Radio: Geschichte einer Erfindung, die Optimismus verbreitete
Gastkommentar
Manfred Schneider

«An alle, an alle!» – Vor hundert Jahren ging das Radio auf Sendung

Wie später beim Internet ging die Erfindung des Radios nach dem Ersten Weltkrieg mit viel Optimismus einher. «Demokratie, dein Mund heisst Radio!», schrieb Alfred Döblin. Doch auch Diktatoren begriffen schnell die gewaltige politische Wirkungsmacht des neuen Mediums.

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Illustration: Peter Gut

Dass der Krieg der «Vater aller Dinge» sei, wie der Philosoph Heraklit meinte, stimmt gewiss nicht. Allerdings hat er neben Kanonen, Splitterbomben und Drohnen auch immer wieder nützliche Dinge hervorgebracht: für Napoleons Eroberungszüge den optischen Telegrafen oder für den ausgebliebenen dritten Weltkrieg das Internet.

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Und auch das Radio verdanken wir Heraklits «Vater aller Dinge». Der Erste Weltkrieg hinterliess ausser Trümmern und Soldatenfriedhöfen eine Menge Funkgeräte, für die der «drahtlose Kriegsnachrichtendienst» erst einmal beendet war. Gleich nutzten clevere Geschäftsleute den elektronischen Kriegsmüll, um Börsennachrichten zu funken. Doch im Jahr 1920 übernahmen fast alle europäischen Länder die politische und kulturelle Nutzung der «Ätherwellen» oder vergaben Sendelizenzen. In den USA und England funkten Privatdienste Wort- und Musikbeiträge. In der Schweiz machte der Völkerbund 1920 das neue Medium den Friedensbemühungen nutzbar. Im gleichen Jahr brachte der deutsche Sender Königs Wusterhausen als Premiere die Friedensbotschaft einer Weihnachtsfeier.

Mächtiger Schub

Die Funktechnik und der Rundfunk waren zuvor aus einer stürmischen Entwicklung hervorgegangen. Heinrich Hertz hatte 1888 den Nachweis elektromagnetischer Wellen erbracht und mithilfe eines Oszillators und eines Funkeninduktors ein Signal drahtlos übertragen. Dabei entstanden tatsächlich Funken, die der Technik ihren deutschen Namen gaben. 1901 gelang es Guglielmo Marconi, ein Morsesignal über den Atlantischen Ozean zu schicken. Er wurde zum Pionier des Seefunkverkehrs und erhielt dafür 1909 den Nobelpreis für Physik.

Das Radio verbindet die Völker nicht durch Verständigung, wie Einstein hoffte, sondern durch schlechte Musik und schlechte Nachrichten.

Ehe der Seefunk aber zum Standard werden konnte, mussten auf drei Seefunkkonferenzen Regeln und Codes wie das berühmte SOS-Zeichen festgelegt werden. Als die «Titanic» im April 1912 unterging, konnten dank Marconis Funktechnik viele Überlebende von anderen Schiffen gerettet werden. Damit erhielt diese Technik einen mächtigen Schub. Aber die Schiffsfunker und Seefunkstationen tauschten immer noch Morsezeichen. Für das Senden und für den Empfang von Tonsignalen, von Musik und Sprache, mussten noch weitere Bauteile erfunden werden, wie Lichtbogensender, Detektoren und Verstärkerröhren. Dann erst griffen die Kriegsherren zu und schickten ihre Truppen drahtlos in die Schlachten.

Zugleich sorgten sie dafür, dass während des Ersten Weltkrieges in Europa und den USA die Lizenzen für Funkingenieure und andere Erfinder eingezogen wurden. Immerhin konnte Lee de Forest 1916 in den USA die Stimme Enrico Carusos über einen eigenen Sender in den Äther gehen lassen, nachdem bereits 1901 der kanadische Funkpionier Reginald A. Fessenden die angeblich erste drahtlose Musik- und Sprachübertragung gefunkt hatte: Nach eigener Angabe rezitierte er aus der Bibel und spielte Weihnachtslieder auf der Geige.

