Gastkommentar

Seuchen: Sündenböcke gesucht

Die zum Teil absurden und heftigen Reaktionen seit dem Auftreten des neuen Coronavirus erinnern an frühere Seuchen: Stets werden Sündenböcke gesucht, rasch wird das «Fremde» verteufelt.

Duncan McLean
Drucken
Notspital in der Nähe von Kansas, als 1918 die «Spanische Grippe» wütete.

Notspital in der Nähe von Kansas, als 1918 die «Spanische Grippe» wütete.

National Museum of Health / AP

Anfang März 1900 war der China-Amerikaner Chick Gin in San Francisco das erste Opfer der Beulenpest auf dem amerikanischen Festland. Die Mikrobiologie steckte noch in den Kinderschuhen, und die Todesursache konnte nicht sofort bestätigt werden. Politiker und Gesundheitsbehörden ergriffen dennoch bereits Massnahmen, die bis in die heutige Zeit nachhallen.

Aus Angst vor den Folgen, die eine solche Krankheit für die Wirtschaft hätte haben können, bestritt der kalifornische Gouverneur die Existenz der Pest – was ihn jedoch nicht daran hinderte, über die dortige Chinatown Quarantäne zu verhängen. Wohnhäuser und Geschäfte von Nichtasiaten im selben Gebiet waren aber davon ausgeschlossen. Alle Chinesen (und Japaner), die die Stadt verlassen wollten, mussten sich mit einem experimentellen Impfstoff impfen lassen. Dieser Pestimpfstoff war 1897 vom Bakteriologen Waldemar Haffkine entwickelt worden und konnte heftige Reaktionen auslösen.

Panik verstärkt Vorurteile

Chinesische Immigranten mögen damals als «tickende Zeitbomben» bezeichnet worden sein, doch dass Krankheiten mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Verbindung gebracht werden, hatte schon viel früher begonnen und beschränkte sich nicht auf Amerika. Schon seit je suchte man gerne bei Minderheiten nach einem Sündenbock. Die Panik, die jeweils bei neuen oder missverstandenen Krankheiten ausbrach, verstärkte diese Vorurteile nur noch weiter.

Das archetypische Beispiel für das Suchen nach einem Sündenbock im medizinischen Bereich sind die Verfolgungen von europäischen Juden und die Massaker an ihnen während der Zeit des Schwarzen Todes. Während man im Mittelalter zunächst Leprakranken und Landstreichern vorwarf, Brunnen zu vergiften, gab man später den Juden die Schuld dafür, was dazu führte, dass ganze Gemeinschaften ausgelöscht wurden. Siebenhundert Jahre später wurde erneut eine Krankheit zur Diffamierung der Juden benutzt: Während des Holocaust wurden sie für den Ausbruch des Fleckfiebers verantwortlich gemacht, eine durch Körperläuse übertragene Krankheit.

Das Auftreten der Syphilis im Neapel des späten 15. Jahrhunderts führte zu einem bizarren Streit über den Ursprung der Seuche. Während sich die Krankheit zunächst in Europa und schliesslich durch die Seefahrer in der ganzen Welt verbreitete, zeugte die Namensgebung von den jeweiligen Rivalitäten. So war es die «neapolitanische Krankheit» für die Franzosen, die «Franzosenkrankheit» für die Italiener. Die Russen gaben den Polen die Schuld, die Holländer den Spaniern und die Japaner den Chinesen. Die Türken nahmen es weniger genau: Für sie war es schlicht die «Christenkrankheit».

Diese gegenseitige Schuldzuweisung auf nationaler Ebene konnte als grotesk bezeichnet werden, doch als man die Erkrankung später mit benachteiligten Frauen in Verbindung brachte, hatte dies schwerwiegendere Folgen. So liessen im Grossbritannien des 19. Jahrhunderts die Contagious Diseases Acts (Gesetze über ansteckende Krankheiten) die Verhaftung und anschliessende Zwangsbehandlung von Prostituierten (auch vermeintlichen) zu. Dies mit dem Ziel, die innerhalb des Militärs grassierenden Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen.

Auch die Cholera hat ihren Platz in der Geschichte des Sündenbockdenkens: Die ärmsten und am stärksten benachteiligten städtischen Gebiete waren stets am anfälligsten für die Seuche, so dass die über das Wasser übertragene Krankheit schnell mit den unteren Schichten assoziiert wurde. Diese Assoziation wurde später auf Immigranten übertragen, selbst als man bessere Kenntnisse über die Ansteckungswege hatte.

Hass und Seuchen

In der heutigen Zeit werden soziale Randgruppen und Minderheiten wegen Krankheiten sicherlich nicht mehr im gleichen Ausmass verfolgt; gegen Gewalt und Diskriminierung sind sie dennoch nicht gefeit. Ein Paradebeispiel dafür war in den 1980er Jahren die Ausgrenzung der «4 Hs» – Homosexuelle, Heroinabhängige, «haemophiliacs» (Bluter) und Haitianer –, die alle zu den HIV-Risikogruppen gehörten. 2010 wurden in Haiti Voodoo-Priester gelyncht, nachdem Gerüchte aufgetaucht waren, sie hätten das Wasser mit Cholera-Pulver vergiftet. Erst später übernahmen die Vereinten Nationen die Verantwortung für den Choleraausbruch.

Ein noch jüngeres Beispiel sind all die Gerüchte und Falschinformationen rund um Ebola, die zuerst in Westafrika und jüngst auch in der Demokratischen Republik Kongo den Tod von Gesundheitspersonal herbeigeführt haben.

Und nun eben das neue Coronavirus: Die teilweise heftigen Reaktionen lassen durchaus Vergleiche mit der Vergangenheit zu und sind weder bei der Bekämpfung der Krankheit noch bei der Eindämmung der damit einhergehenden Panik hilfreich. Auch wenn sich bei dieser Verbindung von Hass und Seuchen kein Muster ausmachen lässt, erfolgt die Auswahl des Sündenbocks nicht zufällig. Noch immer fällt es den Menschen nicht schwer, alles «Fremde» leichtfertig zu verteufeln – und eine Krankheit ist immer wieder ein praktischer Vorwand.

Duncan McLean ist leitender Wissenschafter bei der Forschungsstelle für humanitäre Angelegenheiten von Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières, MSF) in Genf.