Egal, wo die Geflohenen von Hasaka letztlich unterkommen – Erdogan ist schon jetzt der Gewinner

Hunderttausende Kurden, Araber und Aramäer sind aus dem Norden Syriens vor der Offensive der Türkei geflohen. Auch drei Monate nach der Intervention sitzen noch Tausende in improvisierten Lagern fest. Den Weg nach Europa werden die wenigsten finden.

Ulrich Schmid, Camp Washo Kani
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Zehntausende Menschen hat die Offensive der Türkei im Oktober zur Flucht gezwungen. Viele trauen sich nicht zurück in ihre Häuser und leben nun unter prekären Bedingungen in öffentlichen Gebäuden.

Zehntausende Menschen hat die Offensive der Türkei im Oktober zur Flucht gezwungen. Viele trauen sich nicht zurück in ihre Häuser und leben nun unter prekären Bedingungen in öffentlichen Gebäuden.

Muhammad Hamed / Reuters

Die Kinder sind nicht unterzukriegen. Sie lachen, wenn man sie begrüsst, sie lachen, wenn man sie etwas fragt, und auch wenn sie sich anfangs noch etwas geniert winden, fassen sie rasch Zutrauen. Wenn die Grösseren sich vordrängen, um besser zu sehen und ihre Tricks zu zeigen, dann stellen sich die Kleineren im hinteren Glied auf die Zehenspitzen, und in ihren Gesichtern spiegelt sich jedes Stirnrunzeln und jedes Grinsen. Man könnte meinen, die Kinder in der Bilal-bin-Raba-Schule im nordsyrischen Hasaka hätten es ganz gut. Und wenn man sie fragt, ob es ihnen gutgehe, dann schreien sie auch: «Ja, klar!»

Doch geht es ihnen tatsächlich gut? Nicht wirklich. Die Kinder in der Bilal-bin-Raba-Schule lernen nicht, sie leben als Flüchtlinge in dem Schulgebäude in Hasaka. Der türkische Vorstoss auf Rojava, das lange faktisch autonome Gebiet der Kurden im Nordosten Syriens, hat sie im Oktober in die Flucht getrieben. Sie sind gekommen mit ihren Geschwistern, Eltern und Grosseltern, bei Nacht und Nebel, manchmal mit etwas Habe, meist aber mit nichts als ihren Kleidern.

Eine humanitäre Katastrophe

Hasaka ist traditionell eine gemischte Stadt. Hier leben Aramäer, Kurden, Araber und Armenier, hier pflegt man eine wohltuende, zivilisierte Distanz zu jeder Form des Fanatismus. Keiner fragt die Flüchtlinge aus dem Norden nach ihrem Glauben. Es ist egal, ob sie Muslime sind oder Christen, und wäre ein Jude unter ihnen, dann wäre selbst das wohl egal, denn in Hasaka mögen sie Juden, da Israel das kurdische Autonomieprojekt unterstützt.

Die Menschen in Hasaka, auch die Flüchtlinge, fürchten die türkischen Truppen und die Glaubensfanatiker wie die 5000 gefangenen Jihadisten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die in derselben Stadt, nur ein paar Kilometer entfernt, in einem improvisierten Gefängnis sitzen, jederzeit bereit auszubrechen, um erneut für ihr Kalifat zu kämpfen und die Ungläubigen so schnell wie möglich der Hölle zuzuführen.

In jeder fünften Schule von Hasaka sind Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet zur Türkei einquartiert worden, die vor der Offensive der türkischen Armee und ihrer syrischen Verbündeten geflohen sind.

In jeder fünften Schule von Hasaka sind Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet zur Türkei einquartiert worden, die vor der Offensive der türkischen Armee und ihrer syrischen Verbündeten geflohen sind.

Muhammad Hamed / Reuters

In der Bilal-bin-Raba-Schule leben 18 Familien, 86 Menschen insgesamt. In etwa jeder fünften Schule von Hasaka sind provisorisch Flüchtlinge untergebracht. Die Kinder der Stadt müssen in andere Schulen gehen. Über 200 000 Menschen waren im Oktober vor der türkischen Armee und verbündeten syrischen Rebellenmilizen aus dem Norden geflohen. Auch drei Monate später sind nach Uno-Angaben 70 000 der Vertriebenen nicht in ihre Häuser zurückgekehrt, 17 000 von ihnen leben in provisorischen Unterkünften. Die humanitäre Lage ist desaströs.

