Rundgang durch Mumbais Hinterhof zeigt allerdings auch, woran Indien krankt.

Marco Kauffmann Bossart, Mumbai
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Geschäftiges Treiben in den Gassen von Dharavi.

Geschäftiges Treiben in den Gassen von Dharavi.

Dhiraj Singh / Bloomberg

Eine mehrspurige Betonbrücke verbindet in Mumbai zwei Welten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Westlich des Flusses Mithi entfaltet sich das «neue Indien»: elegante Bürokomplexe für ausländische Banken, Wohntürme mit ausgefallenen Wasserspielen und Bio-Cafés, in denen sich Mumbais Jeunesse dorée mit einem Detox-Fruchtsaft erfrischt. Bezahlt wird digital. Verwöhnte Jugendliche geben für einen Snack so viel aus, wie ein Rikschafahrer an einem Tag verdient. Der Bandra Kurla Complex, kurz BKC, verkörpert ein Indien, wie es Premierminister Narendra Modi auf Konferenzen mit Topmanagern anpreist: technikaffin, weltoffen, zukunftsorientiert.

Einige hundert Meter östlich, am anderen Ende der Brücke, beginnt Dharavi: ein Labyrinth aus Wellblechverschlägen, Garküchen, Werkstätten, Moscheen, Dreckhaufen, Tempeln, Schulen, Märkten, verschmutzten Wasserkanälen. In manchen Gassen finden keine zwei Personen aneinander vorbei. Zwischen 700 000 und 1 Million Menschen sollen in Dharavi leben. Wie viele es genau sind, weiss niemand. Dharavi ist ein Nervenzentrum der informellen Wirtschaft, Asiens grösster Slum und gleichzeitig einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile der Welt. Aus Mangel an Toiletten – im Durchschnitt teilen sich hundert Menschen ein WC – erleichtern sich die meisten entlang der Bahnlinie. Die schlechten hygienischen Verhältnisse führen zur Verbreitung von Tuberkulose und anderen Krankheiten.

Mit «Fleischwolf» und Waage

Im Recycling-Quartier kratzt an diesem Morgen ein Jüngling mit den Fingernägeln Rückstände aus Leim-Fläschchen. Ein strenger Geruch chemischer Substanzen durchdringt den Schopf. In einem zweiten Arbeitsschritt rupft der Wanderarbeiter aus Uttar Pradesh die Verschlüsse ab und wirft sie in einen Behälter. Zwölf Stunden lang macht er das, sieben Tage die Woche, neun Monate im Jahr. In einer dunklen Bude, wo er auch die Nacht verbringt, geht er seiner Arbeit nach; ohne Toilette, Koch- oder Waschgelegenheit. In Dharavi sind Fabrikräume zugleich Schlafräume. Oft werden in den engen Verschlägen noch Zwischenböden eingezogen. Jeder Quadratzentimeter zählt.

In einem Schuppen nebenan werfen zwei Arbeiter haufenweise Plastik in eine Maschine, die das Material unter ohrenbetäubendem Lärm zu Kleinteilen verarbeitet. Wie ein überdimensionierter Fleischwolf sieht das Mahlwerk aus. Immer wieder schleudert es Stücke zurück. Die zwei Arbeiter haben sich bunte Tücher vor den Mund gebunden, aber sie tragen weder Schutzbrille noch Handschuhe. Dafür fehlt in keinem Bretterverschlag von Dharavi eine Waage. Wer 10 Gramm mehr Schrott verarbeitet, erhält mehr Rupien.

Recycling-Werkhöfe, Färbereien, Nähereien, Schmelzhütten, Bäckereien – in Dharavi erwirtschaften gegen 20 000 Kleinstbetriebe zusammen einen Jahresumsatz zwischen 500 Mio. und 1 Mrd. $. Dies schätzen Ökonomen, die Dharavis Wirtschaft zu vermessen versuchten. Die Slumbewohner beliefern nicht nur Indien mit Plastik, Töpfen und Fladenbrot. Westliche Modelabel beziehen, indirekt über Zwischenhändler, Leder aus Mumbais Schattenwirtschaft. Süssigkeiten «Made in Dharavi» beispielsweise finden Käufer in Grossbritannien.

