Der Film «1917» ist hundert Minuten Krieg in Echtzeit. «Als ich das Drehbuch las, dachte ich: Wie sollen wir das machen?», erzählt der Kameramann Roger Deakins

Kein Kameramann wurde häufiger für den Oscar nominiert als Roger Deakins. Im Interview mit Andreas Scheiner spricht der Brite über die gewaltigen technischen Herausforderungen seines neuen Films, wann er sich wie ein Voyeur vorkommt – und warum es zwischen ihm und den Coen-Brüdern auf Anhieb Klick gemacht hat.

Andreas Scheiner
Drucken
Im Film «1917» sollen zwei britischen Fusssoldaten (im Bild: George MacKay) einen Hinterhalt der Deutschen vereiteln.

Im Film «1917» sollen zwei britischen Fusssoldaten (im Bild: George MacKay) einen Hinterhalt der Deutschen vereiteln.

PD

Roger Deakins, 70, gilt vielen als bester Kameramann der Welt. Die Regisseure reissen sich um den Engländer, der anscheinend alles kann. Mit den Coen-Brüdern hat er ein Dutzend Filme gedreht, darunter «Fargo», dessen Bilder des schneebedeckten Minnesota sich einprägten, oder «No Country for Old Men», für den Deakins die schönsten Totalen der texanischen Wüste einfing. Der Frankokanadier Denis Villeneuve vertraute ihm etwa den Psychothriller «Prisoners» an, und mit Sam Mendes stemmte er unter anderem «Skyfall» und jetzt den unwahrscheinlich aufwendigen Kriegsfilm «1917».

Den Mann zu sprechen, ist nicht einfach, denn gerade ist Awards Season, die Zeit, in der man sich in Hollywood mit Preisen überschüttet. Auf 15 Oscar-Nominationen bringt es Deakins, ein Rekord unter den Kameraleuten. Letztes Jahr gewann er mit Villeneuves «Blade Runner 2049»; auch für «1917» ist er, natürlich, nominiert. Als wir ihn in Los Angeles erreichen, will er sich aber nicht mit «Preis-Politik» aufhalten.

Haben auch schon beim Bond-Film «Skyfall» zusammengespannt: der Kameramann Roger Deakins (links) und der Regisseur Sam Mendes, hier auf dem Set von «1917».

Haben auch schon beim Bond-Film «Skyfall» zusammengespannt: der Kameramann Roger Deakins (links) und der Regisseur Sam Mendes, hier auf dem Set von «1917».

Franáois Duhamel / UP

Mr. Deakins, jetzt geht es in Hollywood wieder los mit dem Awards-Reigen, überall wollen Preise in Empfang genommen werden. Vermutlich kann einen das ganz schön in Anspruch nehmen?

Ja, vielleicht.

Vermissen Sie es in diesen Tagen, auf einem Filmset zu stehen?

Yes, I do! Das Filmset ist wahrscheinlich der einzige Ort, wo ich wirklich zu Hause bin.

Mit «1917» werden Sie jedenfalls wieder Preise absahnen. Die Branchenzeitschrift «Variety» spricht vom «kühnsten» Film Ihrer Karriere.

Jedes Mal, wenn man einen Film angeht, denkt man: Das wird schwierig. Aber mir gefällt es, die unterschiedlichsten Sachen zu machen und mich immer wieder neu herauszufordern. Als Sam (Mendes) mit dem Film an mich herangetreten ist, dachte ich: grossartig, eine grossartige Herausforderung. Ich habe schon viele schwierige Filme gemacht, allein die Dokumentarfilme ganz am Anfang meiner Karriere. Einmal sind wir für einen Dokumentarfilm mit einer Jacht um die Welt gesegelt, machen Sie das mal!

Sie haben also bei «1917» nicht gezögert und sofort zugesagt?

Na klar.

Keine Zweifel?

Keine Zweifel.

Auch, weil Sie mit Sam Mendes schon grosse Kisten wie «Skyfall» oder auch «Jarhead» gedreht haben und wussten, mit ihm kann man das?

Weil es Sam war, ja, aber auch wegen des Stoffs. Sam kam auf mich zu und sagte, er wolle einen Film über den Ersten Weltkrieg machen. Ich sagte: «Fein.» Dann schickte er das Drehbuch, und auf der ersten Seite stand: Der Film soll so aussehen, als spielte er sich in Echtzeit ab und wäre in einer einzigen Einstellung gedreht. Da hatte ich einen kurzen Moment, wo ich dachte: Wie jetzt, eine einzige Einstellung? Wie sollen wir das machen? Aber dann habe ich das Drehbuch gelesen und verstanden, worum es Sam ging, weshalb der Film so und nicht anders erzählt werden musste. Damit war klar: So wird’s gemacht. Ein No-Brainer, wirklich.

