Ein Stück Segelfluggeschichte ist wieder in der Luft – nach 75 Jahren

Bis Ende der 1940er Jahre erfolgte die Ausbildung von Segelflugschülern auf sogenannten Schulgleitern. Die Flugschüler mussten dafür eine gehörige Portion Mut aufbringen. Ein solcher Schulgleiter lagerte in der Folge während Jahrzehnten unbeachtet in einem Keller – bis ihn die Schweizer Stiftung Segel-Flug-Geschichte dort herausholte.

Daniel Steffen
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Thomas Fessler hat sich seinen Traum erfüllt. Der AeCS Zögling HB-429 wurde 2018 wieder zugelassen. «Der Zögling ist kein Schaukelpferd», lautete ein Fluglehrerspruch. Er sieht aber so aus.

Thomas Fessler hat sich seinen Traum erfüllt. Der AeCS Zögling HB-429 wurde 2018 wieder zugelassen. «Der Zögling ist kein Schaukelpferd», lautete ein Fluglehrerspruch. Er sieht aber so aus.

PD

Diese Geschichte nimmt ihren Anfang im Jahr 1926: Damals konstruieren die deutschen Segelflugpioniere Fritz Stamer und Alexander Lippisch einen einfachen Schulgleiter, welchen sie «Zögling» nennen. Der Stamer-Lippisch-Zögling wird in der Folge tausendfach nachgebaut und laufend weiterentwickelt. 1937 gibt der Aeroclub der Schweiz (AeCS) den Ingenieuren des Eidgenössischen Luftamtes den Auftrag, den Zögling noch sicherer zu machen. Das Resultat ist der sogenannte AeCS-Zögling. Unter «sicher» versteht man in erster Linie ein gutmütiges Verhalten des Schulgleiters bei einem Strömungsabriss. Ein solcher tritt ein, wenn der Pilot zu langsam fliegt (überzogener Flugzustand). Beim AeCS-Zögling wird die Geschwindigkeit ohne Unterstützung eines Instruments anhand der Lage gegenüber dem Horizont und anhand des Fahrtgeräusches gesteuert.

Erstflug am 11. Oktober 1944

Die Flugtechnische Zentrale Belp baut in der Folge insgesamt knapp zwanzig AeCS-Zöglinge, darunter – als Teil einer letzten Neunerserie – die Nr. 429. Am 11. Oktober 1944 – also vor etwas über 75 Jahren – startet der AeCS-Zögling HB-429 zu seinem Erstflug. Der Pilot Raymond Gerber rapportiert danach folgenden Text: «Die Flugeigenschaften des AeCS-Zöglings Nr. 429 sind normal. Im vollständig überzogenen Flugzustand und bei gleichzeitig vollen Querruderausschlägen links und rechts zeigt sich keine Neigung zur Vrille. Besondere Beobachtungen wurden keine gemacht.» Das Luftamt legt den vom Piloten unterzeichneten Flugprüfungsbericht in einem Dossier ab, welches der spätere Käufer des Schulgleiters, Thomas Fessler, Jahrzehnte später, nämlich 2007, im Bundesarchiv aufstöbern wird.

1948 geht der AeCS-Zögling HB-429 via die Schweizerische Segelflugschule Bern (SSS) an die Segelfluggruppe Grenchen. Dort ist der Schulgleiter allerdings nur kurz im Einsatz und wird nach einem Bruch nicht mehr repariert. Robert Mathys, Materialwart der Segelfluggruppe Grenchen, erklärt dem Luftamt im November 1952, dass der Zögling 1950 nach Österreich verschenkt worden sei.

Denn inzwischen ist die Zeit der einsitzigen Schulgleiter vorbei; neu erfolgt die Schulung auf zweisitzigen Segelflugzeugen am Doppelsteuer. So kann der mitfliegende Fluglehrer jederzeit eingreifen und Bruchlandungen vermeiden.

Vier Jahre Restauration

Tatsächlich aber landet die HB-429 gar nie in Österreich, sondern bleibt in einer Hangar-Ecke auf dem Flugplatz Grenchen liegen. Später verschenkt die Segelfluggruppe Grenchen das ausrangierte Fluggerät der Stiftung Museum Grenchen, die es in einem Keller einlagert. Dort entdeckt es Fessler 1984. Er will das Unikat restaurieren und wieder in die Luft bringen. Das Museum aber hat andere Pläne. Der Schulgleiter soll im geplanten Museum ausgestellt werden. Doch 1999 stellt das Museum fest, dass das Flugzeug mit seinen zehn Metern Spannweite zu sperrig für die neu eröffneten Ausstellungsräume ist. Im Mai 2007 kann Fessler das Gerippe des Schulgleiters doch noch kaufen. Der Zustand hat sich seit 1984 allerdings massiv verschlechtert.