Arbeiter nähen in einer Bekleidungsfabrik in Dharavi.

Arbeiter nähen in einer Bekleidungsfabrik in Dharavi.

Danish Siddiqui / Reuters

Die Riesensiedlung ruht nur, wenn der Monsun wütet oder Delhis Führung mit wirtschaftspolitischen Experimenten zuschlägt, so wie 2016. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte Modi damals 86% des Bargeldes für ungültig erklärt. Die Slumökonomie, grösstenteils eine Cashwirtschaft, kollabierte. Händler und Arbeiter waren nur noch damit beschäftigt, Geld zu tauschen. Die sogenannte Demonetisierung mutete an wie ein ungebührlicher Eingriff eines Staats, der sonst einen Bogen um Dharavi macht. Im ehemaligen Fischerdorf werden schmutzige und gefährliche Arbeiten geduldet, die es gemäss indischem Gesetz mitten im Zentrum der Megalopolis gar nicht geben dürfte.

Umgekehrt schafft sich der indische Staat mit seinem Wegschauen ein anderes Problem vom Hals: Dharavi funktioniert als Auffangbecken für Heerscharen von Wanderarbeitern aus Uttar Pradesh, Gujarat, Bihar und anderen indischen Gliedstaaten. Sie entfliehen der wirtschaftlichen Perspektivenlosigkeit ihrer Dörfer. Ohne Dharavi würden die Zuwanderer womöglich auf der Strasse oder in Mumbais Unterwelt landen.

Der Mythos von der Slumkarriere

Die wirtschaftliche Energie, die Dharavi ausstrahlt, steht im krassen Widerspruch zur Vorstellung eines Slums als Vorhof zur Hölle. Der Jüngling aus Uttar Pradesh, der jeden Tag Hunderte von Leimfläschchen zerlegt, verdient im Monat 15 000 R (205 Fr.). Ausgaben hat er nur wenige. Seinen Verdienst schickt er zum grossen Teil der Familie in Uttar Pradesh. Wie unterscheidet sich das Leben im Dorf von dem in Dharavi? Der Mann, der ein verschlissenes lila Hemd und Jeans trägt, blickt kurz auf und sagt: «Ich mag das Dorf, aber nicht zum Arbeiten.» Neun Monate schuftet er praktisch ohne freien Tag. Einzig in den Sommermonaten, wenn der Monsun die Wirtschaftsmetropole im Süden erreicht, fährt er mit dem Zug mehrere tausend Kilometer in den Norden zur Familie.

Einige Gassen weiter, beim Recycling von Papier, treffen wir Nafees Khan. Auch er stammt aus Uttar Pradesh, dem Kernland von Modis hindu-nationalistischer BJP. Es hat mit 200 Mio. Einwohnern beinahe so viele Einwohner wie Brasilien. Khan folgte dem Ruf von Bekannten und zog in den neunziger Jahren nach Mumbai. Er begann als Hilfsnäher, wechselte später ins Papiergeschäft. Inzwischen beschäftigt Khan – seine Zähne sind vom Betelnuss-Kauen gerötet – zehn Mitarbeiter. Sie tragen aus einem Wellblechverschlag Kartonbündel und türmen sie auf die offene Ladefläche eines Lastwagens. Zuoberst sitzt einer, der das schier Unmögliche schafft: nochmals eine Schicht draufzulegen. Auf einer Kiste erkennt man den Werbespruch des chinesischen Elektronikherstellers Xiaomi: «Always believe that something wonderful is going to happen» – glaube immer daran, dass etwas Grossartiges geschehen wird. Die Verpackung gehörte zu einem superflachen Fernseher, wie er in einem «condominium» im Finanzzentrum BKC stehen könnte.

