Andrei Platonow glaubte an die Notwendigkeit der kommunistischen Utopie und zeichnete zugleich unerbittlich deren Scheitern nach

Das Romanfragment «Die glückliche Moskwa» ist einer der vielen Texte von Andrei Platonow (1899–1951), die aus Zensurgründen unpubliziert blieben. Dabei sympathisierte der Autor lange mit der Revolution, entstellte sie aber unbeirrbar zur Kenntlichkeit.

Andreas Breitenstein
Drucken
In den dreissiger Jahren wurde Moskau mit den besten Errungenschaften des Realsozialismus wie Boulevards, Metro und Wolkenkratzern bestückt.

In den dreissiger Jahren wurde Moskau mit den besten Errungenschaften des Realsozialismus wie Boulevards, Metro und Wolkenkratzern bestückt.

Imago

«Dreckskerl!», schrieb 1931 mit dickem rotem Stift der Diktator persönlich an den Rand von «Zu Fromm und Nutzen», einem nicht ganz linientreuen Roman über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die in der Sowjetunion der beginnenden dreissiger Jahre eine Hungersnot biblischen Ausmasses nach sich zog. Normalerweise wäre Stalins Verdikt einem Todesurteil gleichgekommen, doch wie durch ein Wunder blieb der Verfasser, Andrei Platonow, für seine aus der Sicht eines geistig minderbemittelten Erzählers geschilderte Reise über das Land von unmittelbarer Rache verschont.

Ob es half, dass Platonow sich nach einer Vernichtung des Buches von offiziöser «literaturkritischer» Seite in Sack und Asche gehüllt gab und um Vergebung dafür bat, dass er bisher «nicht anders [habe] schreiben [können], als [er] fühle und sehe; aber ich muss auch so schreiben, wie es meine Klasse will – das kann ich bis jetzt noch nicht, und man lehrt mich das nicht mit guten Ratschlägen, sondern indem man mir die Ohren langzieht»? Man weiss es nicht. Dass Platonow sich auch in der Replik der Ironie nicht enthielt, zeigt jedenfalls, mit welch firmem Willen er seinen literarischen Standpunkt vertrat.

Bitteres Los

Für die Freiheit seiner Kunst handelte sich Andrei Platonow eine Leidensgeschichte ohne Ende ein, der er eine in ihrer Hartnäckigkeit erstaunliche Produktivität entgegenzusetzen wusste. Abgesehen von wenigen Ausnahmen blieben die meisten seiner Texte verboten, und bis zu seinem Tod 1951 führte er mehr oder weniger ein Leben als Paria des sowjetischen Literaturlebens. Seine beiden Hauptwerke, die jahrzehntelang totgeschwiegenen Romane «Tschewengur» (1928) und «Die Baugrube» (1930), gelangten erst im Russland der Perestroika in die Öffentlichkeit. Platonows Los wirkt umso bitterer, als sein ausserordentliches Talent rasch erkannt wurde. Nach wie vor besitzt er zumal im Westen nicht den Rang, der ihm gebührt. Sein Name wäre in einem Atemzug mit dem von Bulgakow und Babel, ja mehr noch: von Kafka, Musil und Joyce, zu nennen.

Stalin aber bewies insofern Instinkt, als sich Platonow von den meisten Sowjetautoren insoweit unterschied, als er das kommunistische Menschheitsexperiment begrüsste und ihm lange die Stange hielt. Hinzu kam, dass er keiner literarischen Richtung folgte, sondern mit einem disruptiven Gebrauch der Sprache ein Solitär blieb. Unter ärmlichsten Verhältnissen in Woronesch aufgewachsen, erkannte er in der Revolution eine Möglichkeit, Russlands Armut und Rückständigkeit mittels Modernisierung zu überwinden.

Tätig wurde Platonow indes nicht nur intellektuell als «Ingenieur der Seele», sondern auch als «Meliorator», zuständig für die Planung und den Bau von Dämmen, Brunnen und Bewässerungskanälen. Auf seiner Ingenieurskunst basieren zahlreiche Innovationen. Platonow litt darunter, dass sich die Idee der Revolution immer mehr pervertierte, verstand sich aber stark als Kind der welthistorischen Stunde. Mit seinen «einförmigen und beständigen» Idealen blieb er hin- und hergerissen zwischen dem hehren Glauben an die grosse Utopie und der Einsicht in die schreckliche Unzulänglichkeit ihrer Verwirklichung.

Apotheose der «neuen Frau»

«Die glückliche Moskwa» (1933–1936) war ein Roman, der als Fragment in der Schublade landete. Es war der Versuch einer kritischen Apotheose des Erreichten mit Blick auf die mit den besten Errungenschaften des Realsozialismus wie Boulevards, Metro und Wolkenkratzern ausgestattete Hauptstadt. Nicht mehr um den Kult des proletarischen Arbeiters geht es hier, sondern um die erotische Überhöhung der Weiblichkeit.

