Der Geissenpeter kommt aus Afghanistan und spricht Paschtu mit den Tieren

Im Zwölf-Seelen-Dorf Avers Cröt in Graubünden packt ein afghanischer Flüchtling im Stall mit an. Ursprünglich als Aushilfe für einen Tag engagiert, hat es Shafiq Shinwari zum landwirtschaftlichen Mitarbeiter geschafft. Er hofft, in der Schweiz bleiben zu dürfen.

Eva Hirschi, Avers Cröt
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In seiner Heimat hat Shafiq Shinwari viel über den Umgang mit Ziegen gelernt. Das kommt ihm nun zugute.

In seiner Heimat hat Shafiq Shinwari viel über den Umgang mit Ziegen gelernt. Das kommt ihm nun zugute.

Eva Hirschi

Früh am Nachmittag erhält Paula Loi eine Whatsapp-Nachricht mit einem Video. «Das Kälbchen ist da!», ruft die Bäuerin und eilt in den Stall. Dort steht auch schon Shafiq Shinwari in Gummistiefeln und Funktionskleidern, schüchtern lächelnd. Das noch nasse Kalb versucht bereits krampfhaft aufzustehen. Eigentlich sollte der 24-jährige Afghane auf dem Weg zu einem Bauern im Nachbarsdorf sein, um beim Ausmisten zu helfen, doch zuerst ging er nochmals in den Stall der Lois, um nach dem Rechten zu sehen. Er wusste, die Mutterkuh würde bald gebären: «Kuh krank mit Baby», hatte er zur Landwirtin am Vormittag gesagt. Krank, weil er das Wort für schwanger nicht wusste.

Seit zwei Jahren arbeitet Shafiq Shinwari bei der Familie Loi im bündnerischen Avers Cröt, einem Zwölf-Seelen-Dorf im Hochtal Avers auf 1715 Metern über Meer. Auch wenn Shinwari in seinem Heimatland im Osten Afghanistans bereits als Hirte in den Bergen lebte, so war die Ankunft in Graubünden dennoch ein grosser Kulturschock für ihn: junge Frauen, die mit nackten Armen und Beinen auf dem Hof werken, Essen an einem Tisch statt auf einem Teppich am Boden, Kirchglocken an Stelle der Muezzin-Rufe. Und doch fühlt sich Shinwari, der den Paschtunen, der grössten Ethnie Afghanistans, angehört, wohl hier: «Die Schweiz ist gut!»

Flucht vor den Taliban

Vor mehr als vier Jahren floh Shinwari vor den Taliban über den Landweg nach Europa und landete in der Schweiz. Nach vierzig Tagen im damaligen Bundesasylzentrum in Thun wurde er ins Asylzentrum in Cazis in Graubünden transferiert. Er erhielt den Aufenthaltsstatus F: vorläufig aufgenommener Ausländer. Wegen seines schlechten Bildungsstatus musste er zuerst einen Alphabetisierungskurs absolvieren und dann in den Deutschunterricht. Doch mit der Schule tat er sich schwer, und im Asylzentrum quälte ihn schnell die Langeweile. Shinwari wollte arbeiten, draussen in der Natur.

Shafiq Shinwari

Shafiq Shinwari

Eva Hirschi /

Der Zufall wollte es, dass Landwirt Bruno Loi damals nach ein paar starken Armen suchte, die dabei helfen sollten, Sägemehl umzuladen. Neben dem Landwirtschaftsbetrieb mit Nutztieren führt er mit seiner Familie ein Transportunternehmen und vermietet Ferienwohnungen. Er wusste von der Möglichkeit von Tageseinsätzen durch Personen aus dem Asylzentrum und fragte dort an. Drei junge Männer kamen und packten einen Tag lang an, unter ihnen auch Shafiq Shinwari. Danach rief der Paschtune fast jeden Tag Bruno Loi an und fragte, ob dieser noch mehr Arbeit habe. Loi winkte ab. «Weisst du, ich habe einen Hof mit Määh und Muuh», so versuchte er seine Situation dem jungen Mann zu erklären, der damals noch kaum ein Wort Deutsch sprach. Oh, er habe in Afghanistan auch Määh und Muuh, antwortete dieser. So liess ihn Loi probehalber über den Sommer bei sich als Praktikant arbeiten – und war zufrieden. Mit der Fachstelle Integration Graubünden vereinbarten sie einen auf eineinhalb Jahre befristeten Teillohnvertrag sowie die Teilnahme an von der Fachstelle finanziertem Deutschunterricht.

Gerade mit den Ziegen schien sich Shafiq Shinwari besonders geschickt anzustellen. Er müsse ihm ein Ei geben, hatte er gesagt, als Bruno Loi ein krankes Geisslein bereits aufgegeben hatte – und in der Tat: Am nächsten Tag stand es wieder quietschfidel auf seinen Beinchen. Während in der Regel jedes Jahr um die zehn Geisslein sterben, haben in Shinwaris erstem Jahr in Avers Cröt alle überlebt. «Shafiq ist sehr tüchtig und hat einen unglaublich guten Draht zu den Tieren, das ist nicht jedem gegeben», sagt Loi anerkennend.