Kein Aufwand zu gross: Für den Dreh wurde ein fast zwei Kilometer langer Schützengraben ausgehoben.

Kein Aufwand zu gross: Für den Dreh wurde ein fast zwei Kilometer langer Schützengraben ausgehoben.

Franáois Duhamel / UP

Wie war der erste Drehtag?

Haha. Total frustrierend.

Erzählen Sie.

Es gab keine einzige Wolke am Himmel, wir konnten nicht drehen. Wir brauchten einen verhangenen Himmel. Da wurde ich ein bisschen nervös, denn ich fragte mich: Was machen wir, wenn während der nächsten Wochen auch so schönes Wetter ist? Wir haben den Tag dann zum Proben genutzt, was gut war, denn vorher hatten wir kaum proben können, weil es wie aus Kübeln schüttete und man nicht in den Schützengraben konnte.

Für den Dreh wurde ein fast zwei Kilometer langer Schützengraben ausgehoben . . .

Jedenfalls, am zweiten Drehtag hatten wir genau den richtigen Himmel und konnten den verlorenen Tag wieder aufholen. Aber es blieb immer die Sorge: Was, wenn das Wetter nicht mitmacht? Was, wenn wir anfangen zu drehen und mittendrin die Sonne herauskommt?

Es fällt dann ja auch in Ihre Verantwortung als Kameramann zu sagen: Das Licht ist jetzt gut, wir drehen.

Genau so ist es. Sam sagte zwar immer: «Du bist nicht verantwortlich, Rog, mach dir keine Sorgen.» Aber es war unmöglich, sich keine Sorgen zu machen, denn natürlich war ich verantwortlich!

Hunderte Statisten und Stuntleute warten auf ihren Einsatz, riesige Sets sind aufgebaut: Da wird man doch verrückt!

Ich schaute die ganze Zeit zum Himmel hoch und versuchte abzuschätzen: Wie lange bleibt die Wolke vor der Sonne, reicht es, reicht es nicht?

Wenn man so komplizierte Einstellungen dreht, in denen die Kamera Hunderte Meter mit den Figuren mit wandert – wo befinden Sie sich da eigentlich?

Bei vielleicht 60 Prozent der Einstellungen habe ich die Kamera aus der Ferne führen müssen, sie war entweder auf einem Kran montiert, oder einer meiner Leute trug sie auf sich. Denn da wir die Kamera in einem 360-Grad-Radius bewegten, konnten nie viele Leute unmittelbar bei ihr sein.

Sie sitzen also irgendwo abseits, kauen auf den Nägeln herum und hoffen, dass keiner irgendwas vermasselt?

O ja . . . O ja.

Vorhin haben Sie Ihre Dokumentarfilme erwähnt; auch Kriegsdokumentationen waren darunter, und man fragt sich doch: Wenn Sie nun einen Kriegsfilm wie «1917» oder auch «Jarhead» drehen, kommen Ihnen da nicht die Erinnerungen hoch?

Nun, ich drehte damals in Rhodesien, als ein Guerillakrieg tobte, und ich war im Krieg in Eritrea. Aber ich war nie wirklich in einem Feuergefecht. In Eritrea, erinnere ich mich, gingen wir durch die Schützengräben und beobachteten die russischen Truppen, die den Äthiopiern gegen die eritreischen Guerillas zur Seite standen, solche Sachen. Nur einmal kam es zu einer wirklichen Kampfhandlung, und wir gerieten unter Artilleriebeschuss, aber wir kamen heil heraus. Meistens ging es eher um den politischen Aspekt der Konflikte.

Vermutlich waren Sie trotzdem froh, auf Spielfilme umsatteln zu können?

Das ergab sich irgendwie so. Ich mag Dokumentarfilme immer noch sehr, und manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich davon träume, wieder welche zu machen. Aber es ist eine andere Welt heute, und ich bin an einem anderen Platz . . . Und wissen Sie, den letzten Dokumentarfilm habe ich in den frühen Achtzigern gedreht, in einer psychiatrischen Klinik, wo ich Patienten bei der Behandlung begleitete; es ist ein wirklich guter Film geworden, glaube ich, aber ich will ganz ehrlich sein, es fühlte sich irgendwie voyeuristisch an. Sobald du dein Material zusammenhast, gehst du einfach wieder weg von da. In Eritrea war das auch so: Man erlebt den Konflikt hautnah mit, aber danach fühlt es sich so an, als hätte man die Situation, die Leute ein bisschen ausgenutzt. Ich hatte immer meine Zweifel, ob das in Ordnung war, was ich da machte. Deshalb, ja, es fühlt sich besser an, Spielfilme zu machen.