Allegorische Hauptfigur ist die Vollwaise Moskwa Tschestnowa, die in ihrer geistigen Reinheit, blühenden Schönheit und robusten Art exemplarisch den «neuen Menschen» verkörpert. Entsprechend darf die junge Frau keine Vergangenheit besitzen. Das Einzige, was ihr aus der frühen Kindheit blieb, ist das dramatische Bild eines «dunklen Menschen», der mit einer «brennenden Fackel» durch die Nacht eilt, um ein Gefängnis zu stürmen – und dabei offenbar niedergeschossen wird. Es sind die Menschheitsliebe und die Gewalt, die Zuversicht und die Düsternis der Oktoberrevolution, die hier anklingen, und im Zeichen dieser paradoxen Widersprüche steht denn auch Moskwas märchenhafte Reise durch die Sphären einer zukünftigen Gesellschaft, die bereits Gegenwart ist.

Die Revolution ist Moskwas Heimat und sie deren fast schon comichaft anmutende draufgängerische und weltoffene, zutrauliche und willige Heroine. «An allem» möchte sie tätig Anteil haben und findet an den Stationen ihres Lebens doch immer nur ein kurzes Glück. Sehnsucht, Stolz und Heldentum treiben sie um; beim Einzelnen kann und darf sie nicht verweilen. Stets geht ihr Blick in die Ferne, und nicht zufällig ist ihr Lieblingselement der Wind.

«Vom Himmel durch die Welt zur Hölle» führt die Tour durch Alltage, Milieus und Berufe sowie durch die Hände vieler Männer, die sie begehren. Doch Moskwa ist nicht wirklich auf der Suche nach Geborgenheit, Liebe und Sex. Sie alle sind ohne Erfüllung – denn Paar-Vereinzelung bedeutet Verrat am sozialistischen Ganzen der Menschheit.

In den blutjungen Genies der Zeit begegnet Moskwa dem leicht von Ideen erregbaren und zugleich tragisch zerrissenen Geist der Epoche: Da ist Boshko, der Geometer, der sich in nächtlicher Einsamkeit «mit dem Herzklopfen des Glücks» in Merkur verwandelt und der Welt in zauberhaften Esperanto-Briefen die Frohbotschaft von der Ankunft des Sozialismus verkündet. Da der «staatswichtige» Ingenieur und experimentelle Maschinenbauer Sartorius. Da der Chirurg Sambikin, der in den Eingeweiden von Leichen nach dem Elixier des Lebens wühlt. Und da der «aussermilitärische» Hungerkünstler Komjagin, der sich um den Preis der Verwahrlosung mit der Gesellschaft überworfen hat und Moskwa psychisch manipuliert und ausbeutet. Sie alle scheitern am Rätsel von Moskwas Figur und an ihren eigenen inneren Zweifeln. Der erste Sturmlauf der Revolution ist vorbei, trotz allen Erfolgen bleibt die Sache mit der Utopie kompliziert. Wie soll es weitergehen? Warum wird aus der Liebe nichts und hat es mit Traurigkeit kein Ende? Taugt der sterbliche Mensch zur Vollkommenheit?

Boshko ebnet Moskwa den Weg in die Pilotenschule, und bald schon ist sie Herrin der Lüfte, doch scheitert sie an der eigenen Überheblichkeit. Irgendwann nimmt Moskwa Reissaus aus den gelehrten Zirkeln, um sich als Schachtarbeiterin beim Bau der Metro zu verdingen, wo sie das Pech hat, bei einem Unfall ein Bein zu verlieren. Ihre Invalidität indes tut ihrer erotischen Attraktivität keinen Abbruch – so kann sich die Männerschaft im Erholungsheim kaum halten vor Fürsorge.

Es gelingt kaum, «Die glückliche Moskwa» als durchgängigen Roman zu lesen. Die Handlung bleibt sperrig, die Episoden sind hart gefügt und die Gedankenwelt der Figuren oft verquast. Ihre ideologisch gefärbte Sprache zeigt, wie sehr sie schon Marionetten einer ebenso gewaltigen wie gewaltsamen Idee sind. Doch gibt es Szenen von unvergleichlicher poetischer Intensität und existenzieller Wucht, schockierender Aufrichtigkeit und sarkastischem Witz. Platonows explizite Kritik am System bleibt verhalten, er überlässt es seinen Protagonisten, der inneren Leere der Utopie auf die Spur zu kommen. Der Horror des bald aufziehenden Grossen Terrors aber wird spürbar, wenn beschrieben wird, wie «der lächelnde, bescheidene Stalin» von riesigen Plakaten herab auf Plätzen und Strassen «alle offenen Wege der frischen, unbekannten sozialistischen Welt [bewacht]» – «das Leben erstreckte sich in die Ferne, aus der es keine Rückkehr gab».

Andrei Platonow: Die glückliche Moskwa. Roman. Aus dem Russischen von Renate Reschke und Lola Debüser. Mit einem Nachwort von Lola Debüser und einem Kommentar von Natalja Kornienko. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 221 S., Fr. 37.90.

Mehr von Andreas Breitenstein (ABn)

Mehr von Andreas Breitenstein (ABn)

Weitere Artikel