Der Bauer Mahmud Ahmed Habschu hat alles verloren.

Der Bauer Mahmud Ahmed Habschu hat alles verloren.

NZZ

Mahmud Ahmed Habschu lächelt dennoch. Der Kurde ist 60 Jahre alt, Bauer aus der Gegend von Ras al-Ain, das die Kurden Sere Kaniye nennen, unmittelbar an der türkischen Grenze. Er hat alles verloren, als die Türkei am 10. Oktober ihre Bombardements aufnahm, «alles ausser meiner Familie». Nie hätte er gedacht, dass die Türkei zu so etwas fähig sei. Fünf Hektaren Baumwollfelder hat er beackert, er pflanzte Weizen, besass 2 Kühe, 15 Schafe und 20 Hühner. Das alles liess er zurück, als «plötzlich diese Flugzeuge kamen» und alles in Schutt und Asche legten.

Wer melkt nun die Kühe, wer schaut nach den Schafen, den Hühnern? Mahmud Ahmed Habschu blickt in die Ferne, seine Lippen arbeiten, man sieht, der Gedanke an die verlassenen Tiere tut ihm weh. Aber er bewahrt Fassung, und als er sich dem Frager wieder zuwendet, lächelt er sogar. «Noch einen Tee?» Habschu macht kein Aufheben von sich. Hier, in Syrien, kennt man Begriffe wie «Lebensplanung» nicht. Über Habschu ist der totale Ruin hereingebrochen, aber er wirkt gelassen und würdig, ja stolz. Er weiss sein Leben in Allahs Hand.

Ob der Bauer Habschu auch weiss, dass er seinen Boden vermutlich nie mehr sehen wird, ist schwer zu sagen. Was er versteht, gut versteht: dass er auf Hilfe angewiesen ist. Natürlich sucht er Arbeit, natürlich findet er keine, «wer will schon einen alten Mann?». Was tun? Früher war er glücklich. In Sere Kaniye war alles wunderbar. Einen Dollar bekam er für ein Kilo Baumwolle, und jetzt? Ein Sohn schickt etwas Geld, von ihm leben sie alle.

Im Lager waten die Kinder im Schlamm

In der Bilal-bin-Raba-Schule ist es trocken und warm. Doch draussen vor den Toren Hasakas, im Camp Washo Kani, waten die Flüchtlinge durch Schlamm und leben in Zelten. Wenn die Sonne scheint, ist es noch leidlich warm, aber die Winter in Nordsyrien können eiskalt werden. Auch Alia Abdul Rasak Mallakudr lebt mit ihrer Familie in dem Lager. Die 35-jährige arabische Syrerin ist aus dem Dorf Umm al-Khir in der Nähe von Suluk hierher geflohen. Ihre vier Kinder spielen im Dreck, ihr Mann, ein Motorrad-Mechaniker, ist in Hasaka auf Arbeitssuche.

Alia Abdul Rasak Mallakudr zog mit ihrer Familie in das Lager.

Alia Abdul Rasak Mallakudr zog mit ihrer Familie in das Lager.

NZZ

«Wir sind unglücklich», sagt Alia und lacht das Lachen, das dem andern die Last des Betroffenseins abnehmen soll. «Die Zelte sind schlecht. Das Essen ist schlecht. Alles ist nass. Alles ist kalt, es ist furchtbar. Aber ich beklage mich nicht. Hier ist wenigstens Frieden.» Sie floh, als die türkische Offensive begann. Erst ging die Familie zu Verwandten, dann, am 19. November, kam sie in das Lager. «Ich bin eine einfache Frau», sagt Alia. Sieben Jahr Schulbildung hat sie, sie kann lesen, schreiben und rechnen. Doch eine imposantere Figur kann man sich nicht vorstellen, so, wie sie vor ihrem Zelteingang steht, ihr Kleinstes auf dem Arm, gelassen und würdevoll wie der Bauer Habschu. Die Araberin wäre bereit zurückzugehen, wenn es die Lage zuliesse – selbst unter der Kontrolle der Türkei. Sie sehnt sich nach ihrem Haus, von dem sie nicht weiss, ob es noch steht, und möchte die Kinder zur Schule schicken.

Shahah Kadr gesteht ihren Hass gegenüber den Türken.

Shahah Kadr gesteht ihren Hass gegenüber den Türken.

