Ein Doktorand trägt in der Freizeit die Corona-Fallzahlen aus den Kantonen zusammen. Ist das Ergebnis besser als die offizielle Statistik des Bundes?

Es begann mit einer kleinen Fingerübung am Computer. Das Resultat war eine Mini-Kontroverse auf Landesebene.

Stefan Häberli, Moosseedorf
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Es dauert lange, bis die Corona-Testergebnisse den Weg in die offizielle Statistik des Bundes gefunden haben.

Es dauert lange, bis die Corona-Testergebnisse den Weg in die offizielle Statistik des Bundes gefunden haben.

Alessandro Crinari / Keystone

Daniel Probst hat die Aufmerksamkeit nicht gesucht. Er sei eher ein introvertierter Mensch, sagt der 34-jährige Chem-Informatiker im Gespräch. Dass der Doktorand der Universität Bern derzeit ein gefragter Gesprächspartner ist, liegt an seiner Website corona-data.ch. Auf dieser stellt Probst die neusten Corona-Fallzahlen in der Schweiz nicht nur übersichtlich dar. Seine Daten sind vor allem aktueller als jene, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veröffentlicht. Einige Schweizer halten denn auch die Zahlen auf seiner Plattform für aussagekräftiger als die offiziellen des BAG.

Wie kann es sein, dass ein Doktorand in seiner Freizeit einen besseren Service public erbringt als das BAG mit seinen rund 600 Mitarbeitern? Das liege sicher nicht daran, dass beim Bund keine fähigen Informatiker arbeiteten, sagt Probst. Zudem habe man in der Bundesverwaltung derzeit wohl andere Prioritäten. Dass die offiziellen BAG-Zahlen dennoch jenen auf corona-data.ch zeitlich hinterherhinken, liegt an der unheilvollen Kombination zweier Faktoren: erstens an der kantonalen Hoheit über das Gesundheitswesen. Zweitens daran, dass sich Bund und Kantone in vielerlei Hinsicht noch in der digitalen Steinzeit befinden.

Daniel Probst wollte eigentlich nur «in die Tasten hauen». Damit löste er eine Mini-Kontroverse um Corona-Fallzahlen aus.

Daniel Probst wollte eigentlich nur «in die Tasten hauen». Damit löste er eine Mini-Kontroverse um Corona-Fallzahlen aus.

PD

Wieder «wirklich arbeiten»

In der Schweiz führen die Spitäler, Ärzte und Labors die Corona-Tests durch. Fällt bei einer Person das Ergebnis positiv aus, muss dies dem BAG sowie dem Kantonsarzt gemeldet werden. Wie das Online-Magazin «Republik» recherchiert hat, werden die dafür benötigten Formulare teilweise per Post oder Fax übermittelt. Erst seit wenigen Tagen können sie auch über eine gesicherte E-Mail-Adresse versendet werden. Allerdings muss das Formular zuvor ausgedruckt, handschriftlich ausgefüllt und gescannt werden. Am Grundproblem hat sich deshalb kaum etwas geändert: BAG-Mitarbeiter müssen weiterhin einen Papierberg abarbeiten und die Daten manuell ins zentrale Meldesystem eingeben.

Genau dies ist der «Wettbewerbsvorteil» von Daniel Probst. Er entdeckte ihn zufällig. An einem Sonntag habe er das Bedürfnis verspürt, «wieder einmal in die Tastatur zu hauen». Am Freitag zuvor hatte er seine fertige Dissertation eingereicht. «Ich habe fast einen Monat nur noch geschrieben – und nicht mehr wirklich gearbeitet», lacht Probst, der vor seiner akademischen Karriere eine Berufslehre als Informatiker abgeschlossen hat. Deshalb sei er auf die Idee gekommen, die Daten des BAG abzutippen und in eine Statistik-Software einzulesen.

Zunächst habe er die Daten nur visualisiert und das Ergebnis ins Internet gestellt. Doch dann sei ihm aufgefallen, dass Medien andere Zahlen aus den Kantonen Tessin, Genf und Waadt gemeldet hätten. Alleine die Corona-Todesfälle in diesen Kantonen seien zusammen höher ausgefallen als jene, die das BAG für die ganze Schweiz ausgewiesen habe. Probst wollte wissen, warum. Er entdeckte, dass die Kantone die Fallzahlen im Internet veröffentlichen. Teils in Medienmitteilungen, teils in Tabellen im Internet. Und zwar noch bevor sie den langen Weg auf die Website des BAG zurückgelegt haben. Man muss sie nur zusammentragen, um ein genaueres Bild der jeweils neusten Situation zu zeichnen als mit den offiziellen Zahlen des BAG. Und «man» ist er, Daniel Probst.

Die Kantone weisen deutlich mehr Corona-Todesfälle aus als das BAG

Anzahl vermeldete Corona-Verstorbene (Stand 26. 3. 2020, 19 Uhr)
corona-data.ch
BAG

Der Bund reagiert pikiert

Dem BAG scheint das peinlich zu sein. Daniel Koch, der oberste Seuchenbekämpfer des Bundes, behauptete an einer Pressekonferenz, die Website corona-data.ch nicht zu kennen. Und sein Stellvertreter Patrick Mathys verteidigte die eigene Statistik: «Wir kommentieren diese Zahlen, weil das die einzigen verlässlichen sind, die wir haben. Andere Websites grasen Medienmitteilungen ab.» Er habe nie kontrolliert, ob die Zahlen auf corona-data.ch auch nur annähernd hinkämen. Das BAG ist derzeit daran, dies abzuklären. Die Prüfung der Listen durch die Kantonsärzte sei noch im Gang, teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. «Wir haben deshalb dazu leider noch keine stabilen Informationen.»

Dass sein Ansatz die Corona-Fälle in der Schweiz überschätzt, kann Probst nicht ganz ausschliessen. «Es ist möglich, dass beispielsweise der Kanton Waadt auch Genfer positiv testet und die Fälle von beiden Kantonen ausgewiesen werden.» Das hätte eine Mehrfacherfassung zur Folge: Ein Fall würde je einmal im Wohnkanton des Getesteten (Genf) und einmal im Kanton, in dem der Test positiv ausfiel (Waadt), gezählt. Wer die Öffentlichkeit tatsächlich besser informiert, muss deshalb offen bleiben.

Sicher ist nur, dass corona-data.ch aktueller ist. Der zeitliche Vorsprung gegenüber dem BAG wird womöglich mit Ungenauigkeit erkauft. Die Statistiker des Kantons Zürich scheinen der Methodik von Probst jedenfalls zu trauen. Auch sie addieren mittlerweile die Zahlen der Kantone. Probst steht in Kontakt mit ihnen und wird vielleicht bald deren Daten verwenden. «Die haben mehr Ressourcen als ich.» Diese Zusammenarbeit sei eine schöne Erfahrung. «Würden die Kantone die Daten maschinenlesbar ins Internet stellen, wäre es vielleicht gar nicht nötig, dass eine Privatperson einspringt», sagt er. Dann könnten die Informatiker beim Bund die Arbeit machen.

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