Der Staat steht davor, sich neu zu erfinden

Was soll er? Was kann er noch? Was muss er? Der moderne westliche Staat steckt in der womöglich grössten Legitimationskrise seit seiner Entstehung. Und es stellt sich ernsthaft die Frage, welches Modell auf das heutige folgt.

Hans Ulrich Gumbrecht
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Da war Amerikas Aufstieg zur Weltmacht schon zum Greifen nah: die Inauguration von Präsident Woodrow Wilson im März 1913 vor dem Capitol.

Da war Amerikas Aufstieg zur Weltmacht schon zum Greifen nah: die Inauguration von Präsident Woodrow Wilson im März 1913 vor dem Capitol.

Hulton / Getty

Der Staat ist ins Gerede gekommen. Noch nie wurde dies so deutlich wie bei der gerade vergangenen Jahreswende mit ihrem Impuls, die Themen und Fragen der Gegenwart auf Begriffe zu bringen. In kaum einem der üblichen Zukunftswünsche von meinen liberalen amerikanischen Landsleuten fehlte der Zusatz «but without Trump» – und bezog sich natürlich nicht nur auf die Person des Präsidenten, sondern auch auf seinen Stil, den Staat wie ein Geschäft zu führen.

Kurz nach Neujahr verwies die «Süddeutsche Zeitung» mit ausführlicher Larmoyanz auf die Kratzer im einst stolzen Bild ihres Staats: Mangel an Polizisten, Lehrern, Richtern, Pflegepersonal und Sozialwohnungen; Schwimmbäder- wie Theatersterben; und natürlich die zum Normalfall gewordenen Streckenschliessungen und beständigen Verspätungen bei der Bahn im Land.

Geradezu staatstragend reagierte die spanische Grossbank BBVA auf die Krise des Staats: Das intellektuell anspruchsvolle Buch, mit dem sie sich jährlich bei besonders geschätzten Kunden bedankt, rückte die epochale Notwendigkeit in den Vordergrund, den Vertrag des Staats mit der Gesellschaft neu auszuhandeln. Und dabei liess das Geldinstitut eine Sehnsucht nach Philosophen anklingen, die mit hinreichend Kompetenz und Autorität ausgestattet sind, um unserem ratlosen elektronischen Zeitalter ethische Orientierung zu geben.

Der Staat, die moderne Obsession

In historisch langfristiger Sicht wirkt solche Aufregung jedoch nicht wie die Ausnahme. Schon kurz nach 1800 hatte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte festgestellt, dass «über nichts mehr geschrieben, gelesen und gesprochen worden ist als über den Staat». Damals stand der für uns bis vor kurzem unvordenkliche Staat in gleichsam jugendlicher Bewegung. Er war als Reaktion auf das tödliche Chaos der nachreformatorischen Religionskriege mit der Aufgabe entstanden, die Souveränität und Stabilität von Regierungen an jeweilige Territorien zu binden.

Diese Form verbanden dann die bürgerlichen Revolutionen mit dem im 19. Jahrhundert normativ werdenden Paradox vom Volk, das zugleich Herrscher und Untertan sein sollte – und nichts anderes bedeutet seither Demokratie. Darüber hinaus aber – und dies genau sah Fichte – hat es nie wieder einen Konsens über die Definition des Staates gegeben.

Gewiss, das Volk sollte als sein eigener Herrscher regieren durch regelmässig gewählte Vertreter («Repräsentanten»), deren möglichen Machtmissbrauch das Prinzip der zeitlichen Amtsbefristung und der Gewaltenteilung blockierte. Grundsätzlich ungeklärt und heiss diskutiert blieben allerdings zwei Fragen. Erstens, ob der Staat durch eine übergreifende Funktionszuweisung («Wohlfahrt», «Klassenherrschaft») oder allein über seine spezifischen Instrumente (etwa das «Gewaltmonopol») zu bestimmen sei. Und zweitens, ob als sein Kern die Nation, das Recht oder die Debatten der Öffentlichkeit zu gelten hätten.