Elektronische Stammestrommel

Niemand begriff so schnell die politische und mediale Macht der Radionachrichten wie der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin. Er funkte am 12. November 1917 das soeben vom Sowjetkongress beschlossene Friedensdekret «An alle. An alle». Diese Adresse war der Taufspruch für das Radio. Auch die ersten drahtlosen Konzerte in Deutschland, die von der Versuchsfunkstelle Eberswalde in Brandenburg kamen, wurden im Jahre 1919 ausdrücklich «An alle» gesendet.

Nie zuvor konnte sich ein Medium in dieser Form «an alle» wenden. Daher gingen in den zwanziger Jahren europaweit die Staaten zu regelmässigen Sendungen über. Vierzig Jahre später bezeichnete der Medientheoretiker Marshall McLuhan das Radio deshalb als eine elektronische Stammestrommel. Auch im wesentlich kleineren, rein akustischen Hörraum sollte das Trommelsignal alle Trommelfelle erreichen.

Das hat sich bis heute nicht geändert, obgleich das Radio seine technische und kulturelle Gestalt unablässig verändert hat. In der Frühzeit des Rundfunks versammelte sich die Familie um das Gerät wie um einen Hausaltar. Alte Werbeplakate zeigen Eltern und Kinder, die mit geneigten Köpfen den Stimmen der Künstler und Diktatoren lauschen. Heute scheint der Hörfunk an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt. Das Radio ist nur noch eine von unzähligen Apps auf unseren Mobiltelefonen.

Doch noch vor dem Mobiltelefon tauchte in den fünfziger Jahren das mobile Kofferradio auf, das die musik- und wortmodulierten Funkwellen nicht mehr mit störanfälligen Röhren, sondern mit Transistoren verarbeitete. Zu dem «An alle» der Radiosendung war damit das «Überall» des Empfangs getreten. Und wer heute via Internet die digitalen Radiosignale aus allen Erdteilen und Ländern empfängt, der erlebt neben dem «Überall» auch ein «Überall dasselbe», denn die überwiegende Masse der «Funksignale», die von unzähligen Sendern rund um den Globus kommen, liefert Unterhaltungsmusik. Die Statistik errechnet zwar, dass in Deutschland und der Schweiz jede Person rund drei Stunden täglich Radio hört, aber das ist vor allem Musikhören mit «halbem Ohr».

Erst Demokratie, dann Goebbels

Daher sollten wir uns in diesem Jubiläumsjahr an die wechselhafte Geschichte des Radios erinnern. Vor hundert Jahren bemächtigten sich die staatlichen Institutionen des Mediums, weil es «an alle» funken konnte. Der Staat wusste gleich, was er senden wollte. So erliess im Jahr 1932 die deutsche Regierung des Kanzlers von Papen einschlägige Rundfunkrichtlinien: «Der Rundfunk nimmt an der grossen Aufgabe teil, die Deutschen zum Staatsvolk zu bilden und das staatliche Denken und Wollen der Hörer zu formen und zu stärken.»

Zu dieser Zeit überlegten auch die Dichter noch, was sie senden wollten. Ende September 1929 trafen sich in Kassel die literarischen Häuptlinge der Preussischen Akademie der Künste und beschlossen, vor allem Literatur zu senden. Der Autor des grossen Romans «Berlin Alexanderplatz», Alfred Döblin, rief damals in kühnem Optimismus: «Demokratie, dein Mund heisst Radio!» Allerdings stellte sich heraus, dass keiner der in Kassel versammelten Akademie-Dichter einen eigenen Radioapparat besass. Dabei entstand zur gleichen Zeit mit dem Hörspiel eine ganz eigene neue Literaturgattung, an die sich auch die Hörer erst noch gewöhnen mussten. Als in den USA 1938, am Tag vor Halloween, das von Orson Welles bearbeitete Hörspiel «Krieg der Welten» gesendet wurde, hielten viele Radiohörer die fiktive Reportage über eine Landung von Marsmenschen in New Jersey für einen Live-Bericht und wandten sich besorgt an den Sender und an die Polizei.

