Der andere Blick

«Der andere Blick»: Hat die deutsche Regierung in der Corona-Krise versagt?

Das Virus gibt jetzt den Takt vor, nicht die vorausschauende Planung der Behörden. Die Bundesregierung allerdings war gewarnt. Sie hielt sich nur nicht an ihr eigenes Drehbuch.

Eric Gujer
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Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung»

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Es ist schon ein bisschen gespenstisch. Im Januar 2012 präsentierte die deutsche Regierung dem Bundestag eine Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz. Die Drucksache 17/12051 stellte zwei Szenarien vor: ein «extremes Schmelzhochwasser aus den Mittelgebirgen» und eine «Pandemie durch Virus Modi-Sars». Die unscheinbare Drucksache ist ein detailliertes Drehbuch für die Corona-Krise.

Die Wiese vor dem Bundestag ist menschenleer.

Die Wiese vor dem Bundestag ist menschenleer.

Maja Hitij / Getty

Die Analyse trifft Annahmen, die sich heute in geradezu unheimlicher Weise bestätigen. Ein Corona-Erreger wird in Südostasien auf einem Markt von einem Wildtier auf den Menschen übertragen. «Das Ereignis beginnt im Februar in Asien, wird allerdings erst einige Wochen später in seiner Dimension/Bedeutung erkannt», heisst es in der acht Jahre alten Studie. Zwei Monate nach Ausbruch der Krankheit wird der erste Fall in Deutschland registriert. Ein Reisender aus China hat das Virus eingeschleppt, das sich rasch in einer Pandemie über den Globus ausbreitet.

Die Ministerien wussten, was zu tun war

Zu den Symptomen der Erkrankung gehören gemäss der Analyse trockener Husten, Fieber und Atemnot, wobei Junge mit einem milderen Krankheitsverlauf rechnen können. Ältere Menschen bilden eine akut gefährdete Risikogruppe. Die Inkubationszeit beträgt bis zu 14 Tage, und der heimtückische Erreger haftet auch einige Zeit auf Oberflächen.

Alle diese Annahmen treffen in der Wirklichkeit, wie wir sie jetzt erleben, zu.

Die Bundesregierung wusste also sehr genau, was bei einer solchen Seuche auf Deutschland zukommen würde. Auch die möglichen Gegenmassnahmen wurden in der Drucksache detailliert aufgelistet: die Schliessung der Schulen, die Absage von Grossveranstaltungen, die Reduktion des öffentlichen Verkehrs und die Verlangsamung des öffentlichen Lebens generell.

Das Robert-Koch-Institut, welches die Studie verfasst hat, rechnete überdies mit Begleiterscheinungen, die bisher nicht eingetreten sind – zum Beispiel Versorgungsengpässen. Müssen wir uns im weiteren Verlauf der Seuche trotz den gegenteiligen Beteuerungen der Behörden darauf noch einstellen?

Deutschland ist kein Einzelfall

Obwohl alle zuständigen Ministerien dieses Szenario kannten, dauerte es Wochen, bis die Schutzmassnahmen umgesetzt wurden. Die Bundesregierung hielt sich nicht an ihr eigenes Drehbuch.

Deutschland ist damit allerdings kein Einzelfall. Auch andere Länder schauten zunächst mehr oder minder tatenlos zu, nachdem Italien zum Epizentrum der Krise in Europa geworden war. Im Mekka des Party-Skisports, in der österreichischen Gemeinde Ischgl, schlug man alle Warnungen in den Wind. Die Saison ging weiter, und unzählige Skandinavier und Deutsche steckten sich beim ausgelassenen Après-Ski an.

Als Präsident Trump die Grenzen für EU-Bürger schloss, kritisierte Brüssel dies als übereilten Schritt. Eine Woche später verhängte die EU ebenfalls ein Einreiseverbot. Auch Grossbritannien vollzog innerhalb von wenigen Tagen eine Kehrtwende und schaltete von Laissez-faire auf Beschränkungen im öffentlichen Leben um. Alle, buchstäblich alle Regierungen handeln situativ. Das Virus gibt den Takt der Gegenmassnahmen vor, nicht die vorausschauende Planung der Behörden.

Hätten alle Staaten zusammen früher und vor allem koordiniert reagiert, verliefe die Kurve der Neuansteckungen heute milder. Die Epidemie wäre besser zu handhaben. Was konsequente Gegenstrategien erreichen können, wusste man übrigens schon vor hundert Jahren.