Fessler bringt den Zögling in die 2010 gegründete Schweizer Stiftung Segel-Flug-Geschichte ein, die unter anderem die Erhaltung historischer Segelflugzeuge bezweckt. Der pensionierte Werner Roth – ein gelernter Schreiner und leidenschaftlicher Segelflugpilot, der in seinem Leben bereits mehrere historische Segelflugzeuge restauriert hat – und einige seiner Kollegen beginnen am 16. Oktober 2011 in Weinfelden mit der umfassenden Restauration des AeCS-Zöglings. Der Aeroclub der Schweiz unterstützt das Projekt mit einem Beitrag aus seinem Aviatikfonds. Das Verkehrshaus der Schweiz stellt aus seinem Fundus das fehlende Seitenruder zur Verfügung.

Die Spanndrähte werden mit einer zentralen Schraube am Spannturm miteinander gespannt.

Die Spanndrähte werden mit einer zentralen Schraube am Spannturm miteinander gespannt.

PD

Nach vier Jahren Arbeit ist der Rohbau 2015 fertiggestellt. Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) verlangt vor dem Bespannen eine Belastungsprobe. Am 27. Oktober 2015 legt das Bauteam den Zögling auf den Rücken, bockt ihn auf und belädt die Flügel mit Sandsäcken. Fessler erinnert sich: «Meine Belastung war höher als jene des Flugzeuges.» Alles bleibt im grünen Bereich. Roth bespannt Leitwerk und Flügel mit Baumwollstoff. Beim letzten Anstrich mischt er Aluminiumpulver in den Spannlack, was die authentische graue Farbe ergibt. Das Aluminium war früher als Schutz vor den UV-Strahlen gedacht.

Völlig unerwartet verstirbt Roth am 7. Februar 2017 während einer Routineoperation. Ein Jahr später transportiert Fessler den AeCS-Zögling in einem speziell angefertigten Anhänger zurück nach Grenchen. Die Rumpfhöhe von mehr als zwei Metern sprengt die Dimensionen eines normalen Segelflugzeuganhängers. Das korrekte Einstellen der Spanndrähte verlangt viel Geduld und Ausdauer. Die Menschen, die sich damit auskennen, sind längst gestorben.

Das Bazl tut sich anfangs schwer mit dem Umstand, dass ein amtliches Dokument, laut dem der AeCS-Zögling nach Österreich verschenkt worden ist, nicht mit der Realität übereinstimmt. Schliesslich aber wird die HB-429 wieder ins Schweizer Luftfahrzeugregister aufgenommen und am 27. Juni 2019 von zwei Experten des Bazl geprüft.

Ein Traum geht in Erfüllung

Am 23. Juli 2019 ist es so weit: Fessler schnallt sich auf dem offenen Sitz des AeCS-Zöglings an und stellt seine Füsse auf ein drehbares Brett. Die rechte Hand umfasst ein in alle Richtungen bewegliches Metallrohr. Kein einziges Instrument ist an Bord. Fliegen pur. Der erste Start erfolgt im Autoschlepp und führt nur wenige Meter über den Boden. Alles klappt bestens, Fessler ist glücklich. Für ihn geht ein 35 Jahre alter Traum in Erfüllung. Nach weiteren Autoschlepps mit unterschiedlichen Seillängen und Flughöhen erlaubt das Bazl Schleppversuche mit einem Ecolight-Motorflugzeug. Auch das funktioniert am 12. und 13. Oktober 2019 einwandfrei.

Die ersten öffentlichen Demonstrationsflüge erfolgen an Fluganlässen in Bellechasse, Langenthal und Olten. Das Publikum ist begeistert und applaudiert. Die Wochenzeitung «Wiggertaler» schreibt von den «tollkühnen Männern mit ihrer fliegenden Kiste». Das ist übertrieben; ein ausgebildeter Segelflugpilot kommt mit dem Zögling gut zurecht – vorausgesetzt, er berücksichtigt bei seiner Flugtaktik das bescheidene Gleitvermögen. Die weltbesten Segelflugzeuge können aus einer Höhe von 1000 Metern ohne Aufwinde 70 Kilometer weit fliegen. Der AeCS-Zögling schafft knapp 7 Kilometer. Schlechter gleitet nur das Spaceshuttle: 4,5 Kilometer.

Eine Comco C42-B «Bison» D-MFSL (vorne) und AeCS-Zögling HB-429 im Schleppgespann.

Eine Comco C42-B «Bison» D-MFSL (vorne) und AeCS-Zögling HB-429 im Schleppgespann.

PD