Gastkommentar

Die Demokratie ist der Patient

Eine Stimme aus Südtirol: Wer hier mit den strengen gesundheitspolitischen Massnahmen nicht einverstanden sei, werde behandelt wie ein trotziges Kind.

Barbara Dirhold
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Hat sich nicht an die Ausgangssperre gehalten: Der «Supermond» am 7. April über dem Gebirge Catinaccio, nahe von Bozen im Südtirol.

Hat sich nicht an die Ausgangssperre gehalten: Der «Supermond» am 7. April über dem Gebirge Catinaccio, nahe von Bozen im Südtirol.

Giuliano Righi / EPA

Es ist April, die Sonne scheint, aber die Strassen in Bozen, Südtirol, sind menschenleer, es besteht Ausgangssperre. Über der Stadt kreisen Helikopter, die Drohnen wurden von Rom wieder zurückgepfiffen. Militär patrouilliert in den Strassen und die Forstwache auf den Waldwegen zur Kontrolle der Ausgangssperre. Das Haus darf nur aus triftigem Grund und mit Passierschein verlassen werden, es ist nicht gestattet, sich zum Spaziergang mehr als 200 Meter von der Wohnung zu entfernen, Sport in der Natur ist verboten, Handydaten dienen der Analyse von Bewegungsmustern. Die Wirtschaft befindet sich im kompletten Lockdown. Die Sanität ist im Covid-19-Modus, Facharztvisiten und Interventionen sind der Bevölkerung verwehrt, ausser bei vitaler Indikation. Und natürlich sind alle 42 Intensivbetten für die 530 000 Einwohner, wie fast immer, belegt. Viele in der Verfassung verankerte Grundrechte sind auf unbestimmte Zeit massiv eingeschränkt, seitens der Exekutiven wird kein Exit-Plan kommuniziert.

Das ist seit fünf Wochen gelebte Realität. Und was macht die strategische Führung in dieser schweren Zeit? Überall im deutschsprachigen Raum wird interdisziplinär und kritisch diskutiert, hier aber wird alternativlos «Ich bleibe zu Hause» propagiert. Wer damit nicht einverstanden ist, wird behandelt wie ein trotziges, zu bestrafendes Kind. Während dem Bürger das Recht auf Freiheit entzogen ist, wird defekte Schutzausrüstung über China angekauft und an die Südtiroler Spitäler verteilt; medizinisches Fachpersonal und Patienten werden so bewusst gefährdet. Wer schadet der öffentlichen Gesundheit mehr: der einsame Jogger im Wald oder Politiker, die Warnungen von Ärzten vor mangelnden Kapazitäten über Jahre ignoriert haben?

Der Landtag hat seit Februar nicht mehr getagt. Die Gewaltenteilung ist dazu da, die Exekutive vor Fehlern zu bewahren. Der Landeshauptmann hat noch vor gut einem halben Jahr im NZZ-Interview die Vision einer sozial- und ökonomisch nachhaltigen autonomen Modellregion Südtirol gezeichnet. Nun aber stehen in der autonomen Provinz Südtirol die freiheitlichen Ideale auf dem Spiel. Den Menschen und der Demokratie fehlt derzeit eine Perspektive, internationale Experten haben hier im Moment keine Stimme, und sozioökonomische Folgekosten der heutigen Strategie – also ihr «Public Health Impact» – bleiben unbeachtet. Es braucht dringend einen strategischen Exit-Plan.

«Wer bereit ist, Freiheit zu opfern, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder das eine noch das andere und wird am Ende beides verlieren», sagte Benjamin Franklin. Es braucht jetzt strategisches Handeln, die Entscheidungen von heute haben enorme Konsequenzen über das Morgen und das Übermorgen hinaus. Wir dürfen unsere ökonomischen und gesellschaftlichen Ressourcen nicht länger überstrapazieren. Ein funktionierendes Wirtschaftssystem ist Voraussetzung für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Und nicht nur das steht auf dem Spiel, sondern die demokratische Grundordnung als Ganzes. Unsere demokratisch-liberale Gesellschaft ist selber zum Patienten geworden. Wir müssen baldmöglichst den Schritt in ein verantwortungsbewusstes Leben mit Sars-CoV-2 wagen. Wir haben grosse Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen und dürfen diesen keinen Scherbenhaufen hinterlassen.

Barbara Dirhold ist deutsche Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie leitende Notärztin; sie lebt und arbeitet in Südtirol.