«Dieser galizische Jude missbraucht die Armee»: Im Zweiten Weltkrieg werden die beiden wichtigsten Figuren des Schweizer Kinos von den Behörden schikaniert

Die geistige Landesverteidigung legt den Grundstein für den Schweizer Film. Doch Politik und Bürokratie lassen den Produzenten Lazar Wechsler und den Starregisseur Leopold Lindtberg spüren, dass sie Juden mit Migrationshintergrund sind.

Jürg Schoch
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Szene aus dem Erfolgsfilm «Füsilier Wipf» aus dem Jahr 1938.

Szene aus dem Erfolgsfilm «Füsilier Wipf» aus dem Jahr 1938.

Hans Staub / Fotostiftung Schweiz

«Füsilier Wipf» ist ein Strassenfeger. Als der Streifen 1938 in die Kinos kommt, strömt das Publikum: 1,25 Millionen Eintritte bei einer Wohnbevölkerung von damals 4,2 Millionen. Die Leute sind begeistert, wie die Wehrpflicht aus dem linkischen Coiffeurgehilfen einen richtigen Mann und «Füsel» macht. Es folgen «Wachtmeister Studer» (1939) und «Die missbrauchten Liebesbriefe» (1940), auch sie höchst erfolgreich.

Bei allen drei Filmen führt Leopold Lindtberg Regie. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 ist der Wiener nach Zürich geflohen, wo er mit andern namhaften Emigranten dem Schauspielhaus zu internationaler Anerkennung verhilft. Und wo er bald auch zur Crew der Praesens-Film AG gehört, der von Lazar Wechsler 1924 gegründeten Produktionsfirma. Diese schickt sich an, die dominierende Rolle im schweizerischen Filmschaffen zu spielen. Wechsler wird von seinem Umfeld als gleichzeitig gerissen und naiv, gross- und hartherzig, chaotisch und berechnend geschildert. Und alle sind sich einig: Ein einfacher Zeitgenosse ist er nicht, aber er hat das Gespür dafür, was «zieht».

General Guisan lehnt ab

Nach Ausbruch des Weltkriegs sind dies Uniformen – und der General, weil er den Widerstand gegen die Nazis verkörpert. Wechsler lanciert im Frühjahr 1940 das Projekt eines Generalsfilms und sondiert, ob Guisan selber mitwirken würde. Das ist ein Stich ins Wespennest. In der Armee gibt es einflussreiche Personen, die Wechsler nicht mögen. Eine davon: Hauptmann Hans Hausamann, dessen legendäres «Büro Ha» dem Nachrichtendienst angegliedert ist. Am 7. März richtet Hausamann ein langes Schreiben an den Armeestab, in dem er Wechsler verleumdet und dabei kein antisemitisches Klischee auslässt: «Die Armee ist mir zu gut, als dass ich ohne Einrede zusehen könnte, wie ein galizischer Jude diese dazu missbraucht, seinen rassebedingten Gelüsten nach Vermögensvermehrung zu fröhnen (sic!). Lazarus Wechsler als Schöpfer eines Generalsfilms? Das darf nicht sein.» Auch der «Kommunist Lindtberg» kommt schlecht weg.

Dem Armeestab ist rasch klar, dass der General sich kaum auf ein Projekt einlassen würde, «das irgendwie mit der Person des Wechsler zusammenhängt». Er stellt einen streng vertraulichen Bericht zusammen, worauf Guisan, der Wechsler zu «Füsilier Wipf» noch gratuliert hat, sein Nein-Wort spricht.

Kein einfacher Zeitgenosse, aber höchst erfolgreich: der Filmproduzent Lazar Wechsler in einer Aufnahme von 1956.

Kein einfacher Zeitgenosse, aber höchst erfolgreich: der Filmproduzent Lazar Wechsler in einer Aufnahme von 1956.

Imago

Der Regisseur muss Schweizer sein!