Was ihn an seiner neuen Arbeitskraft am meisten begeistere, sei die Leidenschaft: «Er geht von sich aus in den Stall und schaut nach, wenn ein Tier krank ist. Und von seinen Hausmitteln können auch wir profitieren.» Dieses Wissen hatte sich Shinwari von einem Bauern in Afghanistan angeeignet, wo er damals als Ziegenhirte arbeitete. Für rund 150 Ziegen war er verantwortlich, führte sie auf die Alp und melkte sie. Die Arbeit war anders, die Berge viel steiler und gefährlicher. In der Schweiz hingegen gebe es sogar Maschinen zum Melken, sagt er erstaunt. Dennoch habe er viel über Nutztierhaltung gelernt in Afghanistan, und dies, obwohl er – abgesehen vom Koranunterricht – nie eine Schule besucht habe. Hier in Graubünden muss er nun jeden Montag den Deutschunterricht in Cazis besuchen, doch lange am Tisch zu sitzen und sich zu konzentrieren, falle ihm schwer.

Multikulturelle Familie

Einen Flüchtling aufzunehmen, war nie das Ziel von Bruno Loi gewesen, vom Asylgesetz verstand der BDP-Grossrat vorher nicht viel. Doch auch seine Familie hat einen Migrationshintergrund: Sein Vater war 1957 aus Sardinien in die Schweiz eingewandert, Bruno Lois Ehefrau Paula stammt ursprünglich aus Portugal. Zu Hause kommunizieren die Eltern mit ihren vier Kindern dreisprachig. Schon zuvor hatte die Familie eine zusätzliche Arbeitskraft auf dem Hof engagiert; während mehrerer Jahre arbeitete ein Pole bei ihnen. Nun halt ein Afghane, dachte sich Loi.

Mit dessen Arbeit war er so zufrieden, dass er den Teillohnvertrag mit einem normalen, unbefristeten Lohnvertrag ersetzte. Der einfache Ziegenhirte hatte den Aufstieg zum landwirtschaftlichen Mitarbeiter geschafft. Seit Oktober ist Shinwari nun im Mindestlohn von 3600 Franken angestellt. Mit dem Salär zahlt er Sozialleistungen, Krankenkasse und die Miete der Wohnung; kocht, putzt und lebt autonom. Einsam fühle er sich manchmal aber schon, gibt er zu. Durch seine schlechten Deutschkenntnisse falle es ihm schwer, neue Freunde zu finden. Sein Freundeskreis besteht aus den Bekanntschaften aus dem Asylzentrum: Syrer, Afghanen, Eritreer, Somalier. Viele von ihnen arbeiten als Saisonniers über den Winter in einem Hotel in Arosa oder Davos, im Sommer aber, wenn der Vertrag auslaufe, müssen sie wieder zurück ins Asylzentrum. Nur, wer den Unterhalt selber bestreiten kann, darf ausserhalb des Zentrums wohnen.

Dennoch anerkennen nicht all seine Kollegen Shinwaris Arbeit auf dem Bauernhof. «Du hast es bis in die Schweiz geschafft, nur um hier weiter als Ziegenhirte zu arbeiten?», so machen sich einige lustig. Für Shinwari ist dies ein Dilemma, denn es ist genau das, was er am liebsten tut und am besten kann. Auch gegenüber der eigenen Familie hadert er mit seinem persönlichen Glück: Ruft der Bruder an, verlässt er schnell den Stall, damit dieser nicht etwa die Ziegenglocken hört. Dass Bauern in der Schweiz ein besseres Ansehen geniessen als in Afghanistan, ist für seine Familie unvorstellbar. Am liebsten aber würde Shinwari für immer auf einem Hof arbeiten.

Trotz allem: Sich eine Zukunft für den Afghanen hier oben auszumalen, fällt sowohl Shinwari selbst als auch der Familie Loi schwer. Es habe so wenige Menschen hier, sagt Shinwari. Seine Kollegen trifft er jeweils am Sonntag in Chur, wenn er frei hat. Doch die letzte Verbindung zurück nach Avers Cröt ist bereits um 18 Uhr. Wenn es doch nur Busse bis wenigstens 22 Uhr gäbe, klagt er. Die Kinder von Lois kennen das. «Ich hatte das gleiche Problem als Teenager», sagt Tochter Monica, die vor kurzem für ihr Studium nach Bern gezogen ist. Auch heiraten würde Shinwari gerne, nur wisse er nicht, wie er hier eine Paschtunin oder überhaupt eine Frau kennenlernen solle. Im Moment hat er nur die Tiere. Immerhin, so sagt er, habe er den Geisslein bereits seine Muttersprache Paschtu beigebracht – sie jedenfalls scheinen ihn zu verstehen und kümmern sich herzlich wenig um die kulturellen Differenzen.

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