Anders als seine Kollegen bekannte sich der Dichter Gottfried Benn, der nach 1933 mehrfach im Radio zu hören war, als regelmässiger Radiohörer. In einem Vortrag erklärte er 1955, dass der moderne Dichter, obgleich er kein Kommunist sei, zu Lenins «allen» zähle, die vom Rundfunk erreicht würden: «Er sitzt zu Hause, bescheidene vier Wände, er ist kein Kommunist, (. . .) er dreht das Radio an, er greift in die Nacht . . .»

Sender und Empfänger

Noch im Jahr 1930 hoffte Albert Einstein auf der Berliner Funkausstellung, dass der Rundfunk zur Völkerversöhnung beitragen werde. Das «An alle» schien ein solches Versprechen zu enthalten. Aber kaum zehn Jahre später war es allen Deutschen untersagt, neben dem Nazi-Staatsrundfunk anderen Sendern zu lauschen. Aktualisiert lautete Döblins Diktum jetzt: «Radio, dein Mund heisst Goebbels!» Daher erfanden 1939 gewitzte deutsche Juristen den Straftatbestand des «Rundfunkverbrechens». Ab 1940 waren dafür Sondergerichte zuständig, die die Weiterverbreitung von Nachrichten der «Feindsender» als Landesverrat oft mit der Höchststrafe ahndeten. So wurde 1943 ein 56-jähriger Deutscher vom Volksgerichtshof als Rundfunkverbrecher zum Tode verurteilt, weil er feindlichen Rundfunk gehört und darüber gesprochen hatte. Dieses Urteil wurde dann zur Abschreckung auf der Rückseite der Quittungen abgedruckt, die die Hörer bei Bezahlung ihrer Rundfunkgebühren erhielten.

Aber es gibt auch ein bewegendes Dichterzeugnis dafür, was das Radio einem Exilanten aus dem Nazi-Imperium bedeuten konnte. Im Jahre 1940 schrieb der nach Dänemark geflohene Dichter Bertolt Brecht ein kleines Gedicht auf sein Radio: «Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug / dass seine Lampen mir auch nicht zerbrächen / Besorgt von Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug / Dass meine Feinde weiter zu mir sprächen.» Zuvor, in den zwanziger Jahren, zählte Brecht, der mehrere seiner Stücke, aber auch Shakespeare-Dramen für den Hörfunk bearbeitet hatte, zu den Vordenkern eines demokratischen Radios. Er forderte einen Rundfunk, der nicht nur sendet, sondern auch selbst empfängt, nämlich die Reaktion und Meinung des Publikums zu politischen Themen. Heute haben die Social Media diese einstmals utopische Funktion übernommen.

Die Epoche des politischen Radios ist keineswegs vorbei. Noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wollten es linke Aktivisten aus den Händen der Staatsmacht befreien. Heute scheint es wirklich befreit. Überall ist Empfang. Überall sind wir alle. Das Radio sitzt im Auto, im Spielzeug, in Mondraketen. Es ist kein kleiner Kasten mehr, sondern ein winziger Chip im Universalmedium Computer. Oder es hängt als miniaturisierte Maschine an unserer Hand.

Das Radio verbindet die Völker nicht durch Verständigung, wie Einstein hoffte, sondern durch schlechte Musik und schlechte Nachrichten. Uns Europäer leitet das Radio nicht mehr. Aber Millionen vom Krieg Vertriebener auf allen Kontinenten halten es sich ans Ohr. Ihnen dient es als unentbehrlicher Begleiter.

Manfred Schneider ist emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 2010 erschien «Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft», das vor kurzem ins Italienische übersetzt wurde.