Also kein Generalsfilm. Dafür «Landammann Stauffacher», der den geistigen Landesverteidigern sehr zupasskommt, weil Lindtberg die mythenumrankten Vorväter eindrücklich in Szene setzt (mit Heinrich Gretler in der Hauptrolle). Im gleichen Jahr 1941 startet die Praesens-Film AG die Dreharbeiten für «Gilberte de Courgenay». Doch auch hier gibt es Hindernisse. Die historische Gilberte, Madame Schneider-Montavon, ist einverstanden mit der Verfilmung ihrer Geschichte, stellt aber die Bedingung, die Nationalspende müsse das Projekt unterstützen. Die ist einverstanden und gibt ihrerseits den Tarif durch: 1. Beteiligung am Ertrag, 2. der Regisseur muss Schweizer sein.

Im Gegensatz zu Wechsler, der seit 1914 in der Schweiz lebt, 1918 an der ETH das Diplom eines Brückenbau-Ingenieurs erworben hat und 1923 eingebürgert wurde, ist Lindtberg ein «auf Toleranz gesetzter schriftenloser Emigrant» (seine Einbürgerung wird erst 1951 erfolgen). Somit kommt er als «Gilberte»-Regisseur nicht infrage. Er muss dem Debütanten Franz Schnyder Platz machen, den er während der ersten zwei Drehwochen immerhin unterstützen darf. Der Streifen, der die Wirtstochter Gilberte (Anne-Marie Blanc) zum Ideal der Schweizer Frau und Patriotin emporhebt, zieht im ersten Spieljahr eine Million Zuschauer an. Aber das Misstrauen dem Produzenten gegenüber bleibt. Wechslers Erfolge wecken Neid. Und seine Konkurrenten im Filmgeschäft, von denen einige in der Sektion Film des Armeestabs an wichtigen Schalthebeln Dienst tun, intrigieren eifrig.

Der Filmregisseur Leopold Lindtberg (Mitte) bei Dreharbeiten 1949 in Zermatt.

Der Filmregisseur Leopold Lindtberg (Mitte) bei Dreharbeiten 1949 in Zermatt.

Photopress-Archiv / Keystone

Die Affäre «Stalingrad»

Ihre Stunde schlägt 1944. Zu Beginn jenes Jahres bietet die amerikanische Filmproduktionsfirma Paramount Lazar Wechsler an, den Sowjetfilm «Stalingrad» in der Schweiz zu zeigen. Die mörderische Schlacht von 1942/1943 hat auch hierzulande die Bevölkerung bewegt. Wechsler ist Feuer und Flamme. Nur: Wie schafft er die Filmrolle in die von den Achsenmächten umzingelte Schweiz? Er schlägt dem Chef der Sektion Film, Hauptmann Schibli, einen Deal vor: Ein Schweizer Militärattaché steckt sie in sein Diplomatengepäck, dafür stellt er, Wechsler, den Streifen auch dem Militärdepartement zur Verfügung, das daran bereits Interesse gezeigt hat. Schibli, in Zivil Kinobesitzer und mit Wechsler verkracht, weist diese «ungehörige Zumutung» vehement zurück. Wenig später schmuggelt Wechsler den Film auf andern Wegen ins Land. Ein klarer Regelverstoss, für den – im Gegensatz zu ähnlichen Verstössen – kein Auge zugedrückt wird.