Khans Geschäftsmodell ist simpel: Karton, der bei Privaten und Unternehmen eingesammelt wird, sortieren, bündeln und dann an eine Papierfabrik in Gujarat weiterverkaufen. Zur Marge, die er erzielt, will sich Khan, kein Mann der vielen Worte, nicht äussern. Aber sein Hinweis, dass er in Dharavi ein Haus kaufen konnte, verrät viel. Der Immobilienboom im BKC hat nämlich auf Dharavi abgefärbt und die Preise nach oben getrieben. Die These hingegen, dass jeder, der im Slum hart arbeitet, den Sprung vom Habenichts zum kleinen Entrepreneur schafft und der Armut entrinnt, mutet wie ein Mythos an. «Es gibt Erfolgsgeschichten – aber sie sind rar, vielleicht 1 von 1000», sagt Vinod Shetty, Arbeitsrechtler und Direktor der Acorn Foundation, die Abfallsammlern zu besseren Arbeitsbedingungen verhelfen will.

Wer in Dharavi lebt und arbeitet, darf nicht zimperlich sein: Ein Abfallsammler sucht einen schwimmenden Müllteppich nach Altplastik ab.

Wer in Dharavi lebt und arbeitet, darf nicht zimperlich sein: Ein Abfallsammler sucht einen schwimmenden Müllteppich nach Altplastik ab.

Rafiq Maqbool / AP

Shettys Einschätzung deckt sich mit wissenschaftlichen Analysen. Tendierten Ökonomen lange dazu, sich auf die Chancen zu fokussieren, die Slums den Arbeitsmigranten bieten, zeigen empirische Studien, dass viele dort steckenbleiben. Statt zum Sprungbrett für den sozialen Aufstieg führen die Hüttensiedlungen in eine Sackgasse. Autoren des Massachusetts Institute of Technology (MIT) fanden etwa heraus, dass in der indischen Millionenstadt Kolkata 40% der Slumbewohner schon seit drei Generationen in Hüttensiedlungen ausharren.

Wieso ist das so? Viele schaffen es nicht, Kapital anzusparen. Ihr Salär fliesst an die zurückgebliebenen Familienmitglieder. Und selbst wenn sie etwas auf die hohe Kante legen können: In der informellen Welt von Dharavi etwa wäre es für Neuzuzüger wenig sinnvoll, in eine Werkstatt zu investieren. Die Behörden wollen verhindern, dass sich der Slum ausbreitet, und erkennen daher nur Besitzansprüche von Bewohnern an, die sich vor 2001 in Dharavi niedergelassen haben. Unbestritten scheint freilich, dass praktisch jeder Mann – Frauen sieht man nur wenige – in Dharavi seine Lebensumstände verbessern kann. Dies erklärt die unwiderstehliche Anziehungskraft Mumbais, wo mehr als die Hälfte der rund 14 Mio. Einwohner in irregulären Siedlungen haust.

Gratiswohnung – ein Danaergeschenk?

Seit den 1980er Jahren versprechen Politiker, Dharavi zu entwickeln. Nicht wegen der haarsträubenden Zustände in toxischen Schmelzöfen oder in Hinterzimmer-Färbereien. Solches hat Indiens Elite noch nie gross gestört. Treibende Kraft sind die Interessen der Immobilienbranche. Gemäss dem jüngsten Entwicklungsplan des Gliedstaats Maharashtra soll das Meer der Hütten modernen Wohntürmen weichen. Bewohner, die vor 2001 nach Dharavi gezogen sind und jetzt einem Umzug zustimmen, würden mit einer Gratiswohnung entschädigt. So sah es eine öffentliche Ausschreibung vor. Bekommen hat den Bauauftrag ein Konsortium, das von der Herrscherfamilie der Vereinigten Arabischen Emirate mitfinanziert wird. Mikrounternehmer stehen vor einer schwierigen Wahl: Sie würden zwar Wohnfläche erhalten, die sie künftig veräussern dürften, aber sie verlören ihren Fabrikraum. Leer ausgehen würden all jene, die nach 2001 ihre Zelte in Dharavi aufgeschlagen haben.

Ein Labyrinth aus Wellblechverschlägen, Garküchen und Werkstätten.

Ein Labyrinth aus Wellblechverschlägen, Garküchen und Werkstätten.