Zum Beispiel solche mit den Coen-Brüdern. Ein Dutzend Filme haben Sie inzwischen zusammen gedreht. Hat es einfach Klick gemacht beim ersten?

Ja genau, wie das eben sonst so ist, man merkt einfach, dass man einen ähnlichen Blick hat auf die Welt. Ich weiss noch genau, wie ich die Coens das erste Mal getroffen habe, in einem Café in Notting Hill, London, war das. Sie hatten mich für «Barton Fink» angefragt . . .

. . . Anfang der neunziger Jahre . . .

. . . und meine Agentin meinte noch: «Das ist nichts, das Drehbuch ist schräg.» Aber ich wollte sie trotzdem treffen, und wir waren sofort auf einer Wellenlänge. Es entwickelte sich über die Jahre eine grossartige Arbeitsbeziehung, ja Freundschaft. Mit Denis Villeneuve oder Sam Mendes war das nicht anders: Wir haben uns auf Anhieb verstanden, und ich glaube, was entscheidend ist: Man merkt, dass man sich ergänzt.

Gibt es Regisseure, die Sie noch auf der Liste haben, mit denen Sie unbedingt mal arbeiten möchten?

O yeah. Etliche. Aber ich würde nie einen Namen nennen. Und viele Regisseure haben ja auch eingespielte Teams. Hinzu kommt: Man schaut sich Filme an und denkt: Oh, den hätte ich auch gerne gemacht. Aber gleichzeitig weiss man: Der Film wäre dann anders geworden, und vielleicht würde man ihn gar nicht mögen.

Wann hat Sie letztmals die Kamera eines Kollegen beeindruckt?

Gerade vor ein paar Tagen habe ich «Ford v Ferrari» gesehen, den fand ich ziemlich beeindruckend. Oder dann «The Painted Bird» aus Tschechien, etwas ganz anderes. Ein erschütternder Film, der im Zweiten Weltkrieg spielt, nicht leicht, sich das anzuschauen, aber die Kameraarbeit ist wirklich erstaunlich!

Wie gefällt Ihnen das Superhelden-Kino mit seinem computergenerierten Look?

Ich bin kein Fan von Computergeneriertem. Selbst bei «Blade Runner» waren Denis und ich bestrebt, so viel wie möglich «in-camera» zu machen.

Das heisst, mit Effekten, die sozusagen live, während der Aufnahme, produziert werden.

Natürlich greift man auch auf digitale Hilfsmittel zurück, es gibt ja Dinge, die man live kaum machen kann. Aber wenn es nach mir geht, sollte man so wenig wie möglich nachhelfen. Es macht dann auch viel mehr Spass!

Ein Wort noch zur Arbeit mit den Schauspielern. Sind Sie manchmal «starstruck», spüren Ehrfurcht vor den Stars?

Ach wo, es sind doch auch nur Menschen. Einer der ersten Spielfilme, für die ich die Kamera gemacht habe, war «1984» von Michael Radford, und damals war ich tatsächlich noch «starstruck» wegen Richard Burton. Er war für mich ein Schauspielgott. Wie ich ihn dann bei der Arbeit sah, mit ihm auch zu Mittag essen durfte, da realisierte ich: Selbst er ist nervös und unsicher. Wir haben doch alle unsere Unsicherheiten.

«1917» (UK, USA 2019), 119 Minuten. Regie: Sam Mendes. Ab 16. Januar im Kino.

Filmkritik «1917»

Ein Kriegserleben, wie es unmittelbarer nicht sein könnte

asc. Was gibt es auszusetzen an diesem Film? Klar, es melden sich jetzt wieder die Stimmen, die ein Ästhetisieren von Krieg anmahnen, wie ein Computerspiel komme der Erste Weltkrieg daher, sagen sie. Denn wo wir zwei britischen Fusssoldaten (Dean-Charles Chapman und George MacKay) folgen, die sich auf dem Höhepunkt des Kriegs in Feindesland vorwagen, um einen Hinterhalt der Deutschen zu vereiteln, mag das stellenweise an einen Ego-Shooter erinnern, in dem sich die Spielfiguren in immer neue Levels vorkämpfen.

Aber der Einwand ist doch sehr bieder angesichts dessen, was der Regisseur Sam Mendes und der Kameramann Roger Deakins Spektakuläres zuwege gebracht haben. Indem sie den Eindruck eines One-Shots erwecken, eines Films also, der aus einer einzigen abendfüllenden Einstellung besteht und die Handlung in Echtzeit wiedergibt, evozieren die Macher ein Kriegserleben, wie es unmittelbarer und wuchtiger nicht geht. Davon abgesehen: Plansequenzen dieser Grössenordnung und Bildgewalt hat man noch kaum gesehen.