Die beiden Modelle im 20. Jahrhundert

Erst nach 1945 fanden zwei durchaus verschiedene Auffassungen vom Staat derart breite Zustimmung in der westlichen Welt, dass sie zu selbstverständlichen Vorgaben des sozialen Alltags und der Politik wurden.

Einerseits das amerikanische Modell, dessen Präsidenten sich seit Dwight D. Eisenhower als Agenten einer aktiv handelnden Weltmacht verstanden und innenpolitisch kaum über die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit hinausgehen wollten. Im Europa vor dem Eisernen Vorhang bildete sich andererseits – zuerst wohl in Skandinavien und weitgehend unabhängig von den jeweils regierenden Parteien – ein neuer Typ des Sozial- und Wohlfahrtsstaats heraus, der der Öffentlichkeit als Medium politischer (und nicht selten sogar moralischer) Willensbildung eine wachsende Zentralstellung einräumte. Mit regionalen Varianten übernahm dieser Staat eine zuvor kaum vorstellbare Vielfalt von Dienstleistungen, die aufgrund ihres Totalanspruchs kaum mehr als blosse Funktion zu umreissen war: von Sicherheit und Medizin über Bildung und Forschung bis zum öffentlichen Verkehr und zu den Kommunikationsmedien.

Zugleich legte sich der überaus grosszügige Staat aber Zurückhaltung im Verhältnis zur Privatsphäre seiner Bürger auf. Wenn vergleichsweise hohe Steuerforderungen (mit anderen Worten: drastische Umverteilungsmassnahmen durch den Staat) schon unvermeidlich waren, so blieben Verpflichtungen im Militärdienst oder andere Solidaritätsbeiträge eher begrenzt – und selbst Begeisterung für das eigene Gemeinwesen wirkte bald wie ein problematisches Relikt aus nationalistischen Zeiten. So steil stieg die Erfolgskurve von Sozialstaaten dieses Typs, dass sie den Entwurf eines Überstaats inspirierten, der bald als Europäische Union Gestalt annahm und sich bis zur Jahrtausendwende in neuen gemeinsamen Verwaltungsstrukturen und Gesetzeshorizonten scheinbar unaufhaltsam ausdehnte.

Die Probleme der Modelle

Jene beiden Erfolgsmodelle – und damit die westliche Staatlichkeit an sich – werden mittlerweile in den USA wie in Europa von immer mehr Bürgern als prekär, wenn nicht sogar als obsolet erlebt. Was genau die wohl weiter bestehende knappe Mehrheit amerikanischer Wähler an Trumps Auffassung vom Staat (oder gerade an das Fehlen eines solchen Verständnisses) bindet, ist zumal aus europäischer Perspektive schwer zu fassen. Viele von ihnen haben auf eine Entwicklung der ehemaligen Weltmachtrolle hin zu blossen Vermittlungsfunktionen mit einem Bedürfnis nach Rückkehr zu nationalen Interessenprioritäten reagiert («make America great again»). Zugleich waren solche Bürger – besonders unter Clinton und Obama – wohl nicht einverstanden mit Bestrebungen der innenpolitischen Annäherung an den europäischen Wohlfahrtsstaat und dem daraus folgenden Anwachsen der Verwaltung («Wohlfahrtsstaat»).

Noch deutlichere Konturen haben die Probleme des europäischen Wohlfahrtsstaats. Vor allem lässt sich die über Jahrzehnte akkumulierte Anzahl von Staatsfunktionen angesichts von wahren Kostenexplosionen in mehreren Bereichen (Medizin, Bildung) nicht mehr finanzieren über immer höhere Steuerforderungen an Bürger, die doch gerade ermutigt worden sind, ihre eigenen Interessen über kollektive zu stellen. Die innenpolitische Situation in Macrons Frankreich illustriert, dass aus solchen – staatsabhängigen – Bürgern aggressive Feinde des Staates werden, sobald er sich aus der übergreifenden Versorgerfunktion zurückzuziehen sucht. Strukturell Analoges gilt europaweit für Streiks und Proteste gegenüber dem (unter solchen Bedingungen als neoliberal kritisierten) Staat, wenn er als Arbeitgeber seine Beamtenheere durch den Einsatz neuer Technologien verschlanken will. Sollte die Entwicklung des Begriffs «neoliberal» zum Schimpfwort ohne Bedeutungsalternativen andeuten, dass man vom Versorgerstaat nun auch noch (oder wieder) moralische Orientierung erwartet?