NZZ

Die 23-jährige Kurdin Shahah Kadr hingegen würde wie die meisten anderen Geflohenen niemals zurück in ein Gebiet gehen, das von der Türkei beherrscht wird. Die junge Frau ist mit ihren Söhnen Jabr und Ibrahim aus der Gegend von Sere Kaniye gekommen. Sie hasse die Türken, sagt sie und tritt sie dabei symbolisch in den Matsch. Die Türken seien «keine Menschen». Sie bombardierten, wen und was sie wollten. Ihr graut aber auch vor den syrischen Handlangern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wie der Sultan-Murad-Brigade, die bei den Kämpfen die Drecksarbeit geleistet hat und der schwere Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden.

Auch drei Monate nach dem Ende der Kämpfe leben noch immer 17 000 Flüchtlinge verteilt auf 79 Sammelunterkünfte. Weitere 53 000 Vertriebene sind bei Verwandten und Freunden untergekommen.

Auch drei Monate nach dem Ende der Kämpfe leben noch immer 17 000 Flüchtlinge verteilt auf 79 Sammelunterkünfte. Weitere 53 000 Vertriebene sind bei Verwandten und Freunden untergekommen.

Muhammad Hamed / Reuters

Die Lagerverwaltung wirkt deprimierter als die Insassen. Vielleicht, weil sie besser vertraut ist mit den Problemen, die noch kommen werden. Geöffnet ist das Camp seit dem 12. November, längst platzt es aus allen Nähten. Kurden und Araber stellen je etwa die Hälfte der Flüchtlinge. 440 Menschen sind krank, die meisten von ihnen behindert. Drei Monate nach der türkischen Invasion leben nach kurdischen Angaben noch 6600 Menschen in dem Lager. Nahrungsmittel, Trinkwasser, Zelte, Kochgelegenheiten und Medikamente liefert der Kurdische Rote Halbmond, die Verwaltung von Rojava stellt die Fahrzeuge.

Direktor des Lagers Faiz Ibrahim.

Direktor des Lagers Faiz Ibrahim.

PD

Der Lagerdirektor Faiz Ibrahim ist müde und überarbeitet. Es ist, als raube ihm die Monumentalität seiner Aufgabe die Kraft. «Es gibt keine internationale Hilfe», sagt er, und mit einem Mal ist da ein böser Klang in seiner Stimme, etwas zwischen Hilflosigkeit, Zynismus und Aggression. «Wir bitten die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Hier bahnt sich eine Katastrophe grösseren Ausmasses an.» Für Faiz Ibrahim haben die Türkei und die USA gleichermassen Schuld an der Lage.

Für die Flüchtlinge trägt Trump eine Mitschuld

Fragt man die Flüchtlinge von Hasaka nach den grössten Bösewichten der Region, fällt als Erstes der Name Erdogans. Er ist in Rojava einmarschiert, er will den kurdischen Traum der Eigenstaatlichkeit zerstören, er geht über Leichen. Doch noch in demselben Atemzug wird auch meist schon Donald Trump genannt, der mit der Ankündigung des amerikanischen Rückzugs die Offensive der Türken erst möglich gemacht hat. Und Putin? Welche Rolle spielen die Russen im tragischen nordsyrischen Theater? Sie stehen aufseiten Asads, des syrischen Schlächters, der mit ihrer und Irans Hilfe nicht nur den IS schwächte, sondern auch so manche moderate Oppositionsgruppe.

Prekäres Nebeneinander: In diesem Gebäudekomplex nahe der Ortschaft Amuda hat sich ein Kontingent russischer Soldaten einquartiert. Nicht weit entfernt sind noch immer Amerikaner stationiert.

Prekäres Nebeneinander: In diesem Gebäudekomplex nahe der Ortschaft Amuda hat sich ein Kontingent russischer Soldaten einquartiert. Nicht weit entfernt sind noch immer Amerikaner stationiert.

Ulrich Schmid

In der Ortschaft Amuda nahe der türkischen Grenze, rund 70 Kilometer nördlich von Hasaka, weht die russische Trikolore über einem unauffälligen Gebäudekomplex. Wir klopfen mehrere Male an, doch alle Versuche, die Soldaten Putins zu sprechen, scheitern. Gemäss einem Abkommen zwischen Ankara und Moskau haben die russische Militärpolizei und die syrischen Regierungstruppen im Oktober die Kontrolle über Teile der Grenze zur Türkei übernommen. Auch mehrere Stützpunkte, welche die Amerikaner bei ihrem Rückzug aufgegeben haben, wurden von den russischen Truppen besetzt.

