Wie Informatiker Leonardo da Vincis Requisiten entschlüsseln

Das berühmte Gemälde «Salvator Mundi» zeigt Christus mit einer Kristallkugel in der Hand. Aber die Art, wie die Kugel dahinterliegende Bildteile verzerrt, stimmt nicht. Hat der alte Meister etwa geschlampt?

Helga Rietz
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Das derzeit teuerste Gemälde der Welt zeigt Christus im blauen Gewand, die Rechte zum Segen erhoben, in der Linken eine Kristallkugel. Es heisst «Salvator Mundi», ist um das Jahr 1500 entstanden und stammt mutmasslich von Leonardo da Vinci. Es wechselte im November 2017 beim Auktionshaus Christie’s für astronomische 450 Millionen Dollar den Besitzer.

Das Gemälde «Salvatore Mundi» von Leonardo da Vinci. Schon lange rätseln Experten und Laien: Was ist das für eine Kugel, die Christus da in der Hand hält?

Das Gemälde «Salvatore Mundi» von Leonardo da Vinci. Schon lange rätseln Experten und Laien: Was ist das für eine Kugel, die Christus da in der Hand hält?

PD

Doch mit der Kristallkugel in Christus’ Hand stimmt etwas nicht: Jeder, der schon einmal mit einer Kugel aus Glas herumexperimentiert hat, weiss, dass diese das Licht bricht wie eine starke Sammellinse. Hielte der Christus im Bild eine solche in der Hand, müssten darin die dahinterliegenden Objekte – Christus’ Gewand, der linke Arm bis zur Schulter und Teile des Hintergrunds – stark verzerrt und verkleinert sowie auf dem Kopf stehend zu sehen sein. Auch der Handballen, im Gemälde im unteren Teil der Kugel deutlich sichtbar, würde von einer massiven Kugel aus Glas oder Kristall zu einer schmalen Sichel verzogen – und zwar am oberen Rand der Kugel. Von all dem aber ist auf da Vincis Gemälde nichts zu erkennen. Hat der alte Meister also geschlampt? Wusste er schlicht nichts von den optischen Effekten einer Glaskugel? Oder hat er – ausgerechnet da Vinci, den wir auch als genialen Ingenieur kennen – absichtlich nicht mit wissenschaftlicher Akkuratesse gezeichnet?

Unwissen unwahrscheinlich

Letzteren Standpunkt vertritt Martin Kemp, Kunsthistoriker und renommierter Da-Vinci-Experte. 2011 schrieb Kemp in «Nature», es müsse sich bei der Kugel um eine aus Bergkristall oder Kalzit handeln – Materialien, die Lichtstrahlen abhängig von deren Polarisierung unterschiedlich stark ablenken, wodurch alles, was hinter dem Kristall liegt, doppelt erscheint. Deshalb heissen solche Kristalle auch «doppelbrechend». Laut Kemp erklärt dies zwei Feinheiten in da Vincis Werk, nämlich erstens, dass der Rand des Handballens eine doppelte Kontur aufzuweisen scheint. Zweitens stellten die drei hellen Punkte auf der Kugel keine runden Lufteinschlüsse dar, wie man sie in massivem Glas finde, sondern die für natürliche Kristalle typischen, im Licht glitzernden Einschlüsse.

Aber Kemps Argument bleibt unbefriedigend: Warum sollte da Vinci so subtile Effekte wie die Doppelbrechung und glitzernde Einschlüsse korrekt wiedergeben, gleichzeitig aber die wesentlich augenfälligere Verzerrung des Hintergrunds ausser acht lassen?

Für Walter Isaacson, der 2018 eine hochgelobte Biografie da Vincis vorgelegt hat, ist ausgeschlossen, dass der Maler in Unwissenheit gehandelt haben könnte. Von da Vinci seien zahlreiche Notizen und Skizzen erhalten, in denen er sich eingehend mit Strahlenoptik und der Lichtbrechung in Kristall und Glas auseinandergesetzt habe. Ihm müsse klar gewesen sein, dass eine massive Kugel, ganz gleich ob aus Glas oder aus Kristall, die dahinterliegenden Bildteile invertiert und verzerrt hätte. Wahrscheinlicher, schreibt Isaacson, habe da Vinci eine hohle, dünnwandige Glaskugel abgemalt.

Nur eine Kugel kann es sein

Und nun mischen sich auch noch drei Informatiker in die Debatte ein. Marco Zhanhang Liang, Michael Goodrich und Shung Zhao von der University of California haben das Problem mit den modernen Methoden der Optik angepackt, genauer gesagt einer sogenannten «ray-tracing»-Software, wie sie heute standardmässig bei der Konzeption komplexer Linsensysteme verwendet wird. Mit dieser konnten sie exakt nachrechnen, wie sich Kugeln mit verschiedenen Eigenschaften auf den «Salvator Mundi» ausgewirkt hätten (allerdings erst, nachdem sie die Szene samt Modell, Hand und Kugel digital nachgebaut und anhand des Schattenfalls auf Gesicht und Gewand deren Ausleuchtung rekonstruiert hatten).

Das Ergebnis der Studie, die Anfang Jahr auf dem Preprint-Server ArXiv veröffentlicht wurde: Das Erscheinungsbild der Kugel im Gemälde stimmt exakt mit den optischen Eigenschaften einer hohlen Glaskugel mit einer Wandstärke von 1,3 Millimetern überein. Demnach hat da Vinci nicht nur sehr genau über die Lichtbrechung in transparenten Kugeln Bescheid gewusst, sondern auch all sein Wissen in dem Gemälde verwendet.

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