Ein nicht primär finanzielles Problem hat tatsächlich mit dem früher so erfolgreichen Konsensmanagement des Staats in Europa zu tun. Er traut sich einerseits weiter zu, (etwa ökologische) Werte zu identifizieren und per Gesetzgebung verbindlich zu machen. Andererseits hat die Bereitschaft, solche Orientierungen «von oben» zu übernehmen, in der Wissensgesellschaft abgenommen. Denn diese hat ja die Bürger in der Überzeugung bestärkt, selbst die Rolle von kompetenten und entscheidungsfähigen Experten spielen zu können. Auch in Europa greifen also tiefgreifende Krisen der politischen Repräsentation um sich.

Was kommt danach?

Eine Rückkehr zu den Glanzzeiten des amerikanischen Weltmachts- und des europäischen Wohlfahrtsstaats scheint aus vor allem finanziellen (Europa) und aus ideologiepolitischen Gründen (Vereinigte Staaten) durchaus unwahrscheinlich.

Selbst unter Intellektuellen wirbt kaum jemand mehr für eine linke Neuauflage des Staatssozialismus. In der Volksrepublik China hat der Staat die zurückgenommenen ideologischen Konturen nicht durch Ausrichtung an einer Öffentlichkeit, sondern durch eine allgegenwärtige, elektronisch optimierte Überwachungsmaschinerie ersetzt, auf deren Effizienz sich noch kein Europäer oder Amerikaner einlassen will (obwohl ihr Einsatz etwa bei der Kontrolle des Alkoholkonsums bereits zur Diskussion steht).

Auf der rechten Gegenseite scheinen Staaten mit Autoritätsansprüchen aus ferner Vergangenheit zu entstehen. Jair Bolsonaro betreibt mit der Zerschlagung aller bestehenden Staatstrukturen eine brasilianische Kulturrevolution, um Platz für seine Vision eines evangelistischen Reichs zu schaffen. Dabei folgt er, ohne es zu wissen, dem Weg der Mullahs bei der Etablierung der islamischen Republik in Iran, die freilich aufgrund ihrer weltpolitischen Strategien die strukturelle Nähe zum sozialistischen Totalitarismus deutlicher werden lässt. Eine ganz andere Rechte findet mittlerweile in Europa mit einer Rückkehr von der debattierenden Öffentlichkeit zur homogenen Atmosphäre der Nation vor allem bei Wählern Resonanz, die im Sozialismus aufgewachsen sind. Offenbar bringt das überlieferte Feld der Zuordnungen von politischen Positionen zwischen rechts und links immer neue Unschärfen hervor – und beginnt zu kollabieren.

Neue, nicht nur umgebaute Begriffe von Staatlichkeit sind bisher – selbst auf der vorpolitischen Ebene von Diskussionen – diffus und formlos geblieben. Wie soll man sich einen grünen Zukunftsstaat vorstellen, der zum Ziel hat, die nachhaltige Existenz der Menschheit auf dem Planeten zu sichern – und doch nicht in eine Art moralisch erhabener Ökodiktatur abdriften will? Existiert eine Möglichkeit, libertäre Phantasien von der Privatisierung vieler Staatsfunktionen umzusetzen, ohne dass sie zur Aushöhlung von Staatlichkeit als solcher und also zu chaotischen Verhältnissen führen?

Solange die westlichen Erfolgsformen von Staatlichkeit – als Auslaufmodelle – überleben, läuft die Diskussion solcher Fragen als eine intellektuell faszinierende Übung. Doch bald schon könnte ein Bedarf an praktisch konsensfähigen Antworten entstehen.

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und Reaktionen» (Reclam, 2019) erschienen.