Adriano Aguzzi ist kein Epidemiologe. Aber mit seinem Video zum Coronavirus hat er die Schweiz aufgerüttelt

Denn Aguzzi kann nicht anders.

Michael Schilliger
Drucken
Der Neuropathologe Adriano Aguzzi sagt, der Bundesrat hätte früher handeln müssen.

Der Neuropathologe Adriano Aguzzi sagt, der Bundesrat hätte früher handeln müssen.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Es ist der Sonntag, bevor der Bundesrat die Schweiz in eine Art Wachkoma versetzt, als Adriano Aguzzi zu einer Medienberühmtheit wird. Aguzzi, vorher einfach ein bekannter Forscher, hat dafür gar nicht so viel getan. Nur das, was er immer tut und was für ihn typisch ist: Er hat gesagt, was er denkt, weil er es wichtig und richtig fand. Und wie so oft, wenn Aguzzi sagt, was er denkt, führt das zu, sagen wir mal, etwas Aufruhr.

Die Geschichte ist simpel: Aguzzi, der Leiter des Instituts für Neuropathologie am Universitätsspital Zürich, einer der renommiertesten Wissenschafter der Schweiz, hat ein Video aufgenommen. Das Video ging viral. Allein von seiner privaten Facebook-Seite aus wurde es 1000 Mal geteilt und auf Youtube 300 000 Mal angeschaut.

Im Video sitzt Aguzzi im Anzug in seinem Büro, an der Wand hinter ihm hängen eingerahmt zwei Seiten mit geschwungenen Buchstaben: der Robert-Koch-Preis, den Aguzzi 2003 erhalten hat, einer der wichtigsten Wissenschaftspreise im deutschsprachigen Raum. Aguzzi schaut in die Kamera, ernst, er wirkt müde, Tränensäcke hängen ihm unter den Augen. Er redet und hält Grafiken vor die Kamera. Er erklärt, was eine exponentielle Verbreitung des Coronavirus bedeutet. Wie schnell sich die Situation verändert. Wie bald die Schweiz in italienische Zustände schlittern könnte. Er sagt, dass sich das nur verhindern lasse, wenn die Schweiz dieselben Massnahmen ergreife wie Italien. Shutdown. «Bleiben Sie zu Hause, das muss nicht lange sein, aber bitte bleiben Sie zu Hause!» Es sind flehende Worte, die Aguzzi in die Kamera spricht.

Was Aguzzi im Video sagt, ist unumstritten. Und trotzdem hat das Video für Aufregung gesorgt. Epidemiologen, die sich zuvor in der Presse geäussert und den Bund ebenfalls zum Handeln aufgefordert hatten, finden das Video wichtig, wollen aber nicht direkt zitiert werden. Die Behörden hätten sie nach ihren Aufrufen kritisiert, dass sie Panik verbreiten würden. Auch Angestellte am Universitätsspital sagen zwar, sie stünden hinter dem Video und der Aktion von Aguzzi. Sie finden aber selbst diese Aussage so heikel, dass sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen wollen.

Adriano Aguzzi nimmt seine Aufforderung ernst. Er sitzt zu Hause, wirkt müde, trägt weder Anzug noch Laborkittel, dafür als leidenschaftlicher Mountainbiker, der er ist, ein rotes Funktions-T-Shirt. Er habe schon vor zehn Tagen im Labor eine «one-man one-room policy» eingeführt, sagt er. Um seine Mitarbeiter zu schützen. Nur das Nötigste täten sie noch, etwa Blutproben archivieren, die man verwenden könnte, um Antikörper zu suchen. Aguzzi will bei der Antikörpersuche helfen, obwohl er kein Epidemiologe ist. Und natürlich hat er dabei gleich weiteren Aufruhr verursacht.

Dem Wissenschaftsmagazin «Higgs» hat er nämlich erzählt, er müsste dafür ein paar Mäusen Blut entnehmen. Der Eingriff ist bewilligungspflichtig, weil es ein Tierversuch ist. Aguzzi klagte, die Bewilligung lasse zu lange auf sich warten. Doch in der gegenwärtigen Situation würde er nicht abwarten, sondern einfach loslegen. Das war vor mehr als einer Woche. Inzwischen haben ihm die Behörden ein beschleunigtes Verfahren zugesichert. Aber Aguzzi zweifelt, dass das reicht, und sagt: «Ich würde dafür auch ins Gefängnis gehen.» Dann lacht er. «Aber wenn sich das vermeiden lässt, wäre es schön.»