Während der Spanischen Grippe im Jahr 1918 praktizierte die amerikanische Stadt St. Louis ein weitgehendes Social Distancing. In Philadelphia beharrte man hingegen darauf, die Siegesparade nach dem Ende des Ersten Weltkriegs abzuhalten. Die Feier wurde zu einem Fest für das Virus. Es breitete sich ungehindert von Mensch zu Mensch aus. Philadelphia hatte deswegen sehr viel mehr Tote zu beklagen als St. Louis.

Immer einen Schritt hinter der Entwicklung zurück

Man kann lange darüber diskutieren, ob die deutschen Behörden ebenso versagt haben wie damals die Stadt Philadelphia. Genauso gut lässt sich argumentieren, dass angesichts der mangelnden Vertrautheit der Bevölkerung mit solchen Szenarien drakonische Massnahmen nur langsam und schrittweise verhängt werden konnten, weil sie andernfalls nicht befolgt worden wären. Deutschland hat zwar grosse Polizeikorps, aber auch diese wären nicht in der Lage, jedes durch Corona bedingte Versammlungsverbot durchzusetzen.

Eines aber lässt sich mit Gewissheit sagen: Die Bundesregierung blieb immer einen Schritt hinter der Entwicklung zurück. Gleichzeitig war sie in ihren Aussagen der öffentlichen Meinung nie weit voraus. Betrachtet man die Ankündigungen des Gesundheitsministeriums, begannen sie mit der zuversichtlichen Feststellung, die Lage unter Kontrolle zu haben.

Eine Sprecherin des Ministeriums versicherte Ende Januar, die von dem Erreger ausgehende Gefahr für Deutschland sei «sehr gering». Auch das staatliche Robert-Koch-Institut, von dem die düsteren Szenarien aus dem Jahr 2012 stammten, wiegelte anfangs eher ab. Nur sehr gemächlich schlich sich ein dramatischerer Ton ein.

Politische Führung war das nicht, aber vielleicht kann man diese in solch einer Krise in einem vom Wohlstand verwöhnten Land wie Deutschland auch nicht erwarten. Die Bevölkerung war nicht willens, sich aus ihrer Ruhe aufschrecken zu lassen – die Regierungen in Bund und Ländern offensichtlich auch nicht. Warum aber sollte die Regierung dynamischer und klüger sein als die Regierten?

Auch Kanzler sind keine Magier

Deutschland ist eine Endmoräne des Hegelianismus. Es ist staatsgläubig und verlangt, dass die Regierung jederzeit mutig und entschlossen voranschreitet. Immer wieder fordern die Medien von Kanzler oder Kanzlerin «Machtworte» und «Basta-Entscheidungen». Gerade so, als besässen Regierungschefs magische Fähigkeiten.

So wird Angela Merkel bis heute hoch angerechnet, dass sie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise vor die Kameras trat und den Deutschen versprach, ihr Erspartes sei sicher. Und dies, obwohl die Garantie bei einem kollektiven Bank-Run nicht viel wert gewesen wäre.

Auch in der Corona-Krise misst man die Kanzlerin an ihrem Vermögen, die Deutschen zu beruhigen und zu motivieren. Diese Grundhaltung ist ziemlich paternalistisch. Als wäre noch immer Ruhe die erste Bürgerpflicht und als würden die Deutschen ihren Verstand nicht selbst benützen, um sich in unruhigen Zeiten beunruhigende Fragen zu stellen. Man darf von den Bürgern zugleich Eigeninitiative und Eigenverantwortung erwarten. Wenn sie sich bis zuletzt nicht an die Empfehlungen zu Hygiene und Abstand halten, dann trifft die Regierung keine Schuld.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Erwartungen an Regierungen zu überdenken. Sie sind nicht viel vorausschauender als das Volk, von dem sie gewählt werden möchten. Sie sind nur selten mutiger und entschlossener als die Gesellschaft insgesamt. Kohl in der Wiedervereinigung oder Schröder mit seinen Sozialreformen waren rare Glücksfälle. Kanzler und ihre Minister haben keine magischen Eigenschaften, nicht bei der Bekämpfung von Viren – und auch sonst nicht. Am Ende kommt es auf die Bürger an, auf uns alle.

«Der andere Blick» erscheint immer freitags.