EPA

Ob dem jüngsten Entwicklungsprojekt mehr Erfolg beschieden sein wird als den zahlreichen Vorgängern, weiss niemand. Unklar scheint auch, was mit den Hunderttausenden von Slumbewohnern ohne Kompensationsansprüche passieren würde. Beobachter rechnen mit Vertreibungen. «An dieser heissen Kartoffel will sich kein Politiker die Finger verbrennen», sagt der Jurist Shetty. Zudem steckt die Umsetzung des Entwicklungsplans wegen eines Rechtsstreits mit dem Gewinner der Ausschreibung fest. Die Behörden schraubten nach der Vergabe des Auftrags an den Projektauflagen herum. Das Konsortium aus den Emiraten hat inzwischen rechtliche Schritte eingeleitet. Nicht zum ersten Mal stellt Indien sein Talent unter Beweis, ausländische Investoren mit regulatorischen Überraschungen zu vergraulen.

Bequemer Status quo

Von ökonomischer Warte aus betrachtet stellt sich die Frage, ob Dharavi der richtige Ort ist, um Telefone zu zerlegen oder Eingeweide von Schafen; als würde man am Paradeplatz Lastwagen warten oder in der Londoner City Biskuits produzieren. In funktionierenden Marktwirtschaften verbleiben an den teuren Zentrumslagen Luxusgütergeschäfte und Finanzdienstleister, aber nicht das Kleingewerbe. In Dharavi profitieren indes die unterschiedlichsten Interessengruppen vom Status quo. Die Bürokratie lässt sich fürstlich bezahlen: Nur wegen der hohen Bestechungsgelder liessen sich Arbeitsinspektoren nie in der Slumökonomie blicken, meint der Jurist Shetty.

Kommt hinzu, dass Dharavi weit mehr ist als eine Ansammlung von Kleinbetrieben und ihren Arbeitern. Im «Wohnsektor» schwärmen jeden Morgen Hausmädchen, Köche, Gärtner, Chauffeure und Liftboys aus, ohne die Indiens Mittel- und Oberschicht nicht auszukommen glaubt. Verschwände Dharavi, würden Zehntausende ihre Unterkunft verlieren. Das wollen auch die Herrschaften nicht. Zudem nutzt die formelle Wirtschaft, die auf der anderen Seite der Brücke wirkt, ebenfalls Dienste des informellen Sektors. Was in Dharavi unter manchmal fragwürdigen Bedingungen hergestellt wird, landet auf der nächsten Verarbeitungsstufe auch bei reputierten indischen Industrieunternehmen.

Nach dem Rundgang durch Dharavi, mitten auf der Brücke, die zurück ins Finanzzentrum BKC führt, wird einem klar: Die beiden äusserlich so radikal unterschiedlichen Welten haben mehr miteinander zu tun, als es zuerst den Anschein machte. Das bedeutet freilich nicht, dass sie sich annähern. In Indien sind Slums nämlich nicht bloss ein Phänomen des Übergangs auf einem Entwicklungspfad, welcher der nächsten Generation den Einstieg in den formellen Wohnungs- und Arbeitsmarkt bereitet. Trotz robustem Wirtschaftswachstum seit der Liberalisierung der indischen Wirtschaft in den 1990er Jahren sind im Schwellenland die Slums gewachsen – und damit deren ökonomische Bedeutung.

Von Mumbai zurück nach Zürich

pfi. Mit dieser Reportage aus dem Slum von Mumbai und ihrer eindrücklichen Analyse der Ökonomie von Indiens Armen verabschiedet sich Marco Kauffmann Bossart (kam.) von Südasien und von der NZZ-Leserschaft. Sprachgewaltig, mit scharfem Blick und ökonomischem Sachverstand hat er seine Leser auf zahlreiche Reisen zuerst durch Südostasien (2010–14), dann durch die Türkei und Südosteuropa (2014–2018) und schliesslich Indien mitgenommen. Von den rasenden Jihadisten und Dealern aller Art im Flüchtlingslager an der türkischen Grenze bis zum modernen IT-Backoffice der UBS im indischen Pune, Marco Kauffmann korrespondierte nicht nur zu seinem Berichtsgebiet, er war meist vor Ort, fragte nach und liess daran teilhaben. Nun kehrt er nach Zürich zurück, wo er als Redaktionsleiter Ausland zum Radio SRF wechselt. Die Redaktion wünscht ihm alles Gute.