Maslum Kobani Abdi, der Chef der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), wirft Russland vor, faktisch die «ethnischen Säuberungen» der Türkei zu unterstützen. In einem Interview mit dem «New Yorker» sagte er warnend, falls sich die Amerikaner vollständig aus Syrien zurückzögen, dann würde die Türkei die Kurden auslöschen. «Und die Russen spielen dabei eine Rolle.» Russland habe der Offensive der Türkei den Weg geebnet. Denn Ankara wolle die kurdisch besiedelten Gebiete erobern, Moskau die arabischen – für den syrischen Machthaber Bashar al-Asad.

Erdogan will an der Grenze Araber ansiedeln

In der Tat deutet alles darauf hin, dass es das Fernziel Erdogans ist, die vertriebene kurdische Bevölkerung der grenznahen Gebiete durch Nichtkurden zu ersetzen, primär durch Araber oder Turkmenen, wie sie in den Sultan-Murad-Brigaden vertreten sind. Der türkische Präsident hat angekündigt, in den eroberten Gebieten in Nordsyrien einen Teil der 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge anzusiedeln, die derzeit in der Türkei leben. Dafür will er Dutzende Dörfer und mehrere Städte neu bauen. Um sie zu finanzieren, fordert er auch Hilfe von Europa.

Nach Europa werden es die Flüchtlinge von Hasaka kaum je schaffen. Doch egal, wo die Geflohenen letztlich unterkommen – Erdogan ist schon jetzt der Gewinner. Erst kreiert er durch eine völkerrechtswidrige Invasion Hunderttausende Flüchtlinge. Dann lässt er diese durch sein Land passieren, um die politischen Zwiste in Europa weiter zu vertiefen. Oder er lässt sie nicht passieren und kann damit rechnen, für dieses Entgegenkommen von den Europäern weitere fette Boni zu kassieren. Und die Europäer werden sich einmal mehr nicht trauen, ihrem Nato-Kollegen Erdogan in die Parade zu fahren.

Die bitteren Folgen der Invasion der Türkei

uvs. Gut drei Monate nach dem umstrittenen Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien ist die Region aus den Schlagzeilen verschwunden. Doch der Konflikt mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) ist keineswegs zu Ende, und die Wunden der letzten Schlacht sind noch frisch. Von den einst mehr als 200 000 Flüchtlingen sind inzwischen zwar knapp 130 000 in ihre Heimatregion zurückgekehrt. 70 000 sind nach Angaben der Uno aber noch immer vertrieben.

Die türkische Armee war Anfang Oktober nach Nordsyrien eingedrungen, um die YPG von der Grenze zurückzudrängen. Die Regierung in Ankara betrachtet die Präsenz der syrischen Kurdenmiliz an ihrer Südflanke als Bedrohung, da die Gruppe eng verbunden ist mit den kurdischen PKK-Rebellen in der Türkei. Unterstützt wurde Ankara bei der international heftig kritisierten Offensive von syrischen Rebellenmilizen.

Möglich gemacht wurde der schon lange vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan angedrohte Vorstoss durch die Entscheidung von Präsident Donald Trump, die amerikanischen Truppen aus Nordsyrien abzuziehen. Die rund 2000 Soldaten hatten bis dahin die YPG im Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützt. Nach Ansicht Trumps wurden sie aber nicht mehr benötigt, da die Jihadisten besiegt seien.

Eine Woche nach dem Start der Offensive vereinbarte Erdogan mit den USA eine Waffenruhe unter der Bedingung, dass diese den Abzug der YPG aus dem Grenzgebiet garantierten. Kurz darauf schloss die Türkei eine zweite Vereinbarung mit Russland, gemäss der die russische Militärpolizei und die Truppen des syrischen Machthabers Bashar al-Asad die Kontrolle über Teile der Grenze zur Türkei übernehmen.

Die Rückkehr der Asad-Truppen in den kurdischen Nordosten, der seit Jahren über weitgehende Autonomie verfügte, war ein bitterer Schlag für die Hoffnung der Kurden auf Selbstverwaltung. Heute werden Teile der Region von der Türkei und verbündeten syrischen Milizen kontrolliert, andere von der russischen Armee und den Truppen Asads, während in anderen Teilen weiter die YPG und amerikanische Einheiten präsent sind.

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