Die Bundesbehörden ordnen die Abhörung von Wechslers Telefonaten an, schicken ihm die Heerespolizei ins Haus, laden ihn zum Verhör vor, Justizminister Eduard von Steiger beauftragt einen Bundespolizisten damit, Material über Wechsler zu sammeln. Und das Aussendepartement weist eindringlich warnend darauf hin, dass die Deutschen die Gütereinfuhr als Folge dieses Vorfalls künftig so genau kontrollieren könnten, dass die Versorgung des Landes nachhaltig Schaden nähme – besonders, wenn die Zensur den Film freigebe. Doch die Zensur ordnet am 13. April 1944 ein Verbot an. Es handle sich, erklärt sie, um einen Propagandafilm einer kriegführenden Armee, dessen Aufführung mit unserer Neutralität nicht vereinbar wäre. Dass demselben Publikum täglich propagandistisch aufgemachte deutsche Wochenschauen vorgeführt werden, spielt für die Zensur keine Rolle. Der renommierte Rechtsprofessor und Oberst Dietrich Schindler heisst das Verbot in einer Expertise gut, mahnt aber, «früher oder später» werde man die Einschränkungen lockern müssen.

Heinrich Gretler und Josiane Hegg im Film «Marie-Louise» von 1944.

Heinrich Gretler und Josiane Hegg im Film «Marie-Louise» von 1944.

Imago

Rückendeckung von «Dutti»

Während ein neuer Praesens-Film – «Marie-Louise», in dem Lindtberg das Schicksal eines französischen Flüchtlingskindes zeigt, das in der Schweiz wieder zu Kräften kommt – das Kinopublikum fesselt, läuft hinter den Kulissen eine massive Kampagne gegen den Praesens-Direktor. Sie gipfelt in einem 18-seitigen Bericht, den Bundesrat von Steiger im April 1944 der Vollmachtenkommission des Nationalrats vorlegt. Darin wird nicht nur der unbestrittene Sachverhalt (Umgehung der Einfuhrregeln) thematisiert, sondern auch Herkunft und frühere Tätigkeiten der Person Wechsler. Die amtlichen Auslassungen sind teils tendenziös, teils falsch.

Die Angriffe lässt Wechsler nicht auf sich sitzen. In der Vollmachtenkommission kritisieren Hans Oprecht (sp.) und Gottlieb Duttweiler (ldu.), beide Verwaltungsräte der Praesens-Film AG, Bundesrat von Steigers Machwerk. «Dutti» erklärt, es sei eine Tatsache, dass Wechsler, auch wenn man einwenden sollte, er sei Jude, mehr für die geistige Landesverteidigung getan habe als «die ganze Pro Helvetia». Von Steiger aber verteidigt seine Politik (und auch seine Zuträger). Immerhin gibt die Zensur den Stalingrad-Film im November 1944 frei.

Das Flüchtlingsdrama «Die letzte Chance» wird nach Kriegsende zum Welterfolg.

Das Flüchtlingsdrama «Die letzte Chance» wird nach Kriegsende zum Welterfolg.

SRF / Praesens-Film

Zur gleichen Zeit beginnt Lindtberg mit den Dreharbeiten für den Film «Die letzte Chance» – verspätet, weil der Nachrichtendienst und der intrigierende Hauptmann Schibli den Start mit schikanösen Auflagen verzögert haben. Das Flüchtlingsdrama an der Südgrenze hat kurz nach Kriegsende Premiere und wird rasch zum Welterfolg. Während der Regisseur und sein Werk international gefeiert werden, ist der für die restriktive Flüchtlingspolitik verantwortliche von Steiger wütend. Ganz unter dem Eindruck dieses Triumphs fordert der Verwaltungsrat der Praesens-Film AG Bundesrat von Steiger am 15. Juni 1945 auf, die in seinem Bericht enthaltenen Unrichtigkeiten endlich zu korrigieren. Von Steiger lässt das Schreiben ein halbes Jahr liegen, dann gibt er intern die Anweisung, in den Polizeiakten – «sofern gerechtfertigt» – die nötigen Korrekturen anzubringen.

Nach dem Krieg verstummen die Misstöne. In einer Festschrift zu Wechslers 70. Geburtstag (1966) findet Bundesrat Hans-Peter Tschudi anerkennende Wort für das Wirken des Gefeierten. Lindtberg ist zu dieser Zeit Direktor des Schauspielhauses Zürich.