Aguzzi ist überzeugt: Den Behörden geht es nicht um Tierschutz, sondern darum, Macht über Forscher auszuleben. Seine Wut auf die Tierschützer, zu denen er den offiziellen Tierschutz wie auch das Veterinäramt zählt, ist altbekannt und wirkt für einen Wissenschafter vielleicht irrational. Erklären lässt sie sich mit seiner Geschichte und seinem Selbstverständnis.

Aguzzi hat mit seiner Forschung geholfen, den Rinderwahnsinn auszurotten. Er ist stolz darauf, auch wenn er sagt: «Stolz ist nicht Teil der Gleichung eines Wissenschafters. Es geht darum, etwas herauszufinden, das man vorher nicht wusste. Etwas, das dann für die Ewigkeit bekannt ist.» Aguzzi sagt auch, seine Forschung komme den Tieren zugute. Dass die Erkenntnisse seines Teams wohl 300 000 Rindern das Leben gerettet hätten. «Ich möchte wissen, wie viele Tiere diese selbsternannten Tierschützer gerettet haben.»

Eigentlich ist Adriano Aguzzi ein 60-jähriger Mann, im Gespräch, das per Skype geführt wird, redet er kontrolliert, jeder Satz ist druckreif. Die Aussage mit den Tierschützern erinnert aber an den anderen Adriano Aguzzi, den auf Twitter und Facebook: ein Mann, der sich nicht zurücknimmt. Direkt, lustig, selbstironisch, aber auch angriffig, und wenn er nicht selber den Angriff startet, so teilt er kritische Beiträge. Jüngst etwa eine Mail, in der jemand Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit beschuldigt, an der Krise mitverantwortlich und eine Schande für die Schweiz zu sein. Warum tut er das?

Aguzzi ist in Pavia geboren, einer Stadt im Südwesten der Lombardei, am Fluss Tessin gelegen. Pavia hat eine der ältesten Universitäten Europas, doch für Aguzzi ist nach der Matura klar: Er will weg, ins Ausland. Er geht nach Freiburg im Breisgau, studiert dort Medizin. Auch sein Vater war Arzt, Labormediziner. Aguzzi sagt: «Ich bilde mir trotzdem ein, dass es meine Entscheidung war.»

Er sollte sie nicht bereuen. «Entdeckungen zu machen, ist das Schönste, was es gibt», sagt Aguzzi. Seine erste machte er in New York, er war 21 und absolvierte ein sechsmonatiges Internship an der Columbia-Universität. Es war Aguzzis erste echte Laborarbeit. Er forschte zu Hautkrebs. «Es war spätabends, wie in einem Film, die Daten kamen aus dem Radioaktivitätszähler, ich konnte es kaum glauben, ich war so aufgeregt.» Aguzzi sagt, aus der Laborarbeit seien fünf Papers entstanden, «nicht schlecht für sechs Monate», findet er.

Aguzzi ist selbstbewusst. Er sagt, er könne nicht anders, als sich öffentlich zu äussern. Viele schätzen sein Temperament, aber in der Schweiz kann es schnell zum Problem werden. Ende des vergangenen Jahres geriet Aguzzi in das Fadenkreuz des umstrittenen Journalisten Leonid Schneider, der auf seinem Blog zahlreiche Wissenschafter angreift oder, wie Aguzzi sagt, «diskreditiert». Leute wendeten sich von ihm ab. Aguzzi sagt: «Wenn ich einen Preis bekommen habe, hat man sich gerne mit mir gezeigt, aber plötzlich haben Leute meine Mails nicht mehr beantwortet.» Er lernt in dieser Zeit, dass alle Institutionen gleich seien. Ob katholische Kirche oder Universität, sie schützten sich zuallererst selber.

Beim Video scheint das Universitätsspital dazugelernt zu haben. Lange äussert es sich zwar nicht, dann erklärt es aber auf Anfrage, dass es hinter dem Videoaufruf von Aguzzi stehe. Doch dafür, wie erfolgreich das Video war, wirkt die Antwort distanziert.

Aguzzi sagt, er wisse, dass alle überfordert seien mit der Situation. Aber er sei nicht bereit, die Leute anzulügen. Und natürlich hat Aguzzi auch Angst. Nicht, weil seine Eltern in Italien sind, Italien habe einfach Pech gehabt. Er habe Angst um alle, es sässen alle im selben Boot. «Ich habe dieses Video auch aus Verzweiflung gemacht. Weil ich gemerkt habe: Der Bundesrat tut nichts. Ich glaube, dass ich mit dem Video Leben gerettet habe.»

Mehr von Michael Schilliger (msl)

Mehr von Michael Schilliger (msl)

Weitere Artikel